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Startseite ›Requiem auf die Verstaatlichung
Im Folgenden dokumentieren wir einen Text der Genossen der ASR (Allianz Revolutionärer Sozialisten) Zwar haben wir einige politische Differenzen in der Darstellungsmethode und Analyse der wichtigen Revolte im ukrainischen Cherson im Februar dieses Jahres, dennoch gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten. So begrüßen wir die Kritik der Trotzkisten und Stalinisten. Die ASR strebt eine Synthese „des revolutionären Marxismus, proletarischen Anarchismus (Bakunin, FORA) und dem revolutionären Narodnichestvo“ an, und lehnen den „Marxismus“ ab. Unter „Marxismus“ verstehen sie jedoch nicht die Ideen von Karl Marx, sondern deren Verbalhornung durch die Sozialdemokratie. Wir können einer solchen Kritik zwar zustimmen, der Terminologie jedoch nicht ganz folgen. Ebenso bezweifeln wir, dass solch eine Synthese möglich ist. Dieses Thema wird jedoch Gegenstand weiterer Diskussionen sein.
Die gegenwärtige weltweite Krise des Kapitalismus hat eine Welle proletarischer Proteste hervorgerufen und wird dies auch unweigerlich in der Zukunft tun.
In der GUS war die Arbeiterrevolte in der Maschinenfabrik von Cherson diesen Februar ein erstes Anzeichen dafür. Mittlerweile ist klar, dass die reaktionäre „Partei der Regionen“ den Arbeiterkampf unterdrücken konnte, weshalb es an der Zeit ist, die Gründe für diese Niederlage zu analysieren. Wir müssen aus Fehlern lernen. Um zukünftige Kämpfe in der GUS und der restlichen Welt vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren, müssen wir die Schlüsselfaktoren die zu dieser Niederlage geführt haben herausstellen.
Die Revolte in Cherson
Was sie war und wie sie endete Am 2. Februar marschierten die Arbeiter der Maschinenbaufabrik von Cherson über die Hauptstraße (die Ushakov Strasse) zur regionalen Verwaltung, um den Behörden ihre Forderungen zu übermitteln. Dazu gehörten u.a.
- Die Auszahlung ausstehender Löhne (in einem Volumen von 4.5 Millionen Grivnas).
- Die Nationalisierung der Fabrik ohne Entschädigungen.
- Einen garantierten Absatzmarkt für die Produktion der sehr komplexen Landwirtschaftsmaschinen
Als sie erkannten, dass ihre Forderungen ignoriert wurden, stürmten sie am 3. Februar das Fabrikgelände und besetzten das Verwaltungsgebäude. Diverse Trotzkisten und Stalinisten stellten das als eine Übernahme der ganzen Fabrik dar, aber in Wirklichkeit blieb der Werksschutz in der Fabrik. Es war bestenfalls eine Situation des Kräftegleichgewichts entstanden.
Am 9. Februar wurde in der Fabrik eine unabhängige Gewerkschaft aus der Taufe gehoben, die die alte Betriebszelle der FPU ablöste. Die neue Gewerkschaft „Petrovets“ trat der „Konföderation Unabhängiger Gewerkschaften der Ukraine“ bei, die von Herrn Wolynets geführt wird. Faktisch wurde sie damit zum Teil einer Struktur, die als verlängerter Arm des Timoshenko -Blocks dient. An dieser Stelle müssen wir näher auf die politische Situation in der Stadt eingehen. Die ukrainische Bourgeoisie ist gegenwärtig in ein „orangenes Lager“ (das lose Bündnis von Yushenko und Timoshenko) und ein „blauweißes Lager“ (die „Partei der Regionen“ von Yanukovich) gespalten. Der Eigentümer der Chersoner Maschinenfabrik, Herr A. Oleinik, ist ein bekanntes Mitglied der „Partei der Regionen“. Während die „Partei der Regionen“ die regionale Verwaltung von Cherson zu 60% dominiert, ist der Vorsitzende der Verwaltung der von Yushenko eingesetzte Boris Silenkov - ein „Orangener“. Dies gibt einige Anhaltspunkte über die internen Machtkämpfe der bürgerlichen Cliquen um Cherson. Jede dieser Cliquen versuchte aus der Arbeiterrevolte einen Vorteil zu ziehen.
Im Endeffekt gelang es der stärkeren „Partei der Regionen“ die Kontrolle über die Arbeiter zu gewinnen, die Revolte zu beenden und dadurch zu einem Werkzeug in ihren Händen zu machen. Die Interessen von Herrn Oleinik sind derweil auch klar - die Arbeiter als Hebel zu benutzen, um aus der staatlichen Schatztruhe Zahlungen, Kredite und Subventionen zu erhalten. Damit war er erfolgreich.
Am Morgen des 13. Februar stellten Vertreter der „Partei der Regionen“ zwei Mähmaschinen vor das regionale Verwaltungsgebäude, um so einen „blauen Maidan“ (1) zu initiieren um Silenkov abzusetzen.
Die Betriebsgruppe der Gewerkschaft der Maschinenbaufabrik von Cherson stimmte einer Beteiligung zu. Die Trotzkisten der Gruppe „Sozialistischer Widerstand“ schrieben dazu:
„Am 13. Februar erhielt Herr Oleinik zwei Millionen Grivnas von den lokalen Behörden. (...) Somit ist der einzige Gewinner der Fabrikbesitzer, der dank der Aktionen der Arbeiter eine beträchtliche Summe von den Behörden erhal ten hat. Es muss betont werden, dass diese Summe nicht aus einem Reservefonds stammt, sondern aus dem Haushalt der Arbeiter des öffentlichen Dienstens, der Rentenkasse, der Sozialleistungen etc. gezahlt wurde.“
Ein von der Bourgeoisie gefeierter „sozialer Kompromiss“ wurde erreicht: Oleinik bekam das Geld und die Arbeiter das Versprechen ein wenig davon abzubekommen. Nach diesem „Kompromiss“ stellten die Arbeiter bzw. die Gewerkschaftsvertreter die in ihren Namen sprachen die Forderung nach Verstaatlichung auf.
Am 14. Februar wurde Oleinik von der Zeitschrift UKRINFORM (2) mit den Worten zitiert:
„... die Belegschaft hat die Forderung nach Verstaatlichung zurückgezogen und sich mit mir verständigt die Leitung des Unternehmens wieder zu übernehmen. Nun werde ich für das Recht auf Arbeit und das Überleben des Unternehmens mit den Belegschaft gemeinsam kämpfen.“
Etwas was die Trotzkisten und Stalinisten für den Funken hielten, der die Ukraine in Flammen setze - und es war faktisch ein genuin proletarischer Protest wenn auch mit den falschen Forderungen und Perspektiven - stellte sich am Ende als profitables Geschäft eines Kapitalisten heraus. Und dies geschah genau aufgrund der falschen Perspektiven.
Die Forderung nach Verstaatlichung war logischerweise keine Forderung nach einer sozialen Revolution, sondern nach staatlichen Hilfen für ein kapitalistisches Unternehmen um sein Überleben durch den bürgerlichen Staat zu sichern. Und so lief auch alles darauf hinaus, dass eine Betrag von Steuergeldern, der „nicht aus einem Reservefonds stammt, sondern aus dem Haushalt der Arbeiter des öffentlichen Dienstens, der Rentenkasse, der Sozialleistungen“ etc. an einen Kapitalisten ausgezahlt wurde. Wenn die Trotzkisten und Stalinisten ernsthaft gehofft hatten, dass der bürgerliche Staat anders handeln könnte, zeigt das nur ihre eigene Kurzsichtigkeit.
Wir können also folgende Bilanz ziehen. Notleidende Arbeiter die über Monate keinen Lohn bekommen haben, nehmen einen kollektiven Kampf auf. Während des Kampfes stellen sie einige falsche Forderungen auf, werden dabei aber von Marxisten auf ihre Kosten voll unterstützt. Die bürgerliche Forderung (die angeblich Neoliberale in Angst und Schrecken versetzen soll) wird von einer bürgerlichen Clique sofort aufgegriffen. Innerhalb weniger Tage werden die Arbeiter zurückgeschlagen. Sie sehen zwar den Fehler in ihrer Forderung stehen jedoch weitgehend alternativlos da.
Während der Ereignisse in der Maschinenfabrik von Cherson stellten die Trotzkisten und Stalinisten die Forderungen nach „Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle“ auf. Schauen wir uns an, ob diese Forderung der Stärkung proletarischen Klassenbewusstseins und revolutionärer Aktion dienlich ist, oder eher zur Unterordnung des Proletariats unter die Bourgeoisie und ihren Staat führt.
Was ist der grundlegende Unterschied zwischen der Forderung nach Verstaatlichung auf der einen Seite und dem Kampf für konkrete materielle Forderungen auf der anderen? Die Forderung nach Verstaatlichung, d.h. der Überführung des Unternehmens in Staatseigentums (bzw. des bürgerlichen Staates da es keinen anderen gibt) impliziert den Kampf für eine alternative kapitalistische Strategie, die Stärkung des Staatskapitals gegenüber dem Privatkapital. Jene die die Bourgeoisie zur Annahme dieser Strategie auffordern, agieren lediglich als bloße Ratgeber des Kapitals.
Gleichwohl werden einige fragen, warum man nicht für eine Form des Kapitalismus kämpfen solle der den Arbeitern mehr Vorteile bringt. Müssen wir wirklich so ideologisch sein und immer die utopische Vision einer globalen sozialistischen Revolution betonen und dabei die unmittelbaren Bedürfnisse der Not leidenden Menschen ignorieren? Unsere Antwort ist, dass wir nicht ideologisch sind, wenn wir den Reformismus zurückweisen. Wir tun dies nicht aufgrund utopischer Visionen, sondern aus der Feststellung heraus, dass die Vorstellung eines Kapitalismus der den Arbeiter materielle Vorteile bringen könne, in sich selber utopisch ist.
Um zu verstehen dass die Politik der Verstaatlichung den Arbeitern keine Vorteile bringt, muss man sich nur das heutige Russland anschauen. Unter Putins Herrschaft kam es zu einem Ansteigen des Interventionismus, zum Entstehen einer Bürokratie die die Pseudo- Oligarchen zähmte, zu einer Dominanz überwiegend staatlicher Unternehmen in den produktivsten Sektoren der Wirtschaft, wo Bürokratie und Business gemeinsam von der Armut der Massen profitieren. All dies führte weder zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter, noch zu bürgerlichen Fortschritt. Nach 8 Jahren Wachstum hat die russische Wirtschaft noch nicht einmal das Niveau von 1990 erreicht. Es liegt nun auf der Hand, dass der Staatsinterventionismus unter Putins Herrschaft nicht den Interessen der arbeitenden Massen gedient hat, und nicht einmal eine fortschrittliche Modernisierung der russischen Wirtschaft erwirkt hat. Vielmehr hat er nur dem exzessiven Konsum der Ausbeuterklasse genützt, der zweiköpfigen Hydra des Bürokraten und Geschäftmanns. (...) Entgegen dem klassischen „marxistischen“ Konzept (3) ist der Staat weder ein neutrales Instrument noch ein Kampffeld der Herrschenden und Beherrschten, sondern von seiner ganzen Natur her ein Ausbeuter.
Er ist keine entfremdete mysteriöse Einheit mit eigenen separaten Interessen, sondern setzt sich aus ganz konkreten Chefs, Bürokraten und Bullen zusammen die wiederum selber Ausbeuter und Unterdrücker sind und wiederum mit anderen Ausbeutern und Unterdrückern mit privatkapitalistischen Interessen verbunden sind. Auch unter dem Druck der proletarischen Massen kann diese ausbeutende Bande nie etwas anderes sein als sie ist. Selbst wenn sie den kämpfenden Massen bestimmte Zugeständnisse macht, tut sie das nur um den revolutionären Geist zu ersticken, durch Illusionen zu ersetzen und dann wieder die Zugeständnisse zurückzunehmen. Das Ziel der kommunistischen Bewegung besteht nicht darin den bürgerlichen Staat unter Druck zu setzen, sondern ihn zu zerstören. Dieses Ziel ist keine utopische Vision, sondern eine Bedingung für das Überleben der Menschheit.
Wir unterstützen nur Forderungen, die dem revolutionären Ziel nicht zuwiderlaufen. Wir unterstützen den Kampf von Arbeitern für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen unter der Maßgabe, dass ihre Kämpfe auf der Basis der direkten Kontrolle und Selbstorganisation geführt werden, wobei die Arbeiter einen neue Form der sozialen Beziehungen entwickeln, ohne auf die staatlich integrierten Gewerkschaften oder den Staat zu vertrauen. Nur in einem solchen Kampf können die Arbeiter verstehen, dass ihr Recht auf Leben durch das kapitalistische System bedroht wird, und dieses System zerstört werden muss. Nur in solch einem Kampf können die Arbeiter die Erfahrung der Selbstorganisation machen, die notwendig für die Zerstörung der alten Welt und die Errichtung einer neuen ist. Sowohl die Stalinisten wie die Trotzkisten, die sich im Grunde nicht so sehr unterscheiden, rechtfertigen ihre Unterstützung der Verstaatlichungen damit, dass die Wiederherstellung eines funktionierenden Unternehmens, es den Arbeitern ermöglichen würde zu überleben. Dennoch können Verstaatlichungen auch wieder dazu führen, dass Unternehmen an einen privaten Investor verkauft werden (...) Es ist alles andere als sicher dass der bürgerliche Staat der Ukraine, der sich in einer permanenten Krise befindet, zu einer Sanierung aller möglichen Unternehmen fähig ist.
Arbeiterkontrolle: Warum sie nicht ausreicht
„Bolschewiki- Leninisten“ rechtfertigen ihr Eintreten für Verstaatlichung, indem sie sie als Sonderfall darstellen, als „gute“ Verstaatlichung - eine unter Arbeiterkontrolle.
Sie stellen die „Arbeiterkontrolle“ als einen wundersamen Tropfen Wein dar, der aus einem Kübel bürgerlichen Giftes ein süßes kommunistisches Gebräu macht. Wir sind bereits in einen anderen Text (...) auf das Problem der Arbeiterkontrolle eingegangen:
“(...) Die Forderung nach Arbeiterkontrolle geht davon aus, dass die Besitz und Verfügungsgewalt über das Unternehmen (und der ganzen Gesellschaft) in den Händen der Bourgeoisie bleibt, während die Arbeiter lediglich die Geschäftsabläufe unmittelbar kontrollieren. Es liegt auf der Hand, dass die Bourgeoisie solange sie die Verfügungsgewalt hat, eine wirkliche Kontrolle der Arbeiter über diese nicht zulassen wird. Wenn jedoch andererseits die Arbeiter genügend Kraft haben, um die Kontrolle der Bourgeoisie zurückzudrängen, macht es keinen Sinn auf halben Wege stehen zu bleiben. Wozu Arbeiterkontrolle über die Machenschaften der Bourgeoise, wenn diese komplett verdrängt werden kann? Deshalb ist die Forderung nach Arbeiterkontrolle unter den Bedingungen des absolutistischen Kapitalismus in den meisten Fällen unrealistisch und unter revolutionären Bedingungen absolut schädlich Die Bourgeoisie wird auf die Forderung nach Arbeiterkontrolle nur in Ausnahmefällen eingehen und genau dann werden sich die Illusionen ihrer Befürworter zerschlagen. Die Besitzer des Unternehmens werden ihre Geschäftsgeheimnisse lüften und Rechnungsbücher mit dem Ziel vorlegen, die Arbeiter davon zu überzeugen, dass sie angesichts der desolaten finanziellen Situation des Unternehmens den Klassenkampf einzustellen haben, um einen Bankrott zu verhindern. Die Bourgeoisie die in doppelter Buchhaltungen und anderen Manipulationsmethoden geschult ist, wird ihr Ziel erreichen und die Verwirklichung der Arbeiterkontrolle wird zu einem Werkzeug der Reaktion und Ausbeutung werden. Alles in allem sind die trotzkistischen Konzepte eines „Übergangs“ kapitalismus regelrechte Utopien, die den Proletariern schaden, indem sie sie vom wirklichen revolutionären Kampf für ihre Klasseninteressen ablenken.“
Wir müssen nicht noch einmal hervorheben, dass „Übergangsfoderungen“ wie die nach Arbeiterkontrolle und Verstaatlichungen nicht einmal dazu dienen, die Lebensbedingungen er Unterdrückten zu verbessern. Derartige kleine Geschenke des Staates dienen lediglich dazu die autonome Aktion der Arbeiter zu unterminieren und in das System er Ausbeutung zu integrieren. Sollte es im Falle einer Doppelherrschaft zu sog. „Arbeiterkontrolle“ in den Betrieben kommen, müssen wir die Arbeitern auf die Instabilität und begrenzte Lebensdauer einer solchen Situation des Kräftegleichgewichts hinweisen und erklären, dass derartige Arrangements entweder unweigerlich auf eine Wiederherstellung der ganzen Macht des Kapitals oder auf die Durchsetzung der ganzen Macht der Arbeiterversammlungen hinauslaufen.
Die Unterstützung er Forderung nach Arbeiterkontrolle ist schlichtweg eine Idealisierung einer unstabilen und unhaltbaren Situation die die proletarischen Massen unweigerlich in die Irre führen wird.
Die ukrainische Krise und unsere Aufgaben
„Zunächst müssen wir feststellen, dass die bürgerliche Ukraine eine ökonomische, soziale und politische Krise durchläuft: Die Besetzung der Maschinenbaufabrik von Cherson, der Gegenstoß gegen die Gaskonzerne die die Gaszufuhr nach Ivanow- Frankovsk kappen wollten, und der Aufstand in Mekeeva der durch die Berkut (Eliteeinheit der ukrainischen Polizei) niedergeschlagen wurde. So sieht die Lage bis jetzt aus. Es gibt eine dreifache Krise in der Ukraine während die globale Krise gerade erst am Anfang steht.
1. eine ökonomische Krise, dutzende Fabrikschließungen, eine hohe Staatsverschuldung und die Gefahr der Zahlungsunfähigkeit.
2. Eine soziale Krise, Massenarbeitslosigkeit, wachsende Massenarmut und ein Anschwellend er Proteste
3. Eine politische Krise des ukrainischen Staates der sich um Prozess des fortwährenden Zusammenbruchs befindet. Die führenden Machteliten können sich nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen, die Armee ist paralysiert.“ (M. Magid: Die Ukraine zwei Schritte vor einer sozialen Erhebung ... oder einem Zusammenbruch)
Wir können noch nicht sagen wie diese Krise enden wird. Werden die ukrainischen Eliten die Situation stabilisieren können? Wird die Ukraine im Feuer imperialistischer Kriege zwischen bürgerlichen Cliquen verbrennen? Oder wird eine soziale Revolte ausbrechen, sich ausbreiten und zu einer sozialen Revolution werden? Wir können es nicht sagen. Eines ist jedoch klar: Soll die Revolution siegreich sein, darf die Arbeiterklasse nicht einer bürgerlichen Clique, nicht einer Machtgruppe, nicht einer offiziellen Gewerkschaft, nicht einer Partei, keinem Staat und keinem Kapitalisten trauen. Sie dürfen sich nicht in ein Werkzeug irgendeiner bürgerlichen Fraktion verwandeln lassen. Sie müssen ihre eigene Klassenunabhängigkeit bewahren. Sie müssen für ihre eigne Befreiung kämpfen. Unsere Aufgabe, die Aufgabe der Vorkämpfer der sozialen Revolution ist es, dieses Bewusstsein zu vermitteln.
Was hätte getan werden sollen
Uns wurde vorgeworfen, dass wir kein positives Programm hätten und den Arbeitern nichts anzubieten hätten. Dem müssen wir entgegenhalten, dass dem nicht so ist und das wir etwas außen vor waren, weil unsere Gruppe keinen direkten Kontakt zu den Arbeitern von Cherson hatte.
Wenn wir die Chance gehabt hätten am Kampf teilzunehmen hätten wir folgendes vorgeschlagen:
- Übernahme der Fabrik unter der Autorität einer Arbeiterversammlung.
- Rückführen der ausgelagerten Gerätschaften (hier müssen wir anmerken, dass in der Fabrik 1500 Arbeiter beschäftigt sind. Zusammen mit ihren Familien und Freunden war das eine bedeutende Kraft, die angesichts der dreifachen Krise in der Ukraine gute Chancen hatte ihre Forderungen gegenüber den Behörden durchzusetzen).
- Die Forderung nach sofortiger Auszahlung der ausstehenden Löhne.
- Agitation für Betriebsbesetzungen durch Arbeiterkollektive in anderen Städten und anderen Unternehmen in Cherson und der Ukraine.
- Versuch der Schaffung eines Arbeiterrates in Cherson.
Wir denken dass es notwenig ist Arbeiter vom feindlichen Charakter des Staates zu überzeugen und dass es deshalb notwenig ist, dass sie gemeinsam mit anderen ausgebeuteten und unterdrückten Menschen ihre Geschicke in die eigenen Hände nehmen, Verbindungen untereinander aufbauen und Wege entwickeln Produktion und Verteilung ohne Staat und Kapitalisten zu organisieren. Uns ist völlig klar, dass ein „Sozialismus in einer Fabrik“ unmöglich ist und isoliert notwendigerweise zum Scheitern verurteilt ist. Gleichwohl kann der proletarische Kampf nur nach einer Serie von Rückschlägen erfolgreich sein. Selbst nach ihrer Niederlage haben die Arbeiter von Cherson eine unschätzbare Erfahrung gemacht. Es ist nicht nur ihre Erfahrung. Das gesamte ukrainische und weltweite Proletariat muss sich diese Erfahrung zu Eigen machen.
1919 dachten viele Verteidiger der Bayrischen Räterepublik, dass ihr Sieg vollkommen sei und dass es möglich sei in allen Aspekten des sozialen Lebens kommunistische Beziehungen zu entwickeln. Der kommunistische Revolutionär Eugen Levine` war nicht dieser Meinung. Er verstand dass die isolierte Räterepublik zum Scheitern verurteilt war und dass es angesichts der tödlichen feindlichen Kräfte zwecklos war kommunistische Veränderungen in Kultur und Erziehung zu verwirklichen. Dennoch hatte er die Notwendigkeit verstanden, den Kampf bis zum äußersten zu führen, um dem Gegner ein Maximum an Schaden zuzufügen und durch eine glorreiche Niederlage das deutsche und internationale Proletariat zu weiteren Kämpfen zu inspirieren. Im aufrechten Kampf erlittene Rückschläge geben dem Proletariat weitaus wertvollere Klassenlektionen an die Hand, als eine durch Kompromisse herbeigeführte Niederlage. Dasselbe trifft auch auf Streikbewegungen zu. Wenn ein Streik gebrochen wird weil die Arbeiter sich hinter das Licht haben führen lassen, wird vollkommene Demoralisierung das Ergebnis sein. Wenn ein Streik nach aufrechtem Kampf aufgrund mangelnder Kräfte niedergeschlagen wird, kann man daraus eine wichtige Lehre ziehen, dass mit ausreichender Kraft, der Kraft der gesamten Belegschaft, der ganzen Stadt oder des ganzen Landes eine Möglichkeit gibt zu siegen. Gegenwärtig spielt sich der proletarische Klassenkampf auf zwei schwachen sich gegenseitig bedingenden Ebenen ab. Auf der einen Seite die spontanen „wilden“ proletarischen Proteste in denen die protestierenden Arbeiter nur ein unklares Verständnis davon haben, wie und wofür der Kampf geführt werden muss, auf der anderen Seite eine Anzahl kleiner revolutionärer Gruppen, die kaum in den Massen verankert sind.
Angesichts der derzeitigen relativen Isolation dieser beiden Dimensionen des proletarischen Kampfes gibt es keine reale Perspektive einer erfolgreichen sozialen Revolution. Erst wenn die Arbeiterklasse die Unmöglichkeit erkennt ihrem Elend im Rahmen des kapitalistischen Systems ein Ende zu setzen, die Notwendigkeit einer sozialen Revolution erfasst hat, erst und nur dann wird sich diese Revolution aus den Ideen kleiner Gruppen zu einer wirklichen Praxis des Proletariats entwickeln. Erst wenn sich der Kampf unter der Kontrolle der Massen entwickelt, und sich die fortschrittlichsten Elemente in einer revolutionären Organisation vereinen die es versteht, den Kampf für konkrete Forderungen mit dem Kampf für die soziale Revolution zu verbinden - erst dann wird die letzte Stunde des Kapitalismus geschlagen haben.
Das Kollektiv der ASR(1) Aus dem Ukrainischen «Майдан Незалежности» (Maidan Nezalezhnosti), Platz der Unabhängigkeit, der zentrale Platz in Kiew wo die Massenproteste während der sog. „orangenen Revolution“ im Winter 2004-2005).
(2) Ukrainisches Informationsbüro.
(3) Wir unterscheiden zwischen den revolutionären Ideen von Marx und der reformistischen Idee des Marxismus ( die Sozialdemokratie und ihre Nachfolger, Trotzkisten etc).
Sozialismus oder Barbarei #20
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