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Startseite ›Griechenland: Brief eines anarchistischen Genossen
Im Folgenden veröffentlichen wir einen Brief eines griechischen Anarchokommunisten, mit dem wir schon länger in Kontakt stehen. Auch wenn diese Korrespondenz einen eher informellen Charakter hatte, enthält sie wichtige Informationen und politische Fragestellungen. Wir fragten den Genossen deshalb um sein Einverständnis den Brief veröffentlichen zu dürfen. Er stimmte zu und bat uns um einige Klarstellungen. Erstens vertritt er ausdrücklich keine pazifistischen Positionen und hat nichts gegen zweifellos notwendige Widerstandshandlungen der Bewegung (militante Verteidigung von Demos gegen die Bullen, Besetzung von Radiostationen usw.) Was er kritisiert ist die unüberlegte Gewalt von ca. 200 bis 300 Personen die sich als Anarchisten ausgeben in der Nacht vom 8. auf den 9 Dezember 2008. Er erhebt den Vorwurf, dass diese Aktionen die Möglichkeiten einer politischen Verallgemeinerung der Bewegung erheblich schwächten. Das ist ein Kritikpunkt den wir weitgehend teilen. Der zweite Punkt den er klarstellen möchte ist, dass sich seine Kritik nicht auf die gesamte anarchistische Bewegung in Griechenland bezieht. Deswegen betont er in seinem Brief auch die Notwendigkeit, die Verlautbarungen der griechischen Anarchisten mit Sorgfalt zu lesen, um die ernsthaften Revolutionäre von den Protagonisten einer sinnlosen Gewalt unterscheiden zu können. Wir möchten betonen, dass wir auch Differenzen mit dem Genossen haben, der anscheinend davon ausgeht, dass sich revolutionäres Bewusstsein spontan aus den Kämpfen heraus entwickelt. Sicherlich kann und wird sich in Kämpfen ein aufständisches Klassenbewusstsein entwickeln. Unter kapitalistischen Bedingungen werden sich jedoch auf kurz oder lang immer wieder die Ideologien der Herrschenden durchsetzen, wenn wir dem nicht ein revolutionäres Programm entgegensetzen. Die Aufgabe einer kommunistischen Organisation besteht nicht darin stellvertretend für die Klasse zu handeln, sondern unablässig auf den Sturz des Kapitalismus hinzuarbeiten. Kommunisten orientieren in den Kämpfen der Klasse nicht einfach nur auf die Zerschlagung des kapitalistischen Staatsapparats sondern auf die bewusste Überwindung der Herrschaftsverhältnisse und Fetische der bürgerlichen Gesellschaft (Lohnarbeit, Warenproduktion, Nationalstaaten, Grenzen, Armeen usw.) Die Propagierung dieser Perspektive erfordert einen organisatorischen Rahmen. Eine andere Gesellschaft wird sich nur in einem langwierigen, notwendigerweise von Widersprüchen behafteten Prozess der politischen Reflektion und Selbstaktivität der Arbeiterklasse erkämpfen lassen. Aus dem Aufstand der griechischen Arbeiter und Jugendlichen kann man viel über die Möglichkeiten aber auch Schwierigkeiten der politischen Bewusstseinsentwicklung lernen. Der Genosse hebt in seinem Brief zu Recht hervor, dass jede sich entwickelnde Bewegung vor der Herausforderung steht, Grenzen zu überschreiten, sich auf andere Teile der Arbeiterklasse auszuweiten und politisch zu verallgemeinern. Gelingt dieses nicht, ist das Scheitern vorprogrammiert.
Liebe Genossen,
Ich muss bis Montag nicht arbeiten und bin so in der Lage Euch ein paar Dinge über die Mehrheit der Anarchisten in Griechenland zu schreiben.
Diese Mehrheit vertritt einen sehr vagen Anarchismus. Für diese Leute sind die tief greifenden Differenzen zwischen Poudhon, Bakunin, Malatesta, Cafiero, Kropotkin; Camillo Berneri, Bookchin usw. bestenfalls Detailfragen.
Warum? Weil sie nach der Lektüre von ein paar anarchistischen Broschüren der Meinung sind nicht weiter lesen zu müssen, geschweige denn sich mit dem Denken der oben genannten Theoretiker eingehender zu beschäftigen.
Vielmehr halten sie sich nach dem Lesen von ein paar Broschüren für die Allwissenden. Und wer sind die Unwissenden? Außer diesen ca.
zweihundert Menschen die ganze griechische Bevölkerung. Diese „Anarchisten“ denken, dass wir keine Theorie brauchen, sondern gewalttätige Aktionen um die sozialen Bewegungen zu radikalisieren. Für sie ist die einzige wichtige Aktivität die militante Aktion - die einzig wahre Aktion. Womit wir es zu tun haben sind in Wirklichkeit äußerst ungebildete „Anarchisten“, die nicht vor ihren Aktionen nachdenken, nicht nach ihren Aktionen nachdenken und vor allen Dingen nicht über die Auswirkungen ihrer Aktionen nachdenken. Sie sind Vertreter eines „Anarchismus“ der so noch nie existiert hat. Sie haben nichts mit den individualistischen, syndikalistischen oder kommunistischen Spielarten des Anarchismus gemein. Sie glauben, dass die einzige Lösung für alle Probleme die „Gewalt“ ist und sie sind ausgesprochen elitär, da sie sich für die einzig Wissenden halten, während alle anderen Unwissende sind. In Anbetracht der unüberlegten Aktionen dieser “Anarchisten” braucht der griechische Staat gar keine Provokateure.
Ihre Teilnahme an Demonstrationen führt jedes Mal zur Auseinandersetzung mit der Polizei und dem Zerstreuen der Demonstranten. Sie kümmern sich nicht im Geringsten um das Anliegen und die Zielsetzungen der Demonstrationen.
Was ich sage mag vielleicht etwas seltsam in Euren Ohren klingen, aber es ist die Wahrheit.
Dennoch sind es nur 10% der Geschichte. Wenn ich Euch die ganze Geschichte erzählen würde Was die soziale Protestbewegung der letzten Tage angeht, bin ich sehr glücklich nach so vielen Jahren wieder einem wirklichen sozialen Aufstand beiwohnen zu können. Kurz nach dem Mord am jungen Alexandros wurden innerhalb weniger Stunden über SMS Demonstrationen in ganz Griechenland organisiert, an denen sich Alte und Junge, Studenten und Arbeiter, Eltern mit ihren Kindern, Griechen und Nicht-Griechen, Lehrer und Schüler, Soldaten und Zivilisten usw. beteiligten. Innerhalb weniger Stunden waren die Schranken die die Arbeiterklasse spalten verschwunden. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei waren zu diesem Zeitpunkt notwendigerweise gewalttätig ( ich meine hier die Auseinandersetzungen am Samstag, Sonntag und Montag Nachmittag) um die Demos durchzusetzen - das Minimum an Gewalt also welches notwenig ist, um ein besonderes Anliegen zu erreichen. Kurz nach dem Mord appellierten die Demonstranten an die Bevölkerung, sich anzuschließen und in einem Akt der Solidarität, der Selbstachtung, der Wut und des Widerstandes gegen die verfahrene soziale Lage (die die beiden Parteien der Herrschenden zu verantworten haben) zu vereinen. Einige Demonstranten besetzten TV - und Radiostationen, um ihre Aufrufe bekannt zu machen. Am Tag nach den Schüssen gingen alle Schüler in schwarz gekleidet zur Schule. Innerhalb von nur zwei Tagen war eine Bewegung entstanden. Um die Bewegung ins Leere laufen zu lassen, zog die herrschende Klasse am Montagabend in jeder Stadt ihre Polizeikräfte von den Strassen zurück. Sie setzten darauf, dass die gewohnten Aktionen (die sinnlose Gewalt) der üblichen zweihundert „Anarchisten“ unter den Demonstranten und der Bevölkerung Angst erzeugen würde. Angst um die kleinen Ladengeschäfte und Autos, Angst um die Kinder die an den Demonstrationen teilnahmen usw. Kurz gesagt setzten die Herrschenden darauf, dass es zu Meinungsunterschieden, Streit und Spaltungen über das Ausmaß der Gewalt kommen würde. Glücklicherweise ging die Bewegung weiter.
Die Besetzung von Schulen und Universitäten verlieh ihr einen sozialen Charakter und Kohärenz. Dummerweise kamen dann die Weihnachtstage und niemand weiß wie es weitergeht wenn Schulen und Unis wieder öffnen. Ihr solltet die Erklärungen und Statements der griechischen Anarchisten mit äußerster Vorsicht lesen.
Viele von ihnen geben sich in Worten nur als Revolutionäre aus, um ihre unüberlegten gewalttätigen Aktionen zu rechtfertigen. Wie geht es jetzt weiter? Das hängt (wie immer) von der Bewegung selber ab, - der Fähigkeit der Aktivisten weiterzudenken, über das bisher Erreichte zu reflektieren und klar zu bekommen, was man weiter erreichen will und welche Formen des Kampfes dazu gangbar und notwendig sind. Erfreulicherweise wird bisher weiter damit fortgefahren Aufrufe an andere Teile der Arbeiterklasse zu richten, sich der Bewegung anzuschließen und ihre Belange einzubringen.
Es hängt also (wie immer) von der Bereitschaft großer Teile der Arbeiterklasse ab, den Kampf an ihren Arbeitsplätzen und in ihren Stadtteilen zu verankern und weiterzuführen. Ohne eine solche Ausweitung und Dynamisierung wird die Bewegung in Sterilität verfallen und als eine Schüler- und Studentenbewegung von vielen absterben. Das ist alles keine Theorie. Wir haben das alles schon viele Male vorher gesehen.
Mit solidarischen Grüßen
SyrosSozialismus oder Barbarei #20
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