Lenin und der Leninismus

Mit der Lehre von Marx geschieht jetzt dasselbe, was in der Geschichte wiederholt mit den Lehren revolutionärer Denker und Führer der unterdrückten Klassen in ihrem Befreiungskampf geschah. Die großen Revolutionäre wurden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klassen ständig verfolgt, die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm und wütenstem Hass begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen sie zu Felde zogen. Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heiligzusprechen, man gesteht ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu zur „Tröstung“ und Betörung der unterdrückten Klassen, wobei man ihre revolutionäre Lehre des Inhalts beraubt, ihr die revolutionäre Spitze abbricht, sie vulgarisiert. Bei einer solchen „Bearbeitung“ des Marxismus findet sich jetzt die Bourgeoisie mit den Opportunisten innerhalb der Arbeiterbewegung zusammen. Man vergisst, verdrängt und entstellt die revolutionäre Seite der Lehre, ihren revolutionären Geist. Man schiebt in den Vordergrund, man rühmt das, was für die Bourgeoisie annehmbar ist oder annehmbar erscheint. (Lenin, Staat und Revolution)

Es ist nunmehr 100 Jahre her, dass Lenins Leichnam einbalsamiert und in Moskau öffentlich zur Schau gestellt wurde, eine groteske Geste einer "roten" Bourgeoisie, die mit der systematischen Entstellung und Verzerrung von Lenins tatsächlichem Beitrag zur sozialistischen Bewegung einherging. Die Zeiten haben sich geändert. Heute betrachtet der russische Staat Lenin nicht mehr als seinen "Gründervater", sondern macht ihn persönlich für den Zerfall seines Reiches verantwortlich. Währenddessen werden in vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks Lenin-Statuen im Rahmen der "Entkommunisierung" abgerissen. Der hundertste Jahrestag von Lenins Tod spielte daher in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle.

Gleichwohl gewinnt die Idee des „Kommunismus“, in einer Welt die von Kriegen und Krisen erschüttert wird, besonders bei der jüngeren Generation eine Anziehungskraft wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Für diejenigen, die die Notwendigkeit einer Welt jenseits des Kapitalismus sehen, kann dieser ambivalente Jahrestag also eine Gelegenheit sein, sich eingehender mit dem Mann zu beschäftigen, dessen Name unausweichlich mit der Idee des "Kommunismus" verbunden ist.

Lenin, kollektiver Organisator

1870 wurde Lenin als Wladimir Iljitsch Uljanow in Familienverhältnissen geboren, die man heute als Auslaufmodell bezeichnen würde. Sein Vater stammte aus einer armen Familie die aus der Leibeigenschaft aufgestiegen war. Es gelang ihm ein Universitätsstudium zu absolvieren und Lehrer zu werden. Seine Mutter, die ebenfalls Lehrerin war, verbrachte einen Großteil ihrer Zeit mit der Kindererziehung. Lenin hatte sieben Geschwister, von denen zwei bereits im Säuglingsalter starben. Trotz der liberal-konservativen Überzeugung ihrer Eltern engagierten sich fünf der Kinder aktiv in der sozialistischen Bewegung. Der älteste Sohn, Alexander Uljanow, schloss sich während seines Studiums der Gruppe Narodnaja Wolja an - er wurde verhaftet, der Planung eines Attentatsversuchs beschuldigt und 1887 von den zaristischen Behörden hingerichtet. Ob dies der unmittelbare Anstoß für Lenins Interesse an sozialistischen Ideen war ist umstritten. Gleichwohl durchstöberte er in den folgenden zwei Jahren die örtlichen Bibliotheken nach radikalen Büchern, fand den Weg zu den Werken von Nikolaj Tschernyschewski und schließlich zu Karl Marx' Kapital und kam letztlich selbst in Kontakt mit den Narodniki und auch marxistischen Zirkeln.

Zu dieser Zeit bestand die sozialistische Bewegung in Russland aus einem politisch heterogenen Netz revolutionärer Zellen und Studienzirkel, die über das ganze Reich verstreut waren. Lenin fühlte sich besonders zu den marxistischen Ideen der Gruppe Befreiung der Arbeit hingezogen, die unter anderem von Georgi Plechanow und Vera Sassulitsch angeregt wurden. Lenin gründete 1895 den „Bund für die Befreiung der Arbeiterklasse“ und wurde bald darauf verhaftet. Im Gefängnis und im Exil beschäftigte er sich mit Wirtschaftsfragen, um die Anziehungskraft der Ideen der Narodniki innerhalb der sozialistischen Bewegung zu widerlegen (die schließlich in der Gründung der Sozialistischen Revolutionären Partei (SR) ihren politischen Ausdruck finden sollten). Er kam zu den folgenden Schlussfolgerungen:

  • Die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse haben sich in Russland durchgesetzt;
  • die ArbeiterInnenklasse und nicht die zahlreichere Bauernschaft, würde die führende Kraft der zukünftigen Revolution sein;
  • diese Revolution würde sowohl sozialistische (Kampf gegen die Kapitalistenklasse mit dem Ziel der Zerstörung des Klassensystems) als auch demokratische (Kampf gegen den Absolutismus mit dem Ziel der Erlangung politischer Freiheit) Aufgaben kombinieren;
  • Die über ganz Russland verstreuten Revolutionäre müssten sich zu einer einzigen vereinigten Partei zusammenschließen, um die vor ihnen liegenden Aufgaben zu bewältigen.

Lenin war bei weitem nicht der Einzige, der auf eine Vereinigung der sozialistischen Bewegung drängte und 1898 fand in Minsk der Erste Kongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) statt. Aufgrund polizeilicher Repressionen und interner Streitigkeiten existierte die neue SDAPR jedoch faktisch nur dem Namen nach. Lenins Anprangerung des Revisionismus und des Ökonomismus, seine Versuche, die Zeitschrift Iskra zu einem zentralen Parteiorgan zu machen, die Veröffentlichung seiner Schrift Was tun? im Jahr 1902 muss in diesem ganzen Kontext verstanden werden. Damals bestand Lenin auf einer stark zentralisierten Organisation von BerufsrevolutionärInnen um eine politisch und organisatorisch kohärente Partei zu schaffen, die in der Lage wäre, in die aufkommende Klassenbewegung in Russland eingreifen zu können. Im Laufe seines Kampfes zum Aufbau einer solchen Partei kam es zum Zerwürfnis zwischen Lenin und einigen seiner engsten Verbündeten. Auf dem Zweiten Kongress der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands) im Jahr 1903 bildeten sich zwei Parteifraktionen - Bolschewiki und Menschewiki - über die scheinbar triviale Definition heraus, wer als Parteimitglied gelten könne. Dahinter verbargen sich jedoch reale politische Differenzen, die in der Revolution von 1905 offen zutage treten sollten.

Lenin, revolutionärer Internationalist

Die Ereignisse des Jahres 1905 begannen zunächst harmlos: Eine friedliche Demonstration von ArbeiterInnen und BäuerInnen, unter der Leitung des orthodoxen Priesters Gapon, der sich später als Polizeispitzel entpuppte, wollte dem Zaren eine Petition überreichen. Sie wurde von den Truppen des Zaren mit Gewehrfeuer empfangen. Das daraufhin verübte Massaker erregte die Gemüter und löste im gesamten russischen Reich Proteste, Streiks und Aufstände aus und führte zur Bildung von ArbeiterInnenräten (Sowjets). 1905 war eine Feuerprobe für alle Organisationen, die den Anspruch hatten als Stimme der ArbeiterInnenklasse aufzutreten.

Lenin befand sich im Exil als die Revolution von 1905 ausbrach, verfolgte die Ereignisse jedoch aufmerksam, während er gleichzeitig die Revolutionen von 1789, 1848 und 1871 studierte, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Er gab seinen bolschewistischen GenossInnen Ratschläge, die auf den Straßen und in den Fabriken des Russischen Reiches zur Ausweitung des Streiks, zur Bewaffnung der ArbeiterInnen und zum Aufstand der Soldaten gegen ihre Regierung aufriefen. Nach der Proklamation des Oktobermanifests durch den Zaren - das die Einrichtung der Duma (Parlament) sowie Rede- und Vereinigungsfreiheit versprach - kehrte Lenin nach Russland zurück. Er erkannte nun, dass sich die Partei für die neu politisierten Elemente der ArbeiterInnenklasse öffnen musste, und kämpfte dafür, sie auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus umzugestalten. Die Gremien und Organe der Partei sollten gewählt, rechenschaftspflichtig und abwählbar sein. Die Bolschewiki und die Menschewiki gehörten formal gesehen immer noch derselben Partei an, doch bei Wahlen zur Duma traten die tiefen Differenzen offen zutage. Während die Bolschewiki zum Aufstand und zur Errichtung einer "revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" aufriefen, schlugen führende Menschewiki wie Plechanow und Pawel Axelrod nun ein parlamentarisches Bündnis mit den fortschrittlichen Elementen der Bourgeoisie vor (bspw. mit den sog. Kadetten, der Partei der konstitutionellen Demokraten).

In dieser Zeit des revolutionären Aufbruchs etablierten sich die Bolschewiki als dynamische Organisation und zählten 1907 über 40.000 Mitglieder, die meisten davon ArbeiterInnen. Lenin musste nun feststellen, dass seine berüchtigte Schrift Was tun? von 1902 zwar den Grundstein für politische und organisatorische Kohärenz gelegt hatte, die darin formulierte Taktik jedoch überholt sei. Die Periode der Konterrevolution, die der Zar entfesselte, als er alle liberalen Reformen rückgängig machte, warf ebenfalls neue Probleme auf. Massenverhaftungen führten zur Zerschlagung der SDAPR und trugen zur weiteren Zersplitterung bei. Lenin wurde erneut ins Exil gezwungen, wo er sich in Polemiken über die Parteiorganisation (gegen Axelrod und die menschewistischen Liquidatoren), die marxistische Orthodoxie (gegen Alexander Bogdanow und den Einfluss des Machismus unter den Bolschewiki) und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (gegen Rosa Luxemburg und ihre Anhänger in der polnischen, deutschen und russischen Partei) verstrickte.

Die allmähliche Wiederbelebung der ArbeiterInnenbewegung in Russland wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrochen. Lenins Schwerpunkt verlagerte sich nun auf die internationale Bühne - er versuchte, die Gründe für den Zusammenbruch und den Verrat der Zweiten Internationale zu verstehen und dem Wesen des kapitalistischen Imperialismus auf den Grund zu gehen. Auf den Konferenzen in Zimmerwald und Kiental agierte er als Schlüsselfigur der internationalistischen KriegsgegnerInnen und trat für den Zusammenschluss der RevolutionärInnen in einer neuen Dritten Internationale ein. Der Ausbruch der Februarrevolution 1917 ermöglichte ihm die Rückkehr nach Russland und bestätigte seine Perspektiven.

Lenin kam zu dem Schluss, dass die Sowjets, die überall im Russischen Reich wieder entstanden, die Machtergreifung durch die ArbeiterInnenklasse ermöglichen könnten und dass durch die Verbindung mit den Revolutionen im fortgeschritteneren Westen der Sozialismus auf die Tagesordnung gesetzt werden könnte. Seine Aufrufe zum Aufstand wurden anfangs von einigen in der Partei abgelehnt, von der bolschewistischen Basis hingegen mit Begeisterung aufgegriffen. Die Bolschewiki schwollen zahlenmäßig an. Sie waren nun eine Partei mit etwa 200.000 Mitgliedern, forderten "Alle Macht den Sowjets" und wurden allmählich zu einer führenden politischen Kraft innerhalb der Bewegung. Der Ausbruch der Oktoberrevolution signalisierte den Beginn einer revolutionären Welle in der ganzen Welt.

Lenin, Regierungschef

Nach turbulenten Verhandlungen beschloss der Zweite Allrussische Sowjetkongress die Macht zu übernehmen, wählte ein neues Zentrales Exekutivkomitee (VTsIK) und beauftragte es mit der Schaffung eines Rates der Volkskommissare (Sownarkom), zu dessen Vorsitzenden Lenin gewählt wurde. Die Bolschewiki reorganisierten sich als Kommunistische Partei Russlands (KPR) und begannen mit den Vorbereitungen zur Gründung einer Dritten Internationale. In den ersten sechs Monaten nach dem Oktober wurde das Sowjetprinzip auf ganz Russland ausgedehnt, und die ArbeiterInnen und BäuerInnen begannen das System der Ausbeutung und Unterdrückung umzustürzen. Es gab keine Blaupause, an der man sich hätte orientieren können - die Pariser Kommune, der erste historische Präzedenzfall eines proletarischen Aufstandes, dauerte nur 72 Tage, bevor sie brutal niedergeschlagen wurde. Der anfängliche revolutionäre Enthusiasmus konnte jedoch nicht über die objektive Realität hinwegtäuschen. Das Russland mit dem sich die ArbeiterInnen konfrontiert sahen, wurde von Hungersnöten und Epidemien heimgesucht, die Wirtschaft lag nach Jahren des Krieges und der Revolution in Trümmern. Und nicht nur das: In Ermangelung erfolgreicher Revolutionen in anderen Ländern drohte nun auch noch eine imperialistische Intervention.

Der Vertrag von Brest-Litowsk im März 1918 war der erste bedeutende Rückzug. Wie Lenin argumentierte, hatte man angesichts des Vormarschs der deutschen Truppen, die kurz vor der Einnahme Petrograds standen, kaum eine andere Wahl, als ihn zu unterzeichnen. Nichtsdestotrotz führte die Entscheidung zu einer breiten Opposition innerhalb der Partei und zu einem Zerwürfnis mit den Linken SR (die die Sowjetmacht befürworteten und sich erst von ihrer Mutterpartei abgespalten hatten, nachdem die Sowjetmacht auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress übergegangen war). Die Linken SR zogen sich aus dem Sownarkom zurück und inszenierten einen Aufstand, um den Krieg mit Deutschland wieder aufzunehmen. Lenins Schrift „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ stellte einen Wendepunkt in seinem Denken dar - angesichts einer solch katastrophalen Situation sah er die Aufgabe nun darin, "zu manövrieren“, „sich zurückzuziehen“, „abzuwarten“, „langsam aufzubauen“, „rücksichtslos zu strafen“, „rigoros zu disziplinieren“, „Laxheit zu zerschlagen". Im August 1918 wurde Lenin, nachdem er auf einer Betriebsversammlung gesprochen hatte, von einem Anhängerin der kurz zuvor aufgelösten Konstituierenden Versammlung angeschossen. Lenin schien dem Tode geweiht. Der Sownarkom beschloss dem Weißen Terror mit Rotem Terror zu begegnen.

Die Hoffnung, dass der Frieden mit Deutschland eine "Atempause" bieten würde bis die Isolation der russischen Revolution durch Revolutionen in anderen Ländern durchbrochen würde, erwies sich als kurzlebig. Der Aufstand der tschechischen Legion, die Intervention der Alliierten im Norden, der Vormarsch der weißen Armeen von Koltschak, Wrangel und Denikin führten zu einem langen und blutigen Bürgerkrieg. 1920 waren die wichtigsten internen Bedrohungen der jungen Sowjetmacht zurückgeschlagen, was kurzzeitig die Hoffnung auf eine neue Periode des "friedlichen Aufbaus" weckte, doch dann löste die polnische und ukrainische Offensive einen weiteren Krieg aus. In jenen Jahren herrschte in Sowjetrussland eine regelrechte Belagerungsmentalität - die Rote Armee wurde zu einer Masse von Wehrpflichtigen, die von ehemaligen zaristischen Beamten kommandiert wurden, rivalisierende politische Tendenzen wurden von der Tscheka unterdrückt, in der Industrie wurde die sog. „Ein-Mann-Leitung“ eingeführt und auf dem Land wurde die Beschlagnahme von Getreide durchgesetzt. Unterdessen wurde die neue Dritte Internationale zunehmend von den Interessen der russischen Diplomatie dominiert. Als Reaktion auf das Scheitern der Revolutionen außerhalb Russlands begann sie, der Sozialdemokratie im Westen und den nationalistischen Bewegungen im Osten ihre Aufwartung zu machen.

Innerhalb der Partei bildeten sich verschiedene Oppositionsströmungen heraus, die Bedenken gegen die eingeschlagene Richtung äußerten (so bspw. die Zeitschrift Kommunist, die Gruppe Demokratische Zentralisten, die Militäropposition, die Arbeiteropposition, die Arbeitergruppe). Ihnen gegenüber betonte Lenin, dass RevolutionärInnen nicht nur lernen müssen, wie man vorwärtskommt, sondern auch, wie man sich zurückzieht. Obwohl er versuchte, einige ihrer Vorschläge aufzugreifen, stand er diese Gruppen ablehnend gegenüber. Gleichzeitig wandte er sich aber auch gegen einige Auswüchse innerhalb der Parteiführung (z. B. gegen Trotzki in Bezug auf sein Konzept einer „Militarisierung der Arbeit“ und gegen Stalin in Bezug auf Georgien). Letztendlich konnte die Existenz Sowjetrusslands allen Widrigkeiten trotzend, gesichert werden, jedoch zu einem hohen Preis: dem allmählichen Verlust seines sowjetischen Charakters, dem Bedeutungsverlust der Räte. Die Bedingungen des Krieges und der Repression untergruben die ArbeiterInnendemokratie. Die örtlichen Sowjets traten kaum noch zusammen, und wenn, dann hauptsächlich, um Beschlüsse von oben abzusegnen. Der Sownarkom war kein Organ das seine Autorität von den Sowjets bezog, sondern wurde zu einer Macht über die Sowjets. Der Kronstädter Aufstand von 1921 war ein Symptom für diese Entwicklung. Auf dessen tragische Niederschlagung folgte die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP), die Lenin als weiteren notwendigen Rückschritt ansah. Die Öffnung der Kriegswirtschaft für die Marktkräfte sollte die durch die jahrelangen Unruhen verursachten wirtschaftlichen Verwerfungen beheben und zum Wiederaufbau einer ArbeiterInnenbasis beitragen.

In Lenins letzten Schriften zeigt sich ein Gefühl der Bestürzung über die mangelnden Fortschritte der Revolution und die Unzulänglichkeit der von ihr geschaffenen Institutionen. Als Alternative zur bürokratischen Fäulnis schlug er verschiedene Verwaltungsreformen vor, um mehr ArbeiterInnen in die Verwaltung des Systems einzubeziehen. Doch lähmten Lenin die 1922 erlittenen Schlaganfälle nachhaltig. Unter intensiver Überwachung, die einem Hausarrest durch den Staatsapparat, den er nun in Frage stellte, gleichkam, konnte er nichts mehr tun, als seine letzten Wünsche an einen Sekretär zu diktieren. Ein dritter Schlaganfall im März 1923 beendete sein aktives politisches Leben, und am 21. Januar 1924 fiel er ins Koma und verstarb.

Leninismus

Lenins Lebenslauf, der hier nur zusammengefasst wiedergegeben werden konnte, zeichnet ein komplexes Bild: Er ritt auf der revolutionären Welle und musste mit ihr fallen, als sie zusammenbrach. Wie er zu Fall kam und was er als Einzelner hätte anders machen können, wird so lange ein Streitpunkt sein, wie die Russische Revolution von Interesse bleibt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Nachdem die Sowjetmacht in einen Parteistaat umgewandelt worden war, ein Prozess der zu dem Zeitpunkt, als Lenin auf dem Sterbebett lag bereits vollzogen war, begann der Kampf darum, wer den Staat führen sollte.

Der Begriff "Leninismus" wurde zuvor nur umgangssprachlich verwendet. Nun wurden Anstalten gemacht, ihn zu einer offiziellen Ideologie zu proklamieren, wobei unterschiedliche Interpretationen wie bspw. Stalins Schrift „Grundlagen des Leninismus“ (1924) oder Sinowjews „Einführung in das Studium des Leninismus“ (1925) miteinander wetteiferten. Bereits im März 1923 wurde ein „Lenin-Institut“ unter der Leitung von Kamenew gegründet, um den "Leninismus" innerhalb und außerhalb der Partei zu fördern. Mit dem sog. "Lenin-Aufgebot" überschwemmte das Triumvirat Stalin-Sinowjew-Kamenew die Partei mit rund einer halben Million unerfahrener Mitglieder, die sie in ihrem Fraktionskampf gegen Trotzki leichter manipulieren konnten. 1924 fand der Fünfte Kongress der Dritten Internationale statt - der erste ohne Beteiligung Lenins. Er forderte die "Bolschewisierung" der Parteien der Dritten Internationale im Sinne des "Marxismus-Leninismus", gegen "rechte Gefahren" und "ultralinke Abweichungen". In Bezug auf Trotzki, Luxemburg, Amadeo Bordiga, Herman Gorter und Anton Pannekoek heißt es in den Thesen zur Bolschewisierung der kommunistischen Parteien (1925): "Je näher diese politischen Führer dem Leninismus stehen, desto gefährlicher sind ihre Ansichten in den Punkten, in denen sie nicht mit dem Leninismus übereinstimmen". 1926 wurde in Moskau eine Lenin-Schule eingerichtet, um Parteikader aus aller Welt in der Kunst der "Bolschewisierung" zu unterrichten, die wie folgt definiert wurde:

Die Bolschewisierung bedeutet den endgültigen ideologischen Sieg des Marxismus und Leninismus (oder mit anderen Worten: des Marxismus in der Periode des Imperialismus und der Epoche der proletarischen Revolution) (…) Der Tod Lenins muss der Propaganda der Theorie des Marxismus-Leninismus in allen Sektionen der Kommunistischen Internationale einen ebenso großen Impuls geben, wie er es in der Russischen Kommunistischen Partei getan hat.(Thesen über die Propagandatätigkeit der KI und ihrer Sektionen, Fünfter Kongress der Komintern)

Durch Manöver und Ausschlüsse wurden die Parteien der Dritten Internationale in loyale Sprachrohre Moskaus verwandelt. Im Jahr 1928 setzte sich Stalin im Machtkampf durch, und seine Theorie des "Sozialismus in einem Land" wurde mit der Einführung der Fünfjahrespläne zur Staatspolitik. In den 1930er Jahren vollzog er den finalen Todesstoß, indem er seine politischen Feinde und sogar ehemalige Verbündete, darunter viele alte Bolschewiki, im Rahmen der Großen Säuberung physisch auslöschte. Die Ideologie des "Marxismus-Leninismus" wurde durch Propaganda und militärische Gewalt in die ganze Welt exportiert und fand besonderen Anklang in unterentwickelten Regionen (vor allem in China), wo staatliche Kontrolle, Kollektivierung und Industrialisierung als Mittel für eine schnelle kapitalistische Entwicklung dienen sollten. Nach Stalins Tod im Jahr 1953 versuchte die herrschende Klasse in Moskau, sich mit einer offiziellen "Entstalinisierung" und einer "Rückkehr zum Leninismus" zu entlasten, was in Ländern wie China und Albanien als "Revisionismus" angeprangert wurde. So oder so hat die offizielle Darstellung im Osten wie im Westen seither behauptet, dass die verschiedenen "Volksrepubliken" und so genannten "sozialistischen Staaten" auf die eine oder andere Weise das Erbe Lenins seien. Diese Interpretation ist das Einzige, was nicht nur Liberale und Konservative, Stalinisten und Maoisten, sondern auch viele AnarchistInnen und RätekommunistInnen eint.

Es gibt jedoch einige Tendenzen, die immer einen Unterschied zwischen dem Russland Lenins und dem Russland Stalins betont haben. Die bekannteste ist die des exilierten Trotzki und seiner Anhänger, die im Stalinismus jedoch eher eine thermidorianische Reaktion als eine Konterrevolution sahen. Die weniger bekannte, aber weitaus kritischere, ist die unserer politischen Vorläufer in der Italienischen Kommunistischen Linken.

Ihr „Leninismus“ und unserer

Unsere Tendenz wurde oft beschuldigt, entweder zu "leninistisch" oder nicht "leninistisch" genug zu sein. Heute tendieren wir dazu, diese Bezeichnung nicht zu verwenden - sie schafft mehr Verwirrung als Klarheit. Die Kompromisse, die Lenin im Zusammenhang mit der Isolierung der Revolution verteidigt hat, werden im Namen des "Leninismus" sowohl von Lenins Gegnern als auch von seinen Epigonen eifrig verklärt. Letztere verwechseln den Umstand, dass ein Kompromiss durch die objektive Realität erzwungen werden kann, mit einem politischen Programm, das den Kompromiss zum Ausgangspunkt nimmt. Unsere GenossInnen, die die Partito Comunista Internazionalista mitten im Zweiten Weltkrieg gründeten, als der Klassenkampf in den Fabriken Norditaliens wieder auflebte, sahen das anders:

…der Lenin, der uns am meisten fasziniert und zum Nachdenken anregt, ist nicht der Taktiker Lenin, der an der Spitze des ersten proletarischen Staates geschickt zwischen den Fallstricken einer bürgerlichen Welt, eines grausamen Feindes, in Erwartung einer neuen revolutionären Welle, die er herannahen sah, manövrierte – auch wenn er eine wichtige Figur war. Es ist auch nicht der Lenin der NÖP, der Lenin des Kompromisses mit den noch überlebenden Kräften des russischen Kapitalismus, eines raffinierten und sehr gefährlichen Mittels, das er immer als schmerzhaften Rückzug, als Stillstand auf dem Weg der Revolution betrachtete. Lenin, unser Lenin, der Lenin der heutigen Situation, ist der Lenin der Aprilthesen und des Oktoberaufstandes. Und es ist dieser Moment in seinem Leben als Theoretiker, Politiker und Anführer, an den wir uns zwanzig Jahre nach seinem Tod erinnern wollen. (Lenin Oggi, Prometeo, 1. Februar 1944)

"Unser" Lenin lässt sich in drei Punkten zusammenfassen, die auch aufzeigen, wo wir kritisch auf seinen Erfahrungen anknüpfen.

  • Die Partei: Lenin bestand auf der Notwendigkeit einer politischen Organisation, die im Klassenkampf eine führende Rolle einnimmt. Die Bolschewiki wurden oft als eine homogene, dogmatische Partei dargestellt, aber das ist ein stalinistischer Mythos. Es war eine Organisation, die sich im Laufe der Zeit entwickelte und stets auf die sich ändernden Umstände reagierte.
  • Die Räte: Bereits 1905 spekulierte Lenin, dass sowohl die Partei als auch die Räte eine notwendige Rolle in der kommenden Revolution spielen würden. Er entwickelte diesen Gedanken 1917 weiter. Lenin verstand am besten, dass das Beste, was Sowjetrussland zu einem "ArbeiterInnenstaat" machte, die Existenz dieser Rätemacht war.
  • Internationalismus: Lenin verstand die internationalen Implikationen einer sozialistischen Revolution und kämpfte gegen chauvinistische, nationalistische und sozialpatriotische Tendenzen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung. Er war sich darüber im Klaren, dass der Kapitalismus in eine neue imperialistische Epoche eingetreten war und dass der imperialistische Krieg nur durch den revolutionären Klassenkampf für den Sozialismus bekämpft werden kann.

Lenin war ein einflussreicher „Parteiführer“, aber letztlich ein Parteimitglied wie jedes andere. Er sah sich mit Kritik konfrontiert, befand sich manchmal in der Minderheit und musste darum kämpfen, seine Ansichten durchzusetzen. Gawriil Miasnikow, der 1906 den Bolschewiki als junger Aktivist beitrat, beschrieb das Leben der Partei von ihren Anfängen bis 1921 mit den folgenden Worten:

Die Bolschewiki hatten keine Angst vor Kritik, Widerrede oder deren Folgen. Nieder mit allen Ikonen! Es gab kein Verbot der Kritik bei Kongressen, Konferenzen, Orts- oder Zentralkomitees. Ganz im Gegenteil! Die Bolschewiki hatten den Mut, die Ausübung eines umfassenden Rechts von Minderheiten zu schützen, Texte zu veröffentlichen, die sich gegen die Institutionen der Partei richteten, und versuchten so, den Kampf zu stärken, ihn frei zu halten von jeglicher Scharlatanerie, jeglichem Klatsch und jeglichem Skandal, ihn auf eine Ebene zu stellen, die einem Kampf der Überzeugungen entspricht. (...) Zwischen 1905 und 1917 durchlief diese bolschewistische Praxis den Schmelztiegel von drei Revolutionen. Die innere Struktur der Partei war streng an die lebendigen Kräfte der Revolution gebunden, und das führte zu den größten und glorreichsten Siegen, die die Welt je gesehen hat. (Miasnikow, Die letzte Täuschung, 1930)

Die Prämisse des Oktobers war immer die relativ schnelle Ausdehnung der Revolution außerhalb der Grenzen Russlands. Eine wirtschaftlich rückständige revolutionäre Bastion konnte kaum mehr tun, als zu versuchen die ArbeiterInnenklasse anderswo zu inspirieren:

…. die Sowjetmacht ist ein neuer Typus des Staates ohne Bürokratie, ohne Polizei, ohne stehendes Heer. (…) In Russland ist das eben begonnen und schlecht begonnen worden.(…) Wir müssen den europäischen Arbeitern konkret zeigen, was wir in Angriff genommen haben und wie es aufzufassen ist; das wird sie konkret auf die Frage bringen, wie man zum Sozialismus gelangt. Hier sollen sie sich konkret ansehen: Die Russen nehmen eine gute Sache in Angriff, und wenn sie es schlecht machen, so werden wir es besser machen. (…) Das ist der Grund weshalb wir glauben den Weg der Pariser Kommune fortzusetzen. Das ist der Grund, weshalb wir überzeugt sind, dass die europäischen Arbeiter nachdem sie diesen Weg beschritten haben werden, uns werden helfen können. Sie werden das, was wir tun, besser machen, wobei sich der Schwerpunkt vom formalen Gesichtspunkt auf die konkreten Bedingungen verschiebt.(Lenin, Referat über die Revision des Parteiprogramms und die Änderung des Namens der Partei)

Die Tragödie der Russischen Revolution bestand darin, dass diese Hilfe nie eintraf. Unter diesen Umständen begannen die Kommunistische Partei Russlands, die Dritte Internationale und Sowjetrussland selbst zunehmend, eine Not- und Behelfspolitik zu betreiben.

Die Bolschewiki haben gezeigt, dass sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht Wunder wirken wollen. Denn eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder. Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab’s gewagt! Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem `Bolschewismus´. (Rosa Luxemburg: Die Russische Revolution)

Der Keim für die Entartung des revolutionären Prozesses war von Anfang an vorhanden. Im März 1918 waren die Bolschewiki die einzige im Sownarkom vertretene Partei und erlangten in den nächsten Jahren eine zunehmende Dominanz über das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee (manchmal auch durch Wahlmanipulation), während die lokalen Sowjets ausgehöhlt wurden. In der Tat wurden die Bolschewiki zur einzigen Regierungspartei, und die Unterscheidung zwischen Partei und Staat verschwand zunehmend. 1922 erkannte Lenin, dass der Parteiapparat vom Regierungsapparat getrennt werden musste, aber die von ihm vorgeschlagenen Abhilfemaßnahmen wurden nie in die Tat umgesetzt und kamen ohnehin zu spät. Nur eine Wiederbelebung der Sowjetmacht hätte eine Wende herbeiführen können, was aber wiederum ein Wiederaufleben der revolutionären Welle erfordert hätte. Es wurden neue ideologische Rechtfertigungen erfunden, um die Situation zu erklären (Lenin argumentierte nun, die Diktatur des Proletariats könne nicht durch die gesamte Klasse ausgeübt werden, sondern nur durch ihre Avantgarde, d. h. die Partei; Trotzki kam später zu dem Schluss, dass es das verstaatlichte Eigentum sei, was Sowjetrussland zu einem "ArbeiterInnenstaat" machte).

In der Zwischenzeit hatte die Parteidemokratie während der Zeit des Bürgerkriegs erheblich gelitten, auch wenn sie durch die Einführung des Fraktionsverbots im März 1921 nicht sofort zum Erliegen kam. In den folgenden Jahren waren das Politbüro und das Parteisekretariat jedoch zu eigenständigen Organen geworden, die die Autorität des Parteitags und sogar des Zentralkomitees untergruben. Dadurch entstand eine Situation, in der die Macht im Wesentlichen in den Händen von Stalin und seiner Clique lag.

In Anbetracht dessen betonen wir immer wieder, dass die Internationale der Zukunft keine Regierung im Wartestand sein kann. Es ist die ArbeiterInnenklasse als Ganzes, die die neue Gesellschaft durch ihre kollektiven Machtorgane - wie bspw. die Räte - aufbaut, die sie im Laufe ihres Kampfes hervorbringt. Die Internationale muss ein Wegweiser für die breitere Bewegung sein, und in diesem Sinne versucht sie, sich in den kollektiven Machtorganen der Klasse Gehör zu verschaffen und Einfluss zu nehmen, aber sie kann sich nicht an die Stelle dieser Organe setzen oder sich in ihnen auflösen, wie es die Bolschewiki getan haben. Dies würde bedeuten, dass sie ihr Schicksal an eine revolutionäre Bastion bindet und aufhört, ein revolutionärer Bezugspunkt für die globale Bewegung zu sein, wenn diese revolutionäre Bastion den kapitalistischen Kräften erliegt.

Ein weiterer Streitpunkt, der heute von großer Bedeutung ist, ist Lenins Verteidigung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung. Dies wurde oft als Unterstützung für die nationale Selbstbestimmung als allgemeingültiges Prinzip verstanden. Er sprach sich jedoch gegen die nationale Selbstbestimmung in den Fällen aus, in denen sie seiner Meinung nach reaktionären Zielen diente, und formulierte die Frage folgendermaßen:

Aus dieser Einteilung folgt unsere konsequent demokratische, revolutionäre, der allgemeinen Aufgabe des sofortigen Kampfes für den Sozialismus entsprechende Auffassung vom `Selbstbestimmungsrecht der Nationen´. Im Namen dieses Rechtes, dessen aufrichtige Anerkennung der Sozialismus fordert, müssen die Sozialdemokraten der unterdrückenden Nationen die Freiheit der Absonderung für die unterdrückten Nationen fordern, - weil widrigenfalls die Anerkennung der Gleichberechtigung der Nationen und der internationalen Solidarität der Arbeiter tatsächlich nur eine hohle Phrase, nur eine Heuchelei bliebe. Die Sozialdemokraten der unterdrückten Nationen aber müssen die Forderung nach Einheit und Verschmelzung der Arbeiter der unterdrückten Nationen mit den Arbeitern der unterdrückenden Nationen als Hauptsache betrachten, - weil widrigenfalls diese Sozialdemokraten unwillkürlich zu Verbündeten dieser oder jener nationalen Bourgeoisie werden, die immer die Interessen des Volkes und der Demokratie verrät, die immer ihrerseits bereit ist, Annexionen zu machen und andere Nationen zu unterdrücken.

Die zweite Bedingung wird oft von vielen sog. "Leninisten" vergessen, die an der Vorstellung der "Einheits-" und "Volksfronten" der degenerierten Dritten Internationale anknüpfen und folglich kein Problem in Bündnissen mit der nationalen Bourgeoisie sehen. Wir für unseren Teil haben seit Lenins Zeiten gesehen, wie jeder nationale Krieg unweigerlich mit der imperialistischen Konkurrenz verflochten ist. Während Lenin argumentierte, dass nationale Kriege in der imperialistischen Epoche noch möglich seien, obwohl er wusste, dass sie sich auch in imperialistische Kriege verwandeln können, hat die Entwicklung des Kapitalismus Rosa Luxemburg und ihren GenossInnen recht gegeben:

Aus der Politik der imperialistischen Staaten und aus dem imperialistischen Kriege kann für keine unterdrückte Nation Freiheit und Unabhängigkeit hervorsprießen. Die kleinen Nationen, deren herrschende Klassen Anhängsel und Mitschuldige ihrer Klassengenossen in den Großstaaten sind, bilden nur Schachfiguren in dem imperialistischen Spiel der Großmächte und werden ebenso wie deren arbeitende Massen während des Krieges als Werkzeuge missbraucht, um nach dem Krieg deren imperialistischen Interessen geopfert zu werden.(Rosa Luxemburg, Leitsätze über die Aufgaben der Sozialdemokratie)

Wie wir immer wieder betonen, ist die Russische Revolution kein Modell, das man kopieren kann, sondern eine Lektion, aus der man lernen muss. Der Parteistaat, den sie schließlich hervorgebracht hat, hat ein Erbe hinterlassen, von dem sich die ArbeiterInnenbewegung bis heute nicht erholt hat. Und angesichts der Konterrevolution konnten nur wenige ihre Integrität unbeschadet bewahren, Lenin eingeschlossen. Aber in einer Zeit, in der wir wieder einmal von einer tödlichen Kriegsgefahr heimgesucht werden, auf einem Planeten, der durch das Profitstreben zerstört wird, wäre das beste Vermächtnis, das Lenin heute hinterlassen könnte, dass es künftige Generationen "besser machen" werden. So wie er sich einst von den ArbeiterInnen und RevolutionärInnen außerhalb Russlands erhoffte.(Dyibas)

Zum Weiterlesen:

Am Vorabend der Revolution: Die Debatte zwischen Lenin und Rosa Luxemburg: leftcom.org

Spontanität und Organisation in der Russischen Februarrevolution 1917: leftcom.org

Partei und Klasse in der revolutionären Welle von 1917-21: leftcom.org

Der Niedergang der Russischen Revolution und der Parteikult: leftcom.org

Die Georgienfrage: Lenins letzter Kampf gegen den großrussischen Chauvinismus: leftcom.org

Die Bolschewistische Linke und die Arbeitermacht: leftcom.org

1921: Beginn der Konterrevolution: leftcom.org

Stalinismus ist Antikommunismus: leftcom.org

Tuesday, January 30, 2024