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Startseite ›Radeks Thesen über den Imperialismus (1915)
Die Kriege, die der Kapitalismus jetzt entfesselt, und die, die noch kommen werden, sind ein Produkt der imperialistischen Epoche. Unser Verständnis davon, was Imperialismus bedeutet, basiert auf mehr als einem Jahrhundert an Erfahrungen und Überlegungen. Vieles davon verdanken wir den Revolutionären, die vor uns lebten, und in diesem Geiste haben wir den nachstehenden Text übersetzt, der inmitten des Ersten Weltkriegs verfasst wurde.
Diese Thesen wurden ursprünglich im September 1915 verfasst und in der Gazeta Robotnicza (Arbeiterzeitung), der Zeitung der "rozłamowcy"-Fraktion(1) der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen (SDKPiL), veröffentlicht. Sie wurden von Karl Radek, Mieczysław Broński-Warszawski und Władysław Stein-Krajewski unterzeichnet. Im April 1916 wurden sie im Vorboten, der deutschsprachigen Zeitung der Zimmerwalder Linken unter der Redaktion von Anton Pannekoek und Henriette Roland Holst, abgedruckt. Nachdem Lenin sie gelesen hatte, antwortete er mit einer ausführlichen Kritik, in der er sich für die nationale Selbstbestimmung aussprach und die im Oktober 1916 veröffentlicht wurde.(2) Das Ergebnis ihrer Differenzen war, dass der Vorbote nicht mehr erschien. Die Thesen der Gazeta Robotnicza wurden bereits zwar 1976 ins Englische übersetzt, sind aber unseres Wissens nirgendwo online verfügbar. Daher haben wir uns entschlossen, eine eigene Übersetzung anzufertigen, die sowohl auf dem polnischen Original als auch auf der deutschen Wiedergabe basiert.
Dieses Dokument ist nicht zu verwechseln mit den Thesen über das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Nikolai Bucharin im November 1915 verfasste und die von Georgi Pjatakow und Jewgenija Bosch mit unterzeichnet wurden.(3) Sie sind jedoch nicht unabhängig voneinander. Lenin machte in seiner Enttäuschung über Pjatakow und Bosch, die Bucharins Thesen unterzeichnet hatten, den Einfluss von Radek dafür verantwortlich:
Sie haben es nicht durchdacht. Sie haben es nicht gelesen. Sie haben es nicht studiert. Sie haben Radek zwei- oder dreimal zugehört (er hat die alte "polnische" Krankheit: er ist in dieser Hinsicht verwirrt) - und unterschrieben.
Mit der alten "polnischen" Krankheit war natürlich die Ablehnung des nationalen Selbstbestimmungsrechts gemeint. Diese Position wurde erstmals von Ludwik Waryński und seiner Partei "Proletariat" in den 1880er Jahren entwickelt und später von Rosa Luxemburg und der SDKPiL aufgegriffen.(4) Radek, Broński und Krajewski gehörten alle zu jener jungen Generation, die um die Jahrhundertwende zur sozialistischen Politik fand. Sie traten der SDKPiL bei und nahmen an der Revolution von 1905 teil. Angesichts der Repressionen zogen sie durch Europa und bauten ihre politischen Verbindungen aus. Während Broński und Krajewski begannen, eng mit Lenin und den Bolschewiki zusammenzuarbeiten, schloss sich Radek in Deutschland Pannekoek und der Bremer Linken an. Bereits 1912 argumentierte Radek, dass:
die Ursache anderer Fehler auf dem Gebiete des geistigen Lebens der Partei [liegt], das nicht Schritt hielt mit dem Tempo der kapitalistischen Entwicklung. […] Da der Sozialismus für weite Kreise der Partei keine „aktuelle“ Frage ist, kann er nicht als eine konkrete Antwort auf die imperialistischen Fragen gelten. Nicht Sozialismus als Gegenparole auf den imperialistischen Kriegsruf, sondern realpolitische Antworten werden gesucht.
Karl Radek, Unser Kampf gegen den Imperialismus, 1912
Für Radek und sein Umfeld war „die Ära der Massenkämpfe schon angebrochen“ und ebenso die „Gelegenheit von imperialistischen wie von wirtschaftlichen oder politischen Konflikten der Mächte der Reaktion mit der Arbeiterklasse“ wodurch „der Stein ins Rollen kommen kann". Zwei Jahre später brachte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs diesen Stein ins Rollen. Radek, Broński und Krajewski fanden sich im sicheren Hafen der Schweiz wieder, wo sie weiterhin die Gazeta Robotnicza herausgeben konnten. Da sie sowohl in der Theorie als auch in der Praxis Internationalisten waren, war es nur natürlich, dass sie sich der Zimmerwalder Linken anschlossen. Als die Februarrevolution kam, stellten sie sich alle auf die Seite der Bolschewiki. Während Krajewski im Juni 1916 nach Warschau zurückkehrte, begleiteten Radek und Broński Lenin auf jener berüchtigten Zugfahrt von Zürich nach Petrograd.(5) In den folgenden Jahren trugen Radek, Broński und Krajewski zum Prozess der Gründung kommunistischer Parteien in Polen und Deutschland bei und arbeiteten für die Kommunistische Internationale und die Russische Partei. Zu diesem Zeitpunkt gaben sie jedoch ihre frühere Position zur nationalen Frage auf (Radek wurde 1923 kurzzeitig zum Verfechter des "Nationalbolschewismus", was besonders erschreckend war). Schließlich kamen sie alle, nachdem sie sich in unterschiedlichem Maße an der antistalinistischen Opposition beteiligt hatten, bei den Säuberungen ums Leben.
Aber vor und während des Ersten Weltkriegs verteidigten sie ihre Position in der nationalen Frage, sogar gegen Lenin (mit dem sie ansonsten einer Meinung waren). Die Thesen von 1915 sind die vollständigste Darstellung ihrer damaligen Ansichten - Ansichten, die zu einem großen Teil immer noch die Realität beschreiben, in der wir uns heute befinden. Die Autoren sind sich darüber im Klaren, dass der Kapitalismus in die imperialistische Epoche eingetreten ist, was bedeutet, dass die Aufgabe des Proletariats nicht mehr "die Erweiterung, Ausdehnung des Kapitalismus, sondern seine Überwindung" ist. In dieser neuen historischen Periode sind "Berufungen auf die Stellung Marxens in den nationalen Fragen" nicht mehr relevant. Die Lösung der nationalen Unterdrückung liege nicht in der "Aufrichtung neuer und Wiederaufrichtung alter Nationalstaaten", sondern im vereinten Kampf der internationalen ArbeiterInnenklasse gegen das System als Ganzes. Sie sehen alles Gerede vom "Selbstbestimmungsrecht der Nationen" als Erbe der korrupten Zweiten Internationale, ein "Recht", das nicht nur in der imperialistischen Epoche nicht verwirklicht werden kann, sondern auch in der sozialistischen Gesellschaft (wo die Nation nicht mehr den "Charakter einer politisch-ökonomischen Einheit" haben wird) nicht anwendbar ist. Sie warnen davor, dass die Losung in der Praxis "die sozialrevolutionäre Perspektive“ ersetzt und zur Spaltung der ArbeiterInnenbewegung führt. Die Folge davon können wir heute sehen, da die Idee der Nation die Idee der Klasse bei einem Großteil der ArbeiterInnenklasse entthront hat (nur kleine revolutionäre Minderheiten halten noch an letzterer fest).
Wo die Thesen einen gewissen Spielraum für Zweideutigkeiten lassen und vielleicht Reste der Sprache der Zweiten Internationale aufweisen, ist der Bezug auf "demokratische Rechte" oder den "Kampf für die Demokratisierung der politischen Bedingungen noch im Rahmen des Kapitalismus". Es ist klar, dass, wie die Autoren sagen, "der Kampf für unmittelbare Forderungen" mit der "revolutionären Perspektive" verbunden werden muss, aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass dies nicht die Trennung des kommunistischen Programms in "minimale" und "maximale" Teile bedeuten kann, wie wir an anderer Stelle argumentiert haben.(6) In der Tat hat die Russische Revolution die Frage anders aufgeworfen, als die Verfasser der Thesen erwartet hatten - die "Niederringung des Zarismus" kam als Ergebnis des revolutionären Kampfes der ArbeiterInnenklasse zustande, der dort nicht aufhörte, und eine revolutionäre Nachkriegswelle wurde zunächst im "unterentwickelten" Osten und nicht im "reifen" Westen ausgelöst (wo das Proletariat, das noch unter dem reformistischen Einfluss dessen stand, was von der Zweiten Internationale übrig geblieben war, und einer mächtigeren Kapitalistenklasse gegenüberstand, nicht in der Lage war, die Macht zu übernehmen).
Nichtsdestotrotz stellen die Thesen ein wenig bekanntes Stück der internationalistischen Tradition dar, und die letzten Teile beleuchten, wie diese revolutionären Kämpfer aus einer "unterdrückten Nation" zu dem Schluss kamen, dass die nationale Selbstbestimmung keine Lösung sei.
Dyjbas und Tinkotka (Communist Workers‘ Organisation)Anmerkungen zur Einleitung:
(1) 1911 kam es in der SDKPiL zu einer Spaltung zwischen den "zarządowcy", die das von Luxemburg und Jogiches geführte Parteizentrum in Berlin unterstützten, und den "rozłamowcy", die persönliche, taktische und organisatorische Meinungsverschiedenheiten mit dem Zentrum hatten und den Bolschewiki näher standen. Diese Spaltung trug später zur so genannten "Radek-Affäre" bei - einem merkwürdigen Vorfall, bei dem Radek beschuldigt wurde, der Partei Mittel gestohlen zu haben, und 1912 vom Parteizentrum ausgeschlossen wurde (u. a. verteidigten Lenin und Pannekoek ihn). Was beide Fraktionen jedoch einte, war ihre Haltung zum Krieg, zur Revolution und zur nationalen Frage, die schließlich dazu beitrug, dass sich die SDKPiL im November 1916 wieder vereinigte.
(2) Wladimir I. Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (sites.google.com)
(3) Hier verfügbar, obwohl Bucharins Thesen trotz der Einleitung nie in den Seiten des Kommunist von 1915 veröffentlicht wurden. (libcom.org)
(4) Zu Waryński und Luxemburg siehe „Rosa Luxemburg and the Early Days of the Socialist Movement in Poland“ (leftcom.org)
(5) Allerdings wurde Radek die Einreise nach Russland verweigert und er musste in Stockholm aussteigen.
(6) Siehe „The Democratic Revolution – A Programme for the Past?“, Revolutionary Perspectives, Second Series 20 (files.libcom.org)
Karl Radek: Thesen der „Gazeta Robotnicza“ über Imperialismus und nationale Unterdrückung
Redaktion der „Gazeta Robotnicza“, Organ des Landesvorstandes der Sozialdemokratie Russisch-Polens. Abgedruckt aus „Vorbote“ Nr. 2, April 1916
I. Die nationale Unterdrückung und die internationale Sozialdemokratie
1. Der Imperialismus stellt die Tendenz des Finanzkapitals dar, über die Rahmen des Nationalstaates hinauszuwachsen, dem nationalen Kapital überseeische Rohstoff- und Lebensmittelquellen, Anlagesphären und Absatzmärkte zu erobern wie auch durch Zusammenschluss angrenzender, sich wirtschaftlich ergänzender Gebiete größere Staatskomplexe ohne Rücksicht auf die Nationalität ihrer Bewohner auch in Europa zu bilden. Diese letztere Tendenz wird auch durch militärische Gründe gestützt, da der Imperialismus durch Verschärfung der Gegensätze unter den Staaten Angriffs- und Sicherungsbedürfnisse in ihnen erzeugt.
Die Tendenzen der kolonialen und kontinentalen Annexionen des Imperialismus bedeuten die Vergrößerung und die Verallgemeinerung der nationalen Unterdrückung, die bisher nur in vereinzelten Nationalitätenstaaten existierte, wo dank den historischen und geographischen Gründen eine Nation über mehrere herrschte.
2. Diese nationale Unterdrückung widerspricht den Interessen der Arbeiterklasse. Dieselbe imperialistische Bürokratie, die das Organ der nationalen Unterdrückung ist, wird auch zur Trägerin der Klassenunterdrückung des Proletariats der eigenen Nation, sie wendet alle im Kampfe gegen die unterdrückten Völker gebrauchten Mittel gegen das kämpfende Proletariat der herrschenden Nation an. Was die Arbeiterklasse der unterdrückten Nation anbetrifft, so hemmt die nationale Unterdrückung ihren Klassenkampf nicht nur, indem sie ihre Organisationsfreiheit schmälert, ihr Kulturniveau herunterdrückt, sondern auch, indem sie in ihr Solidaritätsgefühle mit der eigenen nationalen Bourgeoisie erweckt. An Händen und Füßen gebunden, politisch durch den Nationalismus korrumpiert, wird das Proletariat der unterdrückten Nation zum wehrlosen Objekt der Ausbeutung und somit zum gefährlichen Konkurrenten (Lohndrücker, Streikbrecher) der Arbeiter der unterdrückenden Nation.
Die Einzwängung national fremder Teile in die Rahmen des siegreichen Staates schafft neue Kriegsherde, da der besiegte Staat die Wiedergewinnung dieser Teile erstreben wird, weil sie ihm wirtschaftlich und militärisch notwendig sind, oder weil die nationale Revanchephrase die imperialistische Politik des besiegten Staates am besten bemäntelt.
3. Die Sozialdemokratische Partei muss deshalb die Annexionspolitik des Imperialismus wie die ihr folgende nationale Unterdrückungspolitik aufs Energischste bekämpfen. Der Behauptung der Imperialisten, der Erwerb der Kolonien sei notwendig zur Entwicklung des Kapitalismus, stellt sie die Tatsache entgegen, dass in Mittel- und Westeuropa wie in den Vereinigten Staaten Nordamerikas die Zeit der Verwandlung des Kapitalismus in den Sozialismus schon gekommen ist, den Sozialismus, der keiner Kolonien bedarf, weil er den unentwickelten Völkern so viel an uneigennütziger Kulturhilfe zu bieten haben wird, dass er, ohne sie zu beherrschen, alles von ihnen im freien Austausch bekommen wird, was die sozialistischen Völker aus geographischen Gründen nicht imstande sein werden, selbst zu produzieren.
Nicht die Erweiterung, Ausdehnung des Kapitalismus, sondern seine Überwindung bildet die historische, jetzt schon erfüllbare Aufgabe des Proletariats. Der Behauptung, dass Annexionen in Europa notwendig sind zur militärischen Sicherung des siegreichen imperialistischen Staates und damit zur Sicherung des Friedens, stellt die Sozialdemokratie die Tatsache gegenüber, dass Annexionen die Gegensätze nur verschärfen, somit die Kriegsgefahr vergrößern. Aber würde dies auch nicht der Fall sein, so kann die Sozialdemokratie ihre Hand zur Schaffung eines Friedens, der auf der Unterdrückung der Völker basiert, nicht reichen. Denn würde sie einen solchen Frieden gutheißen, so würde sie einen Abgrund zwischen dem Proletariat der herrschenden und der unterdrückten Nationen auftun. Während das Proletariat der herrschenden Nation durch die Gutheißung der Annexionen für die imperialistische Politik verantwortlich würde, also sie weiter unterstützen und so zum Knecht des Imperialismus werden müsste, würde sich das Proletariat der unterdrückten Nation mit seiner Bourgeoisie verbinden, im Proletariat der herrschenden Nation den Feind sehen. An Stelle des internationalen Klassenkampfes des Proletariats gegen die internationale Bourgeoisie würde die Spaltung des Proletariats, seine geistige Korruption eintreten. Es würde in seinem Kampfe für die täglichen Interessen wie für den Sozialismus gegen den Imperialismus völlig gelähmt dastehen.
4. Der Ausgangspunkt des Kampfes der Sozialdemokratie gegen die Annexionen, gegen das gewaltsame Festhalten der unterdrückten Nationen in den Grenzen des annektierenden Staates bildet die Ablehnung jeder Vaterlandsverteidigung, die in der Ära des Imperialismus die Verteidigung der Rechte der eigenen Bourgeoisie auf Unterdrückung und Ausplünderung fremder Völker ist. Er besteht in der Denunzierung der nationalen Unterdrückung als eines Schlages gegen die Interessen des Proletariats der herrschenden Nation, in der Forderung für die unterdrückte aller demokratischen Rechte, die Freiheit der Agitation für die politische Absonderung eingeschlossen, denn die demokratischen Grundsätze erfordern, dass eine Agitation – mag sie sein, wie sie will – nur mit geistigen, nicht mit Gewaltmitteln bekämpft wird. Indem die Sozialdemokratie auf diese Weise jede Verantwortung für die Folgen der Unterdrückungspolitik des Imperialismus ablehnt, sie aufs Schärfste bekämpft, tritt sie keineswegs für die Aufrichtung neuer Grenzpfähle in Europa, für die Wiederaufrichtung der vom Imperialismus niedergerissenen ein. Wo der Kapitalismus sich ohne einen eigenen Staat entwickelt hat, dort hat eben die historische Entwicklung gezeigt, dass ein unabhängiger Staat keinesfalls eine absolute Vorbedingung zur Entfaltung der Produktivkräfte und Einführung des Sozialismus war. Wo über den schon gebildeten kapitalistischen Staat das Rad des Imperialismus zermalmend hinweggeht, dort vollzieht sich in den brutalen Formen der imperialistischen Unterdrückung die politische und ökonomische Konzentration der kapitalistischen Welt, die den Sozialismus vorbereitet. Auf ihre die Volksmassen durch nationale und ökonomische Unterdrückung aufrüttelnden Folgen gestützt, hat die Sozialdemokratie die Arbeitermassen der unterdrückten wie der unterdrückenden Nation zum solidarischen Kampfe zu erziehen, der allein imstande ist, die nationale Unterdrückung zusammen mit der ökonomischen Ausbeutung aufzuheben, indem er die Menschheit über den Imperialismus hinweg zum Sozialismus emporführt.
Wenn in den kapitalistisch entwickelten Ländern die Sozialdemokratie die Überwindung des Imperialismus nicht in der Rückkehr zu den alten Formen, in der Aufrichtung neuer und Wiederaufrichtung alter Nationalstaaten sehen kann, sondern unter dem Rufe: Die Grenzen weg! dem Sozialismus, für den die ökonomischen Verhältnisse hier schon reif sind, die Bahn freizumachen hat, so ergibt sich aus dieser ihrer Aufgabe auch die Forderung: Fort aus den Kolonien!, die unsern Kampf gegen die nationale Unterdrückung des Imperialismus krönt. Die Kolonien sind Quellen eines neuen Profitstroms für das Kapital, der sein Leben verlängern soll. Ja selbst physische Kraft sucht der Kapitalismus aus ihnen zu ziehen, indem er Eingeborenenheere bildet, die er einst ebenso gegen das revolutionäre Proletariat gebrauchen wird, wie er sie jetzt im Weltkrieg gegen seine Konkurrenten gebraucht. Dieser internationale Verzicht auf die koloniale Expansion, der vom Proletariat nur im revolutionären Kampfe errungen werden kann, wird keinesfalls einen Rückfall der entwickelten kapitalistischen Länder in die Barbarei bedeuten, wie es die Sozialimperialisten behaupten. In den wichtigsten Ländern des Orients (Türkei, China, Indien) ist seit Jahren ein Wachstum der bürgerlichen Elemente bemerkbar, die fähig sind, die dort noch dem Kapitalismus bevorstehende Aufgabe der Entwicklung der Produktivkräfte selbständig zu erfüllen. Indem die Sozialdemokratie den Verzicht auf die koloniale Expansion des europäischen Kapitalismus fordert, die gegen den europäischen Imperialismus gerichteten Kämpfe der jungen kolonialen Bourgeoisie zur Verschärfung der revolutionären Krise in Europa auszunützen hat, wird sie zwecks Beschleunigung des Moments, wo die Stunde des Sozialismus auch außerhalb Europas schlagen wird, in den kolonialen Ländern die proletarischen Kämpfe gegen das europäische und einheimische Kapital unterstützen, auch im kolonialen Proletariat die Einsicht zu verbreiten suchen, dass sein dauerndes Interesse nicht die Solidarität mit seiner nationalen Bourgeoisie, sondern mit dem europäischen, um den Sozialismus kämpfenden Proletariat erfordert.
5. Wie es auf dem Boden des Kapitalismus keine Möglichkeit gibt, den Imperialismus gemäß den Interessen der Arbeiter umzugestalten, seinen Rüstungen ein Ende zu bereiten, so kann er seiner Tendenz zur nationalen Unterdrückung nicht entkleidet, zur Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker nicht gebracht werden. Deswegen gilt es, den Kampf gegen die nationale Unterdrückung als einen Kampf gegen den Imperialismus, für den Sozialismus zu führen.
Um zum Ziele, zur Befreiung der national unterdrückten Massen zu führen, muss der Kampf der Sozialdemokratie sozialrevolutionär sein, die Vernichtung der Herrschaft des Kapitalismus erstreben. Denn nur, indem die Arbeiterklasse das kapitalistische Privateigentum aufhebt, hebt sie das Interesse an der nationalen Unterdrückung auf, die nur ein Teil der Klassenherrschaft ist. Die sozialistische Gesellschaft wird keine Unterdrückung kennen, sie wird allen Völkern das Recht der gemeinsamen Entscheidung über alle ihre Bedürfnisse verleihen, die Freiheit der Mitbestimmung jedes Bürgers darüber, was er mit auszuführen hat.
Die Hinleitung des Kampfes gegen die nationale Unterdrückung in den breiten Strom des revolutionären Massenkampfes um den Sozialismus bedeutet keine Verlegung dieses Kampfes auf eine ungewisse Zeit, kein Vertrösten der unterdrückten Völker auf die Zukunft, da die aufreizenden, umwälzenden Folgen der imperialistischen Epoche sie gleichzeitig zu der Ära der sozialistischen Revolutionen machen, in denen das Proletariat alle Ketten bricht.
II Das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen
Als Erbstück der II. Internationale verblieb die Formel des Selbstbestimmungsrechts. In der II. Internationale spielte sie eine zweideutige Rolle: einerseits sollte sie einen Protest gegen jede nationale Unterjochung, anderseits die Bereitschaft der Sozialdemokratie zur „Verteidigung des Vaterlandes“ ausdrücken. Auf einzelne nationale Fragen wurde sie angewandt, nur um der Untersuchung ihres konkreten Inhalts, ihrer Entwicklungstendenzen, aus dem Wege zu gehen. Während die Folgen der Politik der Vaterlandsverteidigung im Weltkrieg den konterrevolutionären Charakter dieser Formel in der Ära des Imperialismus mit voller Klarheit aufzeigen, bleibt ihr irreführender Charakter, als einer Formel, die unseren Kampf gegen die nationale Unterdrückung zusammenfassen soll, vielen noch unklar. Da sie den Gegensatz zu den imperialistischen Unterdrückungstendenzen scharf ausspricht, sehen in ihr auch revolutionäre Sozialdemokraten (z. B. die Russlands) eine notwendige Zubehör unserer revolutionären Agitation. Indem wir voll die proletarisch-revolutionären Ziele würdigen, die sie mit der Propaganda der Losung des Selbstbestimmungsrechtes verfolgen, können wir jedoch diese Formel nicht als richtigen Ausdruck unseres Kampfes gegen den Imperialismus anerkennen. Hier die Gründe:
1. Das Selbstbestimmungsrecht ist in der kapitalistischen Gesellschaft unverwirklichbar.
Die modernen Nationen stellen die politisch-kulturelle Form der Herrschaft der Bourgeoisie über die Volksmassen derselben Sprache dar. In Klassen gespalten, besitzen die Nationen keine gemeinsamen Interessen und keinen gemeinsamen Willen. Die „nationale“ Politik ist die, die den Interessen der herrschenden Klassen entspricht. Dem widerspricht keinesfalls das Bestehen der politischen Demokratie in einzelnen kapitalistischen Ländern. Der Einfluss der ökonomischen Herrschaft des Kapitals auf die Volksmassen, ihre systematische dauernde Bearbeitung durch alle Organe des kapitalistischen Staates (Kirche, Schule, Presse) erlaubt der Bourgeoisie, der Mehrheit des Volkes den kapitalistischen Willen auf Umwegen aufzudrängen, den Willen des Kapitalismus als den des Volkes erscheinen zu lassen. Darin besteht die moderne Demokratie! In den Beziehungen der Nationen zueinander entscheidet das Interesse der stärkeren Bourgeoisie oder eines Bündnisses mehrerer ihrer nationalen Gruppen. Da das Kapital mit seiner Expansion nicht warten kann, bis es in den Gebieten dieser Expansion durch wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss, der Jahrzehnte dauern müsste, den Volksmassen seinen Willen aufdrängen könnte, da einer solchen friedlichen Expansion oft der entgegengesetzte Wille anderer kapitalistischer Gruppen entgegensteht und sie unmöglich macht, sind in den Fragen der Angliederung der fremden Gebiete die Formen der politischen Demokratie ausgeschaltet, die offene Gewalt entscheidet. Das Referendum kann hier nur als offener Betrug angewendet werden zur Sanktionierung der Taten der Gewalt. Darum ist es völlig unmöglich, auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft den Willen der Nationen zum entscheidenden Faktor in den Fragen der Grenzänderung zu machen, wie es das sogenannte Selbstbestimmungsrecht fordert.
Insoweit diese Forderung so gedeutet wird, als solle ein einzelner Teil einer Nation über die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Staate selbst entscheiden, so ist sie nicht nur utopisch – weil das Kapital niemals die Entscheidung über seine Staatsgrenzen dem Volke überlassen wird –, sondern auch partikularistisch, undemokratisch. Hätten die Volksmassen eines Landes die Entscheidung über seine Grenzen in ihren Händen, so müssten sie sie im ganzen Staate, nicht in einer Provinz fällen, ja wo es sich um Streitfragen zweier Länder handelt, erforderte die Demokratie eine Verständigung ihrer demokratisch gewählten Vertretungen darüber. Wenn zum Beispiel die Angliederung Elsass-Lothringens an Frankreich dort eine nationale Frage aufkommen ließe – die Bestrebungen des zu dem deutschen Reiche sich zurücksehnenden Teils der Bevölkerung –, wenn sie eine Revanchegefahr in Deutschland aufkommen, also Frankreich mit neuen Kriegen bedrohen würde, so ist es klar, dass es keinesfalls demokratisch wäre, alle diese Folgen dem französischen Volke aufzubürden, ohne dass es darüber zu entscheiden hätte, nur auf Grund des Willens der Elsässer.
2. Das Selbstbestimmungsrecht ist auf die sozialistische Gesellschaft unanwendbar
Das sogenannte Selbstbestimmungsrecht wird auch gebraucht mit dem Hinweis, dass es erst im Sozialismus verwirklicht werde und somit unser Streben zum Sozialismus ausdrücke. Dagegen ist folgendes einzuwenden. Wir wissen, dass der Sozialismus jede nationale Unterdrückung aufheben wird, weil er die Klasseninteressen aufhebt, die zu ihr treiben. Wir haben auch keinen Grund, anzunehmen, dass der Nation in der sozialistischen Gesellschaft der Charakter einer wirtschaftlich-politischen Einheit zukommen wird. Nach aller Voraussicht wird sie nur den Charakter einer Kultur- und Spracheinheit haben, da die territoriale Einteilung des sozialistischen Kulturkreises, insoweit eine solche bestehen wird, nur nach den Bedürfnissen der Produktion erfolgen kann, wobei über diese Einteilung dann natürlich nicht einzelne Nationen abgesondert, aus eigener Machtvollkommenheit, zu entscheiden (wie es das „Selbstbestimmungsrecht" fordert), sondern alle interessierten Bürger mitzubestimmen hätten. Die Übertragung der Formel des „Selbstbestimmungsrechtes“ auf den Sozialismus besteht in einer vollkommenen Verkennung des Charakters des sozialistischen Gemeinwesens.
3. Die taktischen Folgen der Anwendung der Formel vom Selbstbestimmungsrecht.
Wie jede utopische Losung, so muss auch diese falschen Begriffe über den Charakter der kapitalistischen wie der sozialistischen Gesellschaft verbreiten und das gegen die nationale Unterdrückung kämpfende Proletariat irreführen. Statt ihm offen zu sagen, dass es sich von der Gefahr der willkürlichen Bestimmung seiner Geschicke nach den militärischen und wirtschaftlichen Interessen des durch Gegensätze zerrissenen Kapitalismus ebenso wenig befreien kann, wie von den Gefahren der Kriege, ohne den Kapitalismus abgeschafft zu haben, erweckt sie unerfüllbare Hoffnungen auf die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus an die nationalen Interessen der schwachen Völker. So setzt diese Losung unabhängig, ja selbst gegen den Willen ihrer Verkünder, an die Stelle der sozialrevolutionären Perspektive, dieses wichtigen Resultats des Weltkrieges, eine national-reformistische. Im Programm des Proletariats der unterdrückten Nationen würde die Losung des Selbstbestimmungsrechtes als Brücke zum Sozialpatriotismus dienen können. Wie es die Erfahrung der polnischen, ruthenischen, der elsässischen Arbeiterbewegung zeigt, dient diese Losung als Argument für die nationalistischen Bewegungen in der Arbeiterklasse, für die Hoffnungen auf eine der kriegführenden Parteien, wodurch die internationale Front des Proletariats durchbrochen wird.
Im Programm des Proletariats der unterdrückenden Nationen aufgenommen, als Lösung der nationalen Frage dargestellt, gibt sie den Sozialimperialisten die Möglichkeit, durch den Beweis des illusionären Charakters dieser Losung unsern Kampf gegen die nationale Unterdrückung als historisch unberechtigte Sentimentalität darzustellen und so das Vertrauen des Proletariats in die wissenschaftliche Fundiertheit des sozialdemokratischen Programms zu untergraben. Ja sie könnte in ihm die Illusion erwecken, als habe es schon im Gegensätze zum Proletariat der unterdrückten Nationen die Selbstbestimmung über seine Geschicke und sei deswegen verpflichtet, zusammen mit anderen Teilen der Nation ihre „gemeinsamen“ Interessen, ihren Willen zu verteidigen. Sollte aber die Losung des Selbstbestimmungsrechtes als eine erst in der sozialen Revolution zu verwirklichende, also in den Kampf um den Sozialismus uns hinüber leitende agitatorisch benützt werden, dann ist sie – abgesehen von der Unmöglichkeit der Selbstbestimmung einer abgesonderten nationalen Gruppe der Bürger der sozialistischen Gesellschaft über die allgemeine Interessengesamtheit – nicht genügend. Denn unser taktisches Interesse erfordert in der Übergangszeit, wo der Sozialismus ökonomisch schon möglich ist, aber sozialrevolutionäre Klassenkämpfe noch nicht begonnen haben, die scharfe Hervorhebung der klaren, durch nichts verhüllten Losung des Sozialismus, der sozialistischen Revolution, als der zentralen, jeden unseren Teilkampf ausweitenden, verschärfenden Idee.
4. Historisches zur Beurteilung der Frage.
Irgendwelche Berufungen auf die Stellung Marxens in den nationalen Fragen in der Zeit 1848-1871 haben nicht den geringsten Wert, denn wenn Marx für die Befreiung Irlands und die Unabhängigkeit Polens eintrat, so trat er gleichzeitig gegen die Selbständigkeitstendenzen der Tschechen, Südslawen usw. ein. Umgekehrt zeigt eben die Stellungnahme Marxens, dass es nicht die Aufgabe des Marxismus ist, die Haltung zu konkreten Fragen durch abstrakte „Rechte“ zu formulieren. Die negative Stellungnahme der Sozialdemokratie zu jeder nationalen Unterdrückung ergibt sich, wie wir im ersten Teil unserer Thesen bewiesen haben, aus der Unvereinbarkeit der Klasseninteressen des Proletariats mit der Unterstützung der herrschenden Klassen. Die positive Stellungnahme zu jedem konkreten nationalen Problem (die elsass-lothringische, die polnische, die Balkanfrage) kann erfolgen nur auf Grund der konkreten Entwicklungstendenzen dieser Frage selbst in den Rahmen der ganzen imperialistischen Epoche.
Die Kennzeichnung des gegen die Formel des Selbstbestimmungsrechtes gerichteten marxistischen Standpunktes als eines proudhonistischen ist widersinnig. Der Proudhonismus negierte die nationalen Fragen und wollte alle sozialen Fragen nicht auf dem Wege des Klassenkampfes, sondern der kleinbürgerlichen Assoziation lösen. Die marxistischen Gegner des sogenannten Selbstbestimmungsrechtes negieren die nationalen Fragen nicht, sie verschieben den Kampf gegen die nationale Unterdrückung nicht bis zum Sieg des Sozialismus. Während sie vom Vorwurf des Proudhonismus keinesfalls getroffen werden können, so kann man dagegen die Methode der Anhänger des Selbstbestimmungsrechtes als die der schablonenhaften Anwendung demokratischer Begriffe kennzeichnen.
5. Die polnische Sozialdemokratie und die Frage des sogenannten Selbstbestimmungsrechtes.
Die Sozialdemokratie Russisch-Polens hat ihre Stellungnahme zur Polenfrage auf Grund der Analyse der Tendenzen der wirtschaftlichen Entwicklung Polens im Jahre 1893 vollzogen. Die folgenden zwanzig Jahre der Geschichte Polens haben diese Analyse vollkommen bestätigt, zuletzt indem weder in der Revolution 1905/06 noch in dem Weltkriege irgendwelche ernste soziale Schichten Unabhängigkeitsbestrebungen in Polen bekundeten. Sie lehnte die Losung des Selbstbestimmungsrechtes ab, als der Internationale Kongress in London im Jahre 1896 sie aufstellte, um der Stellungnahme zur konkreten Losung der polnischen Sozialpatrioten, die den Kampf um die Unabhängigkeit Polens auf ihre Flagge geschrieben haben, auszuweichen. Nachdem die Selbstbestimmungsphrase zum Deckmantel des Sozialpatriotismus wurde, kämpften die Vertreter der polnischen Sozialdemokratie dagegen, dass sie ins Programm der russischen SD im Jahre 1903 aufgenommen werde. Obwohl das letzte geschah, trat die Sozialdemokratie Russisch-Polens in die Gesamtpartei im Jahre 1906 ein, als einerseits unser vollkommener Sieg über den Sozialpatriotismus die Gefahr seiner Berufung auf diesen Programmpunkt der russischen SD minderte und der revolutionäre Massenkampf einen Zusammenschluss der Reihen trotz aller Meinungsunterschiede gebieterisch forderte. Sie konnte es desto eher tun, weil dieser Punkt in der Agitation der russischen SD während der Revolution nicht die geringste Rolle spielte, wir eigene Vertreter in den Zentralorganen der Partei hatten und uns der weitesten Autonomie in der Agitation erfreuten. Als in der Ära der Konterrevolution die nationalen Fragen in Russland eine große politische Bedeutung bekamen und im Zusammenhänge damit die Diskussion über die Stellung der Sozialdemokratie zu ihnen begann, haben die Sozialdemokraten Russisch-Polens ihren Standpunkt zu diesen Fragen ausführlich dargelegt.
Diese Stellungnahme haben wir im Allgemeinen in diesen unsern Thesen begründet und entwickelt. Ihre Anwendung auf die Polenfrage haben wir in einer besonderen Resolution im September 1915 gegeben, die wir hiermit anführen, um konkret zu zeigen, wie nach unserer Meinung die Agitation vom sozialrevolutionären Standpunkt unter den Arbeitern unterdrückter Nationen zu führen ist.
III. Die Polenfrage und die Sozialdemokratie
1. Die Haltung der besitzenden Klassen während des Weltkrieges bewies mit voller Klarheit die Richtigkeit der Behauptung der Sozialdemokratie Russisch-Polens, dass die kapitalistische Entwicklung die Interessen des polnischen Kapitalismus in entgegengesetzte Teile zerschlagen und sie mit den Interessen der Aufteilungsmächte verbunden hat. Diese Begrabung der Unabhängigkeitsbestrebung fand ihren Ausdruck in dem bewussten Verzicht auf die Unabhängigkeitslosung seitens der polnischen Bourgeoisie: alle ihre Kriegsprogramme sollen nicht nur durch die Waffengewalt des einen oder des andern imperialistischen Lagers verwirklicht werden, sondern sie erstreben die Stärkung eines dieser Lager durch die Vereinigung der polnischen Gebiete in ihm. Alle Kriegsprogramme der polnischen Bourgeoisie sind gegen die Unabhängigkeit Polens gerichtet.
Der Weltkrieg hat bewiesen, dass die Periode der Bildung der Nationalstaaten in Europa vorüber ist. In der imperialistischen Periode des Kapitalismus strebt jeder Staat zur Ausbreitung seiner Grenzen vermittels der Annexionen und der Unterdrückung fremder Völker. Die Haltung der polnischen Bourgeoisie in allen Aufteilungsstaaten hat es krass gezeigt, dass das Ideal des Nationalstaates in der imperialistischen Periode ein Anachronismus ist, und sie bestätigt die Richtigkeit der Haltung der Sozialdemokraten Russisch-Polens den Unabhängigkeitsbestrebungen gegenüber.
Das polnische Proletariat hat niemals die nationale Unabhängigkeit zu seinem Ziel gemacht. Es entstand auf dem Boden der kapitalistischen Vereinigung aller drei Teile Polens mit den Aufteilungsmächten und führte seinen Kampf um die Demokratie, um Besserung seiner ökonomischen Lage, um den Sozialismus in den Rahmen der historisch gegebenen Staaten gemeinsam mit den Proletariern aller andern Nationen. Es suchte nicht die gegebenen staatlichen Rahmen, sondern den Charakter des Staates als Organ der Klassen- und nationalen Unterdrückung zu vernichten. Heute wäre angesichts der Erfahrungen des Weltkrieges die Aufstellung der Losung der Unabhängigkeit als des Mittels des Kampfes gegen die nationale Unterdrückung nicht nur eine schädliche Utopie, sondern die Verleugnung der einfachsten Grundsätze des Sozialismus. Diese Losung würde das Bestreben zur Bildung einer neuen imperialistischen Macht bedeuten, einer Macht, die auch nach Unterjochung und Unterdrückung fremder Völker strebt. Das einzige Resultat eines solchen Programms wäre die Schwächung des Klassenbewusstseins, die Verschärfung der nationalen Gegensätze, die Spaltung der Kräfte des Proletariats und Stärkung der neuen Kriegsgefahren.
2. Die Programme der Vereinigung der polnischen Gebiete unter der Herrschaft eines der imperialistischen Staaten oder ihrer Koalition, ein Programm, wie es die polnischen Austro- und Russophilen aufstellen, entspringen bei der polnischen Bourgeoisie aus dem Willen, ihre eigene Position der Bourgeoisie der Aufteilungsmächte gegenüber zu stärken, um sich einen größeren Anteil an der imperialistischen Beute des Staates zu sichern.
Bei den Aufteilungsmächten entspringt die Tendenz zur Vereinigung der polnischen Gebiete strategischen wie auch allgemein-imperialistischen Interessen, die eine Vergrößerung des Staatsgebietes erfordern. Geboren aus den imperialistischen Interessen der polnischen wie der in den Aufteilungsstaaten herrschenden Bourgeoisie, könnte die Vereinigung der polnischen Gebiete unter der Herrschaft einer Großmacht oder einer Koalition der Großmächte nur ein Instrument der imperialistischen Politik sein. Da diese imperialistischen Interessen, die allgemeinen wie besonders die wirtschaftlichen, erfordern, dass die polnischen Gebiete in voller Unterwürfigkeit erhalten werden, lassen sie ein demokratisches System in diesen Gebieten nicht zu. Es kann deshalb keine Rede sein, dass solch eine Vereinigung auch die minimalen Garantien der freien kulturellen Entwicklung gebe, dieser einzigen Seite der nationalen Frage, die mit den Interessen des Proletariats verbunden ist.
Ob der Krieg zur Vereinigung der polnischen Gebiete in einen Organismus führen wird, der mit dem siegreichen Staate verbunden sein wird, das wird von dem militärischen Resultat des Krieges und der von ihm herbei geführten diplomatischen Situation abhängen. Der Krieg kann auch mit der Zerschlagung der polnischen Gebiete durch neue Annexionen, mit der neuen Zerschneidung der polnischen Karte enden. Zwar sind die Befürchtungen, als ob diese neuen Aufteilungen und die durch sie verursachten Änderungen der Markt-, Zoll- und Rechtsbedingungen die kapitalistische Entwicklung Polens und somit die sozialistische Bewegung Russisch-Polens erdrosseln könnten, übertrieben: der verhältnismäßig hohe Grad der wirtschaftlichen Entwicklung Polens hat schon Produktionskräfte erzeugt, die sich den neuen Bedingungen anpassen können, und die Schwächung der sozialistischen Bewegung in einem Teil Polens würde durch ihre Stärkung in einem andern wettgemacht werden. Trotzdem würde die Notwendigkeit einer solchen Anpassung eine lange ökonomische Krise verursachen, die mit ihrer ganzen Last sich auf den Rücken des Proletariats legen würde.
Das oben Gesagte bezieht sich auch auf die Idee eines unabhängigen Pufferstaates, der, nebenbei gesagt, eine hohle Utopie kleiner, ohnmächtiger Gruppen ist. Verwirklicht, würde diese Idee die Schaffung eines kleinen polnischen Rumpfstaates bedeuten, der die Militärkolonie einer oder einer anderen Großmächtegruppe, ein Spielball ihrer militärischen und wirtschaftlichen Interessen, ein Ausbeutungsgebiet des fremden Kapitals, ein Schlachtfeld der zukünftigen Kriege wäre.
3. Daraus folgt, dass die Interessen des Proletariats – die ökonomischen, kulturellen wie politischen – jede Unterstützung der Kriegsprogramme der polnischen Bourgeoisie ausschließen. Die alte proletarische Politik, die durch das Klasseninteresse des Proletariats bestimmt war, muss unverändert bleiben, und die Arbeiterklasse hat nicht die geringste Ursache, sie zugunsten der bürgerlichen Kriegsprogramme zu verlassen. Durch keinen reellen Nutzen begründet, würde die Unterstützung dieser Programme den Verzicht auf die selbständige Klassenaktion, das Eingehen eines Bündnisses mit der Bourgeoisie für die ganze Kriegszeit bedeuten und müsste schließlich für lange Jahre die Taktik des Proletariats aus der richtigen Bahn bringen. Auf der andern Seite kann das Proletariat die Verteidigung der Grenzen der Aufteilungsstaaten nicht übernehmen, weil in der heutigen Epoche jeder kapitalistische Staat zum Hemmschuh der Entwicklung würde, gar nicht davon gesprochen, dass die Aufteilungsmächte für das polnische Proletariat nicht nur Organe der Klassen-, sondern auch der nationalen Unterdrückung waren.
Ohne die Augen für all die oben aufgezeigten Gefahren zu schließen, die für das polnische Proletariat im Falle der neuen Zerklüftung Polens entstehen, muss das Proletariat sich darüber Rechenschaft geben, dass sie sich in den Rahmen der imperialistischen Epoche nicht beseitigen lassen, wie man alle anderen Gefahren des Imperialismus ohne Sieg des Sozialismus nicht beseitigen kann.
4. Die Unlösbarkeit der allgemeinen, durch den Krieg aufgerollten Fragen wie die Unmöglichkeit der fruchtbaren Verteidigung der national-kulturellen Interessen des polnischen Proletariats in der Epoche des Imperialismus bedeutet natürlich nicht, als ob das Proletariat mit verschränkten Armen auf den Sozialismus als auf Befreiung von den neuen Gefahren und Lasten des Krieges wie der neuen Gefahren der nationalen Unterdrückung „warten“ müsste. Der Imperialismus ist eine Politik des Kapitalismus auf einer Entwicklungsstufe, die die sozialistische Organisation der Produktion ermöglicht. Die Opfer, die das Proletariat dem Kriege bringt, die Vermehrung des Steuerdruckes, die politische Reaktion, die Verschlechterung der Arbeitslage, all die Kriegsfolgen werden das Proletariat zu revolutionären Kämpfen um den Sozialismus drängen, die die nächste historische Epoche ausfüllen werden. Der Kampf gegen den Krieg eröffnet diese neue Epoche. Indem wir dem Proletariat zeigen, wie der Kapitalismus, der im Namen seiner Interessen die Völker auf die Schlachtbank führt, die Nationen in Stücke reißt, die nationalen Bedürfnisse mit Füßen tritt, die Volksmassen wie stummes Vieh behandelt, indem wir gegen dieses Vergeuden des Volksblutes, dieses willkürliche Zerreißen der Nationen unter die Großmächte, dieses Verdoppeln der nationalen Unterdrückung protestieren, bereiten wir das Proletariat zum revolutionären Kampfe vor.
Unabhängig davon, ob die Verschärfung der politischen Krise dem Proletariat schon während des Krieges erlaubt, eine aktive Rolle zu spielen, oder ob es zu diesen Kämpfen erst später kommen wird, wird das Proletariat keine separatistische Politik treiben (Verteidigung des Status quo, Kampf um Vereinigung unter einer Herrschaft) noch wird es dem Traumgebilde der Unabhängigkeit Polens nachjagen: seinen Protest gegen die Kriegsfolgen (Blutopfer, ökonomische Schäden, Annexionen, die nationale Unterdrückung) wird es in den Kampf gegen die Ursachen des Imperialismus verwandeln. Diesen Kampf im Sinne eines bewussten Strebens zur sozialen Revolution wird das polnische Proletariat solidarisch mit dem internationalen Proletariat überhaupt, mit dem der Aufteilungsmächte im Besonderen führen. Dieser sozialrevolutionäre Kampf schließt keinesfalls das Bestreben zur Demokratisierung der politischen Bedingungen noch im Rahmen des Kapitalismus, wie z. B. in Russland zur Niederringung des Zarismus, er schließt die Eroberung nationaler Freiheiten, wie z. B. der Erweiterung der lokalen, provinziellen und Landesautonomie nicht aus. Umgekehrt müssen die revolutionären Aussichten den Elan des Proletariats im Kampfe um sofortige Errungenschaften verstärken, denn das Bewusstsein, dass nur die soziale Revolution den Weg zur vollkommenen Aufhebung der Klassen- wie nationalen Unterdrückung bildet, wird das Proletariat gegen jede Politik des Kompromisses wappnen, die die Wucht des Klassenkampfes mindert.
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