Trotzkis Übergangsprogramm und die sog. „Vierte Internationale“

Im letzten Teil unserer Artikelreihe haben wir uns mit Trotzkis Einschätzung des Stalinismus auseinandergesetzt. (leftcom.org) Trotzkis Konzeption eines „degenerierten Arbeiterstaates“, der nach einer ausschließlich politischen Revolution wieder sozialistisch werden könnte, machte nicht nur deutlich, dass er vom Wesen des Kapitalismus wenig begriffen hatte, sondern auch von einem marxistischen Verständnis des Sozialismus meilenweit entfernt war. Als er 1938 das Programm der Vierten internationale „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale“ (besser bekannt unter dem Namen „Übergangsprogramm“) veröffentlichte, trat dies umso deutlicher zutage. Wenn wir uns mit diesem Programm auseinandersetzen wollen müssen wir uns zunächst mit der Frage der Methode beschäftigen. Von heutigen Trotzkisten wird oft (auf er Basis einer oberflächigen Lektüre von Isaak Deutscher) behauptet, dass Trotzki Lenins politischer Erbe sei.

Im Unterschied zu Lenin tendierte Trotzki jedoch dazu historische Situationen und den Kapitalismus in Kategorien zu analysieren, die er später nie mehr infrage stellte. Wenn neue Ereignisse seine Analysen widerlegten, legte er sie sich so lange zurecht, bis sie zu seinen vorherigen Schlussfolgerungen passten, anstatt auf marxistischer Grundlage eine Neubewertung vorzunehmen und gegebenenfalls bestimmte Kategorien zu korrigieren oder revidieren. Wir haben schon gesehen, wohin diese Methode bei seiner Analyse des Stalinismus führte. Erinnern wir uns daran, dass er zunächst argumentierte, dass Russland ein „Arbeiterstaat“ sei, weil das Proletariat die Macht innehabe und das Argument der proletarischen Eigentumsverhältnisse (das Staatseigentum an Produktionsmitteln) erst hinzugezogen wurde, als die erste Behauptung offenkundig lächerlich geworden war.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg der russische Imperialismus die Länder Osteuropas unter seine Herrschaft brachte, kamen Trotzkis Epigonen in der Vierten Internationale (Michel Pablo, Ernest Mandel, Ted Grant, James Cannon usw.) in bester Tradition ihres Mentors zu der Schlussfolgerung, dass die neuen entstandenen Regime „Arbeiterstaaten“ sein müssten, obwohl die ArbeiterInnenklasse dort nie die Macht innegehabt und auch keine ArbeiterInnenrevolutionen stattgefunden hatten. Die neuen Regime waren reine Schöpfungen der stalinistischen Bürokratie, was die Trotzkisten zu der Schlussfolgerung führte, dass die „proto-kapitalistische Bürokratie“ zuweilen auch „fortschrittlich“ agieren könne und in der Lage sei „Arbeiterstaaten“ zu erschaffen. Um die Fiktion eines „degenerierten Arbeiterstaates“ in Russland beizubehalten wurde eine weitere Verbalhornung des Marxismus eingeführt: Die Kategorie der sog. „deformierten Arbeiterstaaten“ in Osteuropa. Die Theorie der „permanenten Revolution“, nach der in den „rückständigen Ländern“ die ArbeiterInnen und Bauern die Aufgaben der nationalen Bourgeoisen durchführen müssten, da letztere dazu zu schwach seien, wurde ebenso beibehalten, wie die Theorie einer permanenten Krise des Kapitalismus. All diese Theorien bildeten die Grundpfeiler von Trotzkis politischen Bezugsrahmens und wurden daher als allgemein gültig angesehen. Anstatt diese Theorien angesichts ihrer offenkundigen Widersprüche infrage zu stellen, wurden sie von Trotzki methodologisch zementiert, was jedoch darauf hinauslief, sich vom politischen Terrain der ArbeiterInnenklasse zu verabschieden.

Trotzkis Bekräftigung der Theorien der „permanenten Krise“ und der „permanenten Revolution“ verkamen letztendlich zu oberflächlichen Phrasen, was jedoch seine Unfähigkeit die gesellschaftlichen Verhältnisse des modernen Kapitalismus und die daraus resultierenden politischen Aufgaben grundlegend zu analysieren, nicht kaschieren konnte. Die im „Übergangsprogramm“ entwickelte richtige Feststellung, dass der Kapitalismus seine historische Mission erfüllt habe, wurde durch Trotzkis analytische Unbedarftheit vollkommen ad absurdum geführt. Die führte letztendlich zur Entwicklung von politischen Perspektiven, die politisch gesehen, wieder zurück zum Programm der alten Sozialdemokratie führten. Trotzkis Schwächen wurden besonders auf dem Feld der ökonomischen Analyse offensichtlich.

So behauptete Trotzki bspw. in der Einleitung des „Übergangsprogramms“, dass „die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren“ würden. Das mag in den 30er Jahren gestimmt haben, kann aber heute durch jede einfache Statistik widerlegt werden. So hat sich bspw. das Bruttosozialprodukt der Vereinigten Staaten (um gar nicht erst vom westlichen Kapitalismus als Ganzem zu reden) um ein Vielfaches vergrößert. Dies allein genügt schon, um die Allgemeingültigkeit von Trotzkis Behauptung zurückzuweisen. Doch viele schwerwiegender wirkte sich seine Unfähigkeit aus, die Dynamik der Bewegungen des Kapitals zu verstehen. Der Kapitalismus kann, wie Marx mehrfach hervorhob, „nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.“ (Kommunistischen Manifest)

Auch in der Epoche des Imperialismus, der Ära des Niedergangs des Kapitalismus ändert sich daran nichts. Der periodisch von Wirtschaftskrisen unterbrochene kapitalistische Akkumulationszyklus kommt nicht einfach so zum Stehen. Das besondere an den Krisen in der imperialistischen Epoche ist, dass sie nicht mehr einfach nur eine Frage von ein paar Zusammenbrüchen und Bankrotten sind, die es den überlebenden Kapitalisten erlaubt einen neuen Akkumulationszyklus ins Leben zu rufen. Dies wäre nur durch massive globale Kapitalvernichtung als Folge eines imperialistischen Krieges möglich. Das imperialistische Zeitalter ist von einem Zyklus von Boom – Krise – Krieg – Wiederaufbau geprägt. Für MarxistInnen ist nicht das „Stagnieren der Produktivkräfte“ das ausschlaggebende Kriterium, um den Niedergang des Systems zu erklären, sondern die Tatsache, dass der Kapitalismus seine Produktion immer noch steigern kann und die Kosten dafür (dauernder Hunger in der südlichen Hemisphäre, Umweltzerstörung, periodische Kriege auf dem ganzen Planten) katastrophale Folgen für die Menschheit haben. Die Fesseln der kapitalistischen Produktionsweise und ihr Wertgesetz müssen gesprengt werden, damit die Produktivkräfte im Interesse der ganzen Menschheit eingesetzt werden können.

Es ist gerade das Unvermögen den Charakter des Imperialismus in der Ära des Imperialismus und Staatskapitalismus deutlich zu machen, was das Übergangsprogramm im Kampf für den Sozialismus so wertlos macht. Indem er den Kapitalismus einfach als ein im Todeskampf begriffenes System definierte, und nicht als ein Gesellschaftssystem welches auf der Grundlage des Wertgesetzes auf der Abschöpfung von Mehrwert, bzw. der Ausbeutung von Lohnarbeit verstand, nahm Trotzki im „Übergangsprogramm“ nur auf eine einzelne Phase des kapitalistischen Zyklus Bezug: Der Phase des Konjunkturrückgangs. Da er sich 1938 dazu entschloss, den Kapitalismus als ein System in der Todeskrise zu definieren, musste Trotzki eine Erklärung dafür finden, warum das Proletariat nicht dazu übergehe ihn zu überwinden und letztlich ein Rezept vorlegen, um dieses Manko zu beheben. Dies war der Punkt, wo Trotzki endgültig zu den Vorstellungen der Sozialdemokratie zurückkehrte.

Das Übergangsprogramm und die Partei

Da das „Übergangsprogramm“ die innere Dynamik des Kapitalismus nicht erfasst hatte, konnte es auch nur eine rein voluntaristische Lösung für das Problem der proletarischen Organisation anbieten. Es stellte richtigerweise fest:

Die wirtschaftlichen Voraussetzungen der proletarischen Revolution sind schon längst am höchsten Punkt angelangt, der unter dem Kapitalismus erreicht werden kann.

Das war 1938 zwar (noch) richtig, aber weshalb unterwarf sich das Proletariat trotz dieser objektiven Bedingungen immer noch dem kapitalistischen Joch? Trotzkis Antwort war denkbar einfach:

Die weltpolitische Lage in ihrer Gesamtheit ist vor allem gekennzeichnet durch die historische Krise der Führung des Proletariats.

In dem Sinne, dass eine organisierte kommunistischen Avantgarde fehlte, war dies sicher richtig. Allerdings war dies nicht Trotzkis eigentlicher Punkt. Im letzten Vierteljahrhundert musste das Proletariat erleben, wie seine Organisationen in das Lager der Bourgeoisie übergegangen waren. Zuerst hatten die Parteien der Zweiten Internationale mit ihrer Massenorganisation und Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg das Kriegstrieben ihrer jeweiligen Bourgeoisien unterstützt und waren damit zu Erfüllungsgehilfen imperialistischer Politik geworden. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sie einen wesentlichen Anteil daran, die Aufstände des Proletariats in Strömen von Blut zu ertränken und die klassenbewussten ArbeiterInnen zu massakrieren (bzw. im Falle Deutschlands dieses Massaker federführend zu organisieren). 1914 gehörte die bolschewistische Partei mit ihrer Losung „Verwandelt den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg“ zu einen der entschiedensten Widersacher der kapitalistischen Ordnung. Im Oktober 1917 hatte sie einen wesentlichen Anteil an der Machtübernahme des Proletariats, sowie an der Gründung der Kommunistischen Internationale 1919.

Allerdings setzte, wie wir schon ausführten, ein Prozess der Degeneration ein, der sehr viel heimtückischer verlief als der (scheinbar) plötzliche Verrat der Sozialdemokratie im August 1914. Die Annahme der sog. „Einheitsfronttaktik“ durch die Kommunistische Internationale 1922 war ganz offensichtlich ein entscheidender Punkt in ihrem Niedergang ebenso wie die Ausschaltung jeglicher Opposition bis 1926 und ihre katastrophale Politik in China 1927.

1938 konnte selbst jemand wie Trotzki erkennen, "dass der Übergang der Komintern auf die Seite der Bourgeoise“ stattgefunden hatte. Und dennoch sah Trotzki unter Zuhilfenahme sonderbarer Verdrehungen, die letztendlich zum Markenzeichen des Trotzkismus wurden, die Parteien der Zweiten und Dritten Internationale als „konservative Apparate“ des Proletariats an. Daraus resultierte die Vorstellung, dass diese Organisationen trotz ihres historischen Verrats und all der Massaker, die sie angerichtet hatten durch einen Austausch ihrer Führungen für die Revolution gewonnen werden könnten. Dies stand in völliger Übereinstimmung mit seiner Unterstützung der sog. „Einheitsfront“ oder den 1935 von Trotzki angeordneten Eintritt seiner Anhänger in die Sozialdemokratie. Alles im Allem gescheiterter Manöver, um die „Führung zu gewinnen“.

Orthodoxe Trotzkisten haben bis heute nicht begriffen, dass die politische Niederlage dem physischen Niedergang der revolutionären Organisation vorausging. Heute sind die sozialdemokratischen Organisationen (bzw. die sog. „sozialistischen“ und „kommunistischen“ Parteien) und ihre Gewerkschaften, obgleich sie zuweilen viele ArbeiterInnen in ihrer Mitgliedschaft haben oder von ihnen gewählt werden, faktisch nichts anderes als Erfüllungsgehilfen der Bourgeoisie und ihres Klassensystems. Ihre Existenzgrundlage liegt in der Verteidigung des Kapitalismus, indem sie den Klassenkampf auf das sichere Terrain der Wahlen oder in Branchen- oder auf Betriebsebene isolierter Streiks lenken.

Seine äußerst oberflächliche Analyse der politischen Schwäche des Proletariats in den 30er Jahren hinderte Trotzki daran zu verstehen, dass die Führungskrise des Proletariats gerade deshalb entstanden war, weil es keine politische Partei gab, die unnachgiebig die Klassenautonomie und die Perspektive der Weltrevolution verteidigte. Dieses Unvermögen kombiniert mit dem totalen Unverständnis des Charakters der Epoche des Imperialismus führte dazu, dass die „Vierte Internationale“ nicht nur wenig Chancen hatte zu einer revolutionären Klassenpartei zu werden, sondern diesem Ziel geradezu im Weg stand, da sie weiterhin auf bürgerlichem Terrain agierte. Notwendig wäre ein erbarmungsloser Kampf gegen die soziale Konservierung der alten sozialdemokratischen und „kommunistischen Parteien“ gewesen.

Doch auch heute spricht der Trotzkismus lediglich vom Verrat dieser Parteien und ihrer Gewerkschaften und ist absolut unfähig die wirkliche Rolle, die diese Organisation in der ArbeiterInnenklasse spielen zu entlarven. Wie schon damals die Fraktion der italienischen Kommunistischen Linken argumentierte, konnte die Vierte Internationale nicht für sich in Anspruch nehmen, eine Partei des Proletariats zu sein, da sie die notwendige Vorarbeit, die politische Klärung und Aufarbeitung der Niederlage der revolutionären Welle in den 20er Jahren versäumt hatte. Eine derartige Klärung, der Trotzki aber sorgsam aus dem Wege ging, wäre die Voraussetzung für die Wiederbelebung der revolutionären Partei und die Rekonstruktion eines kommunistischen Programms auf der Grundlage der gemachten Erfahrungen gewesen. 1938 konnte es keine Klassenpartei geben, da es auch keine autonome Klassenbewegung gab. Ein Grund dafür war, dass ein Großteil des Proletariats immer noch in die proletarische Natur „seiner“ Organisationen glaubte. Trotzki dachte dieses Problem durch die Proklamation der Vierten Internationale, d.h. einen reinen Willensakt lösen zu können.

Das Fehlen einer Klassenpartei ist jedoch nicht nur das Ergebnis eines fehlenden Willens. Während die Notwendigkeit der Partei für die politische Orientierung der Klassenaktion des Proletariats nicht bestritten werden kann, fand die Gründung der Vierten Internationale statt, ohne dass die Anhänger Trotzkis eine ernsthafte politische Auseinandersetzung mit den Erfahrungen von Revolution und Konterrevolution geführt hatten.

Die Partei kann nicht einfach aus dem Nichts geschaffen werden. Ebenso ist das Fehlen einer Klassenpartei nicht einfach nur das Ergebnis einer „Krise der revolutionären Führung“ auch wenn dieses Defizit ein wichtiger Grund für die Schicksalsschläge des Proletariats bspw. in Deutschland 1918-19 war. In Trotzkis Parteikonzeption ist die Partei jedoch nicht der notwenige organisierte Teil der Klasse, sondern nimmt eher die Form einer deus ex machina an, die durch die Entschlossenheit und Kampfkraft ihrer Mitglieder die historische Krise der Menschheit überwinden müsse. Dieses idealistische Moment tritt noch deutlicher zutage, wenn man sich eingehender mit Trotzkis Übergangsforderungen auseinandersetzt.

Die Übergangsforderungen

In seiner Kritik des Gothaer Programms arbeitete Marx heraus, dass der Übergang zum Sozialismus eine Diktatur des Proletariats voraussetzt, um systematisch alle jene Maßnahmen durchzuführen die notwendig sind, um den Kapitalismus zu überwinden. Das Übergangsprogramm hat jedoch recht wenig mit dem marxistischen Verständnis des Übergangs zum Kommunismus zu tun.

Trotzki setzte die Übergangsperiode gewissermaßen schon voraus, da sich der Kapitalismus in einer Todeskrise befände, auch wenn es in den 30er Jahren bekanntlich keine Revolutionen gegeben hatte. Nach Marx kann jedoch nicht von einem Übergang zum Sozialismus gesprochen werden, solange das Proletariat den bürgerlichen Staat nicht zerschlagen hat. (Dies ist die entscheidende Lehre der Pariser Commune von 1871). Trotzki konnte schon nicht die grundlegenden Rahmenbedingungen für eine sozialistische Entwicklung in der UdSSR begreifen. Nun wurde mehr als deutlich, dass er im Begriff war sich vollständig von marxistischen Vorstellungen des Sozialismus zu verabschieden. Er fiel in den Reformismus der Zweiten Internationale und ihrer Minimalforderungen zurück, die seiner Meinung nach in der Epoche des zerfallenden Kapitalismus unerfüllbar seien:

Die Besonderheit der gegenwärtigen Epoche besteht nicht darin, dass sie die revolutionäre Partei von der Alltagsarbeit befreit, sondern, dass sie erlaubt, diesen Kampf in unauflösbarer Verbindung mit den aktuellen Aufgaben der Revolution zu führen. Die IV. Internationale verwirft nicht die Forderungen des alten Minimalprogramms, soweit diese noch ein wenig Sprengkraft bewahrt haben. Sie verteidigt unermüdlich die demokratischen Rechte der Arbeiter und ihre sozialen Errungenschaften. Aber sie führt diese Tagesarbeit aus im Rahmen der aktuell richtigen, d.h. revolutionären Perspektive.

Mit anderen Worten: Das alte Minimalprogramm der Sozialdemokratie wäre angesichts der Todeskrise des Kapitalismus faktisch mit einem Maximalprogramm identisch, da

jede ernste Forderung des Proletariats und sogar jede fortschrittliche Forderung des Kleinbürgertums unausweichlich an die Grenzen des kapitalistischen Eigentums und des bürgerlichen Staates hinausführt.

Ein weiterer Blick ins Übergangsprogramm genügt, um den Unsinn dieser Argumentation in seinem ganzen Ausmaß zu erkennen. Was Trotzki hier vorlegt, ist faktisch ein Programm zur Reform des Kapitalismus, indem er vor einer Machteroberung durch das Proletariats Forderungen wie bspw. eine „Verstaatlichung der Banken“, eine „Arbeiterkontrolle über die Industrie“, einen „Plan Öffentlicher Arbeiten“ oder eine „gleitende Lohnskala“ ins Spiel bringt. Keine dieser Forderung ist geeignet die kapitalistische Logik grundlegend infrage zu stellen, geschweige denn über sie hinaus zu weisen. Trotzkis Zeitgenosse Keynes hatte ähnlich „radikale“ Forderungen aufgestellt, allerdings als Strategie zur Stabilisierung des Kapitalismus.

Trotzkis Unfähigkeit den Klassencharakter des russischen Staates zu verstehen, musste sich logischerweise auch in seinem Übergangsprogramm niederschlagen. Da er den Staat nicht als ideellen Gesamtkapitalisten verstand, und Verstaatlichungen immer noch mit Vergesellschaftung gleichsetzte, sah er die wichtigste Aufgabe des Sozialismus nicht in der Abschaffung der Lohnarbeit, sondern in der „Enteignung der Bourgeoisie“. In dieser Hinsicht geht das „Übergangsprogramm“ nicht über das „Erfurter Programm“ von 1890 hinaus, dass immerhin noch die Grundzüge eines Maximalprogramms ausführte. Die „Diktatur des Proletariats“ wird im „Übergangsprogramm“ nur einmal am Rande erwähnt und es enthält keinerlei Aussagen über das Wesen des Sozialismus. Vor diesem Hintergrund klingt die im Übergangsprogramm aufgeführte eigene Zweckbestimmung besonders absurd:

Man muss den Massen in ihren Tageskämpfen helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution.

Da für Trotzki diese „aktuellen Forderungen“ der Massen potenziell revolutionär waren, fehlte im Endeffekt nur noch eine Partei, die den Massen die Brücke für das „Programm der sozialistischen Revolution“ weise. Trotzkis grundlegendes Problem bestand jedoch darin, dass er es nicht einmal geschafft hatte ein angemessenes Programm zum Verständnis der gegenwärtigen Epoche des Kapitalismus auszuarbeiten. RevolutionärInnen erkennen die Wichtigkeit von Forderungen an. Allerdings müssen diese Forderungen das Ergebnis konkreter realer Kämpfe sein und nicht abstrakte Schemata von Forderungen, die wie die Forderungen des „Übergangsprogramms“ vom Kapitalismus eingemeindet werden können. In den Nachwehen der Revolution von 1848 stellte Karl Marx deutlich heraus, dass jede vom Proletariat erhobene Forderung eine unmittelbare Antwort auf die gegebene Lage des Klassenkampfes sein müsse:

Wir haben gesehen, wie die Demokraten bei der nächsten Bewegung zur Herrschaft kommen, wie sie genötigt sein werden, mehr oder weniger sozialistische Maßregeln vorzuschlagen. Man wird fragen, welche Maßregeln die Arbeiter dagegen vorschlagen sollen. Die Arbeiter können natürlich im Anfange der Bewegung noch keine direkt kommunistischen Maßregeln vorschlagen. Sie können aber:1. die Demokraten dazu zwingen, nach möglichst vielen Seiten hin in die bisherige Gesellschaftsordnung einzugreifen, ihren regelmäßigen Gang zu stören und sich selbst zu kompromittieren sowie möglichst viele Produktivkräfte, Transportmittel, Fabriken, Eisenbahnen usw. in den Händen des Staates zu konzentrieren. 2. Sie müssen die Vorschläge der Demokraten, die jedenfalls nicht revolutionär, sondern bloß reformierend auftreten werden, auf die Spitze treiben und sie in direkte Angriffe auf das Privateigentum verwandeln, so zum Beispiel, wenn die Kleinbürger vorschlagen, die Eisenbahnen und Fabriken anzukaufen, so müssen die Arbeiter fordern, dass diese Eisenbahnen und Fabriken als Eigentum von Reaktionären vom Staate einfach und ohne Entschädigung konfisziert werden. Wenn die Demokraten die proportionelle Steuer vorschlagen, fordern die Arbeiter progressive; wenn die Demokraten selbst eine gemäßigte progressive beantragen, bestehen die Arbeiter auf einer Steuer, deren Sätze so rasch steigen, dass das große Kapital dabei zugrunde geht; wenn die Demokraten die Regulierung der Staatsschulden verlangen, verlangen die Arbeiter den Staatsbankrott.

Diese dialektische Herangehensweise unterscheidet sich grundlegend von Trotzkis Methode, die er aus dem Arsenal des Dritten Weltkongresses der degenerierenden Dritten Internationale abkupferte und davon ausging, dass es eine genaue Folge von Forderungen gäbe, „die die Etappen des Kampfes darstellen, wenn die Massen noch nicht bewusst für die Diktatur des Proletariats eintreten.“

Trotzkis Methode ähnelt der Kautskys. Auch dieser sah das Proletariat als passive geistlose Masse an, die von der Sozialdemokratie zu dieser und jener Demonstration aufgerufen werden müsse, um den Kampf der „Arbeitervertreter“ zu unterstützen. Die Aufgabe von RevolutionärInnen ist jedoch eine andere. Sie müssen nicht nur aktiv an den Kämpfen teilnehmen, um mitzuhelfen Forderungen zu entwickeln die die Kämpfe vereinigen und zusammenführen, sie müssen gleichzeitig in der Lage sein eine konkrete kommunistische Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus aufzuzeigen. Gerade hier hat das „Übergangsprogramm“ wenig zu bieten. Sein Ausgangspunkt wie sein Endpunkt ist das unmittelbare Bewusstsein der Massen.

Trotzki stellte damit abermals unter Beweis, dass er weder die Schwächen der Zweiten noch der Dritten Internationale überwunden hatte. Diese lagen weniger darin mit den Massen zu kämpfen zu können, sondern in ihrer absoluten Unfähigkeit eine klare Konzeption des Kommunismus und der Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates zu entwickeln. Anstatt diese Schwächen zu kritisieren und eine Bilanz der bisherigen Rückschläge und Niederlagen zu ziehen, steigerte sich Trotzki in einen unbändigen Voluntarismus. Von der Idee besessen in einer Periode proletarischer Niederlagen und der Konterrevolution „die Massen zu gewinnen“, versuchte er alte und gründliche gescheiterte Taktiken (Einheitsfrontpolitik, Rückkehr zu Minimalforderungen etc.) wiederzubeleben.

Dieser Logik folgend wies er seine französischen Anhänger an, in die Reihen der SIFO (französische Sektion der Zweiten Internationale) einzutreten, um dem „Reformismus in seiner eigenen Bastion die Stirn zu bieten“ und „das revolutionäre Programm zu den Massen zu tragen“. Vor dem Hintergrund dieser Politik hörte es sich nicht gerade glaubwürdig an, als Trotzki bspw. die 1935 angenommene Volksfrontpolitik der „Kommunistischen Internationale“ als Übergang in das Lager der Sozialdemokratie denunzierte. Während jedoch die „Kommunistische Internationale“ einer, wenn auch konterevolutionären, Logik folgte (sie wollte dadurch ein Bündnis mit dem französischen und britischen Imperialismus gegen die faschistischen Länder zustande bringen), machte Trotzkis Entrismus in der Sozialdemokratie nicht den geringsten Sinn. Insbesondere wenn man berücksichtigt, dass er bei jeder Gelegenheit erklärte, dass die Revolution auf der Tagesordnung stünde:

Wir behaupten: die Diagnose der Kommunistischen Internationale ist grundfalsch. Die Situation ist so revolutionär, wie sie bei einer nichtrevolutionären Politik der Arbeiterparteien nur sein kann. Genauer: die Situation ist vorrevolutionär_. Damit diese Situation reif werde, ist sofortige, kühne und unermüdliche Mobilisierung der Massen unter den Losungen der Machteroberung im Namen des Sozialismus notwendig. Unter dieser Bedingung allein wird die_ vorrevolutionäre Situation zu einer revolutionären werden.

Da er die Niederlagen, die die ArbeiterInnenklasse in den 1920er Jahren erlitten, hatte weitgehend ignorierte, war Trotzki auch denkbar schlecht auf den 1938 von der Bourgeoisie auf die Tagesordnung gesetzten imperialistischen Krieg vorbereitet. Es ist von daher auch nicht überraschend, dass im „Übergangsprogramm“ eine der wichtigsten Kernpunkte von Lenins revolutionären Politik während des Ersten Weltkrieges, der Revolutionären Defätismus, zurückgewiesen wird. Dies führte letztendlich dazu, dass die Trotzkisten auf der Seite des russischen wie des westlichen Imperialismus am imperialistischen Zweiten Weltkrieg teilnahmen.

Der imperialistische Zweite Weltkrieg

Im „Übergangsprogramm“ wird klar herausgestellt: "Der Erfolg einer revolutionären Partei wird in der nächsten Periode vor allem von ihrer Politik in der Kriegsfrage abhängen." Ebenso wird ein Lippenbekenntnis an das kommunistische Prinzip abgeben, dass in einem imperialistischen Krieg der „Hauptfeind immer im eigenen Land steht.“ Im gleichen Atemzug kommt jedoch Trotzkis Unfähigkeit zum Tragen den Klassencharakter der UdSSR zu verstehen und die alte Einheitsfrontpolitik der „Kommunistischen Internationale“ kritisch zu überprüfen, was ihn letztlich dazu führte mit dem internationalistischen Prinzip des Revolutionären Defätismus zu brechen. So behauptet Trotzki im nächsten Satz, dass "nicht alle Länder der Welt imperialistisch" seien. Deshalb sei es Pflicht, "unterdrückten Ländern im Krieg gegen die Unterdrücker zu helfen. Dieselbe Pflicht besteht auch gegenüber der Sowjetunion oder jedem anderen Arbeiterstaat, der vor oder während des Krieges entstehen mag."

Seine Sicht auf die Klassenverhältnisse in der UdSSR macht ihn blind für die Rolle die Russland im Netz der imperialistischen Bündnisse spielte. Trotz aller Erfahrungen mit Stalins Politik, die darin bestand, Bündnisse mit Frankreich und Großbritannien gegen Deutschland zu schmieden, trotz der konterrevolutionären Konsequenzen dieser Politik in Spanien und China, trotz des Hitler-Stalin-Paktes, der zum Angriff auf Polen führte, trotz des Angriffs auf Finnland hielt er bis zu seinem Tode an der Fiktion fest, dass das stalinistische Regime, welches ihn schließlich ermordete, weder kapitalistisch noch imperialistisch sei

Zwar räumte Trotzki in einem 1939 verfassten Artikel ein, dass die Bürokratie einen reaktionären Charakter habe. Diesen erklärte er wieder einmal durch das alte Argument, dass eine „bonapartistische Clique“ den „Arbeiterstaat“ gekapert hätte. Im selben Artikel übertrumpfte er in seiner Verteidigung der UdSSR sogar noch Stalin:

Wir dürfen keinen einzigen Augenblick vergessen, dass für uns die Frage des Sturzes der Sowjetbürokratie der Frage der Erhaltung des Staatseigentums an den Produktionsmitteln in der UdSSR untergeordnet ist; dass die Frage der Erhaltung des Staatseigentums an den Produktionsmitteln in der UdSSR für uns der Frage der proletarischen Weltrevolution untergeordnet ist.

Es ist nicht überraschend, dass dies zu Spaltungen in der Vierten internationale führte und Leute wie CLR James, Burnham oder Shachtman allesamt unterschiedliche Analysen zum Charakter der UdSSR entwickelten. Trotzkis Beiträge in dieser Debatte sind in der Schrift „Zur Verteidigung des Marxismus“ gesammelt und veröffentlicht worden.

Sein zentrales Argument in diesem Text läuft darauf hinaus, zu behaupten, dass der Marxismus und jede sozialistische Perspektive widerlegt wäre, wenn es im Verlaufe des Krieges nicht zu einer proletarischen Revolution komme:

Wenn es entgegen aller Wahrscheinlichkeit der Oktoberrevolution misslingt, im Laufe des gegenwärtigen Krieges oder sofort danach, ihre Fortsetzung in einem der fortgeschrittenen Länder zu finden, und wenn im Gegenteil das Proletariat überall und an allen Fronten zurückgeworfen wird, – dann müssten wir zweifellos die Frage stellen, ob wir unsere Vorstellung von der gegenwärtigen Epoche und ihren treibenden Kräften revidieren müssen. In diesem Fall würde es sich nicht darum handeln, der UdSSR oder der stalinistischen Bande ein Etikett aufzukleben, sondern darum, die weltgeschichtlichen Perspektiven für die nächsten Jahrzehnte, wenn nicht für die nächsten Jahrhunderte neu abzuschätzen: Sind wir in die Epoche der sozialen Revolution eingetreten oder im Gegenteil in die Epoche der verfallenden Gesellschaft der totalitären Bürokratie?

Hierbei handelte es sich jedoch nicht um eine Verteidigung des Marxismus, sondern seiner eigenen Analysen, die wie wir gesehen haben, jeder marxistischer Grundlage entbehrten. Unfähig die Niederlagen des Proletariats in den 20er Jahren zu begreifen, tendierte er ab 1938 dazu alle Probleme durch Willensanstrengungen zu lösen. Dies gereicht aber eher Trotzkis Idealismus und nicht dem Marxismus zur Ehre. Doch hiermit nicht genug. In seiner Schrift „Zur Verteidigung des Marxismus“ argumentierte er nicht nur für eine Verteidigung der UdSSR, sondern des „demokratischen Sumpfes“ im Allgemeinen. Wenig später führte Hitlers Angriff auf Russland zum Bündnis der UdSSR mit Großbritannien und den USA, was die Konfusionen der Trotzkisten nur noch verstärkte. Während die Trotzkisten in den USA sich in der Frage des Charakters der UdSSR zerlegten, spalteten sich die französischen Trotzkisten in der Frage ob nun das deutsche oder das französische Lager im Krieg zu unterstützen sei. Während die „Revolution Francaise“ und der „Mouevement National Revolutionnaire“ für eine "Kollaboration ohne Unterdrückung" mit Hitler die Trommel rührte, rief das „Komitee der Vierten Internationale“ in ihrem Zentralorgan „La Vérité“ zur Verteidigung der "Reichtümer, die Generationen von französischen Arbeitern und Bauern angehäuft haben (..) des großartigen Beitrags, den französische Schriftsteller und Gelehrte für das geistige Erbe der Menschheit geleistet haben" auf.

Unser Überblick auf die Ursprünge des Trotzkismus endet bei dieser traurigen Episode: Den ersten prinzipienlosen Spaltungen einer Strömung, die wie wir gezeigt haben, niemals ein Verständnis der gegenwärtigen Epoche und ihrer Entwicklungsperspektiven hatte.

Zum Weiterlesen:

Trotzki und die Ursprünge des Trotzkismus:leftcom.org

Trotzki und der Klassencharakter der UdSSR: leftcom.org

Der Trotzkismus und der Krieg in Syrien: leftcom.org

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Sunday, September 3, 2023