Der Idealismus des Bordigismus

(9. Teil unserer Artikelreihe zum Thema Klassenbewusstsein und revolutionäre Organisation)

Bisher haben wir argumentiert, dass die ArbeiterInnenklasse, als ausgebeutete Klasse über kein Eigentum verfügt, welches sie anhäufen, geschweige denn verteidigen könnte. Ihre einzige Möglichkeit der Befreiung besteht darin, sich in einer Organisation zu vereinen, deren Programm ihr revolutionäres Bewusstsein zum Ausdruck bringt. Somit ist eine politische Organisation wie eine Partei zwangsläufig auch Ausdruck und Produkt einer revolutionären ArbeiterInnenklasse. Wir halten an der Auffassung von Marx fest, dass die Mehrheit der Klasse nur im praktischen Prozess einer Revolution selbst, „sich den ganzen alten Dreck von Halse“ schaffen und ihre Sicht auf die Welt ändern kann. Folglich wird eine proletarische Partei, wie zahlenmäßig stark sie auch sein mag, stets eine Minderheit der Klasse umfassen.

Die eigentliche Vorbereitung und Führung der weltweiten Überwindung des kapitalistischen Staates sind also Aufgaben, einer internationale Partei, die durch den Klassenkampf hervorgebracht wird. Doch wie wir bereits gesehen haben, wurde das Wesen dieser Partei und ihr Verhältnis zur Klasse von der Sozialdemokratie (bzw. den Parteien der Zweiten Internationale) in weiten Teilen nicht klar erfasst. (Siehe den 4. Teil dieser Artikelreihe: leftcom.org) Sowohl in der Kommunistischen Internationale als auch in den Debatten der Italienischen Linken stand das Verhältnis von Partei und Klasse also noch auf der Tagesordnung, als es darum ging mit einer noch nie dagewesenen Konterrevolution fertig zu werden. Auf dieses Problem wollen wir im Folgenden vertieft eingehen.

Die Kommunistische Internationale

Die revolutionärste internationale politische Organisation, die im Zuge der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg entstand, war die Kommunistische Internationale. Die Kommunistische, oder Dritte Internationale wurde 1919 in Moskau ins Leben gerufen. Ursprünglich war geplant, den Gründungskongress in Deutschland abzuhalten, aber der verfrühte Spartakusaufstand und die anschließende Repression und das Massaker an den RevolutionärInnen hatten zur Folge, dass dies nicht mehr in Betracht gezogen werden konnte.

Das eigentliche Leben der Internationale begann mit ihrem Zweiten Kongress im Jahr 1920. Die „Leitsätze über die Rolle der Kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution“ bekräftigten die grundlegende marxistische Position über das Verhältnis der Partei zur Entwicklung des Klassenkampfes (auch wenn der darwinistisch anmutende Verweis auf „den Prozess der natürlichen Auslese“ aus heutiger Sicht befremdlich und gänzlich überflüssig erscheinen mag):

Die kommunistische Partei ist ein Teil der Arbeiterklasse, und zwar der fortgeschrittenste, klassenbewussteste und daher revolutionärste. Die kommunistische Partei wird auf dem Wege der natürlichen Auslese der besten, klassenbewusstesten, opferwilligsten, weitsichtigsten Arbeiter geschaffen. Die kommunistische Partei hat keine von den Interessen der gesamten Arbeiterklasse abweichenden Interessen. Die kommunistische Partei unterscheidet sich von der gesamten Arbeiterklasse dadurch, dass sie eine Übersicht über den ganzen historischen Weg der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit hat und bestrebt ist, auf allen Biegungen dieses Weges nicht die Interessen einzelner Gruppen oder einzelner Berufe zu verteidigen, sondern die Interessen der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit.(1)

In den Thesen wurde auch auf die Rolle der Kommunistischen Partei und ihr Verhältnis zu den klassenweiten Organen wie den ArbeiterInnenräten oder Sowjets eingegangen:

Die Entstehung der Sowjets als historische Grundform der Diktatur des Proletariats schmälert keineswegs die führende Rolle der kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution. Wenn von den `linken´ Kommunisten Deutschlands (siehe ihren `Aufruf an das deutsche Proletariat´ vom 14. April 1920, gezeichnet `Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands´) erklärt wird, `dass auch die Partei sich immer mehr dem Rätegedanken anpasst und proletarischen Charakter annimmt´ (`K.A.Z.´, № 54), so ist das ein verworrener Ausdruck der Idee, als müsse sich die kommunistische Partei in den Räten auflösen, als könnten die Räte die kommunistische Partei ersetzen. Diese Idee ist grundfalsch und reaktionär. In der Geschichte der russischen Revolution erlebten wir einen ganzen Abschnitt, in dem die Sowjets gegen die proletarische Partei marschierten und die Politik der Agenten der Bourgeoisie unterstützten. Dasselbe war auch in Deutschland zu beobachten. Das gleiche ist auch in anderen Ländern möglich. Damit die Sowjets ihren geschichtlichen Aufgaben gerecht zu werden vermögen, ist im Gegenteil das Bestehen einer kräftigen kommunistische Partei notwendig, einer Partei, die sich nicht einfach den Sowjets `anpasst´, sondern die in der Lage ist, diese selbst zu veranlassen, der `Anpassung´ an die Bourgeoisie und die weissgardistische Sozialdemokratie zu entsagen, einer Partei, die vermittels der kommunistischen Fraktionen der Sowjets imstande ist, die Sowjets ins Schlepptau der kommunistischen Partei zu nehmen.(2)

Und wie könnte es anders sein, wenn man davon ausgeht, dass das kommunistische Bewusstsein von niemand anderem entwickelt werden kann, als von den Teilen der ArbeiterInnenklasse, die bereits für die Veränderung des Systems kämpfen? Die Thesen schwiegen sich jedoch über die konkrete Beziehung zwischen der Partei und den Räten aus, und dies sollte sich als ein bedeutendes Versäumnis herausstellen. Was die Russische Revolution uns gelehrt hat, ist, dass der Aufbau des Sozialismus, die tatsächliche Veränderung der Produktionsweise nur von der Mehrheit der ArbeiterInnenklasse selbst, durch ihre klassenweiten Organe (im russischen Fall die Sowjets) in Angriff genommen werden kann. Wenn die Räte es nicht schaffen kommunistische Maßnahmen zu beschließen und durchzuführen, dann ist die revolutionäre Situation vorbei. Es gibt keine Möglichkeit, dass die Partei diese Rolle selbst übernehmen kann. Die Partei ist weder eine Regierung im Wartestand (wie es bürgerliche Parteien sind) noch übernimmt sie die Rolle und die Funktionen eines Staates.

Als die Bolschewiki an die Macht kamen, hatten sie ein gewisses Verständnis dafür. Lenin ermahnte die ArbeiterInnen in den ersten Monaten nach dem Oktober 1917 ständig, den Aufbau des Sozialismus in die eigenen Hände zu nehmen, da es sonst niemand anders tun würde. Das deutlichste Zeichen dafür, dass die Konterrevolution auf dem Vormarsch war, kam, als die Bolschewiki angesichts der Notwendigkeit, ein stehendes Heer (die Rote Armee) zu schaffen, um gegen die Weißen und den internationalen Imperialismus im Bürgerkrieg von 1918-21 zu kämpfen, den Weg des Staatsaufbaus einschlugen.

Damit einher ging die Schaffung einer riesigen Bürokratie, die sich mit der Zeit zu einer neuen herrschenden Klasse entwickelte, die sogar (nach dem Zweiten Weltkrieg) das Recht hatte, erbliche Privilegien weiterzugeben. Nach dem Aufstand in Kronstadt kamen viele Bolschewiki zu dem Schluss, dass die Partei der Staat sei, und begannen, die Herrschaft der Partei theoretisch damit zu rechtfertigen, dass sie im besten Interesse der ArbeiterInnenklasse sei. Die „Diktatur des Proletariats“ von Marx wurde als „Diktatur der Partei“ interpretiert. Dies wurde damals nicht vollständig verstanden, und dieses mangelnde Verständnis spiegelt sich in den „Thesen über die Rolle der kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution“ wider. Während die Thesen 9 und 11 die Notwendigkeit des Fortbestehens der Kommunistischen Partei bis zur endgültigen Abschaffung der Klassengesellschaft richtig sehen, ist die These 10 eher eine Beschreibung der bestehenden Verhältnisse in der RSFSR als eine theoretische Analyse des Weges zur internationalen proletarischen Emanzipation. Sie endet mit der Feststellung:

In der Organisierung einer neuen proletarischen roten Armee, in der tatsächlichen Vernichtung des bürgerlichen Staatsapparats und in dessen Ersetzung durch Keime eines neuen proletarischen Staatsapparats, im Kampf gegen zünftige Tendenzen einzelner Arbeitergruppen, im Kampf gegen den Lokal- und Bezirks-`Patriotismus´, in der Anbahnung von Wegen zur Schaffung einer neuen Arbeitsdisziplin – auf allen diesen Gebieten gehört das entscheidende Wort der kommunistischen Partei. Ihre Mitglieder müssen durch das eigene Beispiel die Mehrheit der Arbeiterklasse anfeuern und führen.(3)

So richtig es sein mag, dass die Mitglieder der Kommunistischen Partei dem Rest der ArbeiterInnenklasse politisch vorangehen müssen, verwies die Betonung auf den „proletarischen Staatsapparat“ bereits in die falsche Richtung. In seiner Schrift „Staat und Revolution“ hatte Lenin verstanden, dass die ArbeiterInnenklasse höchstens einen „Halbstaat“ hervorbringen könne, der mit der Unterdrückung der letzten Ausbeuterklasse der Geschichte seinen repressiven Charakter verlieren würde. Doch dies wurde 1917 geschrieben. Faktisch war jedoch die proletarische Initiative in Russland ab 1918 bereits im Rückzug begriffen. Und 1920 unterminierte die Verwechslung von Partei und Staat bereits die Idee, dass die internationale Ausbreitung der Revolution die Hauptaufgabe der Kommunistischen Partei sei.

Während ihre Mitglieder die „Mehrheit der Arbeiterklasse anfeuern und führen“ können, ist die Partei jedoch keine Institution eines bestehenden, von der ArbeiterInnenklasse eroberten Territoriums. Ihre politische Aufgabe besteht darin, die internationale Revolution voranzutreiben. In diesem Sinne war es tragisch, dass der Gründungskongress der Komintern nicht wie ursprünglich geplant in Deutschland stattfand. Dies hätte den Anspruch Kommunistische Internationale unterstrichen, ein Instrument der Weltrevolution und nicht ein Arm des russischen Staates zu sein, zu dem sie zwangsläufig degenerierte, nachdem die revolutionäre Welle abgeklungen war.

In der Tat wurde die Kommunistische Internationale Bestandteil eines neuen Staatsapparats und zunehmend zu einem Instrument seiner Außenpolitik in den Auseinandersetzungen mit den imperialistischen Staaten (in deren Umfeld der neue Staat nach und nach operieren musste). Und genau hier muss die Unterscheidung zwischen Partei und Staat gemacht werden. Wenn die Räte in einer bestimmten proletarischen Bastion Rote Armeen oder andere Institutionen schaffen müssen, die Teil einer neuen staatlichen Struktur werden, ist das ein vorübergehender Schritt zurück, zu dem sie gezwungen sein können. Selbst wenn ihre eigenen Mitglieder an den Debatten in diesen Räten beteiligt sind, bleibt die Partei als solche jedoch außerhalb dieses Prozesses. In Russland führten der Bürgerkrieg und die Dezimierung der einst revolutionären Klasse dazu, dass die Partei, wie wir in den vorangegangenen Teilen dieser Artikelreihe gesehen haben, mehr und mehr staatliche Aufgaben übernahm.(4)

Schlimmer noch: Die Identifikation der Partei mit dem Staat und nicht mit dem internationalen proletarischen Kampf, untergrub auch die Aussichten für die Verteidigung des Kommunismus auf globaler Ebene. Die Folgen dieses Versagens sind bis heute spürbar. Und es war gerade die internationale Ebene, auf der die Vorläufer der heutigen Kommunistischen Linken (und damit der Internationalistischen Kommunistischen Tendenz) erstmals als eigenständige Strömung in Erscheinung traten. Es gibt diesbezüglich eine Menge Verwirrung sowohl in theoretischer als auch in historischer Hinsicht, weshalb wir einen genaueren Blick darauf werfen müssen. Gleichzeitig zeigten die Debatten in der internationalistischen kommunistischen Linken auch die Notwendigkeit, sich mit dem Wesen der Klassenpartei selbst zu befassen.

Die Italienische Linke

Wenn der Irrtum derjenigen, die sich heute von den Strömungen des Rätekommunismus inspirieren lassen (siehe den 6. Teil dieser Artikelreihe: leftcom.org) , darin besteht, die Notwendigkeit einer Organisation zu leugnen, die ein revolutionäres Klassenbewusstsein zum Ausdruck bringt, so besteht der Irrtum derjenigen, die aus der Italienischen Linken hervorgegangen sind und die wir heute als Bordigisten bezeichnen, darin, die Partei nicht nur als Instrument der revolutionären Führung zu sehen, sondern auch als Herrschaftsorgan nach der Revolution.

Sie kommen zu dieser Position durch eine sehr sterile Logik, die jedoch undialektisch ist, da sie den Kontext in dem der Kommunismus aufgebaut werden muss, außer Acht lässt. Während die bürgerliche Demokratie für ihr Funktionieren von der Passivität der ArbeiterInnen abhängt, wird der zukünftige kommunistische „Halbstaat“ etwas völlig anders sein als alles bisher Dagewesene. Er wird nur durch die aktive Beteiligung der Mehrheit der der ArbeiterInnenklasse erfolgreich sein. Seine einzige Existenzberechtigung ist das Weiterbestehen der antagonistischen gesellschaftlichen Klassen. Sobald es diese nicht mehr gibt und eine klassenlose Gesellschaft entsteht, wird der Staat verschwinden und die Organe der politischen Herrschaft werden zu Organen der rationalen wirtschaftlichen Entscheidungsfindung - der Gesellschaft der frei „assoziierten Individuen" wie es im Kommunistischen Manifest heißt.

Dies greift jedoch unserer Argumentation voraus. In den 1920er Jahren teilten unsere Vorläufer in der Kommunistischen Partei Italiens, einer maßgeblich von der Linken um den „berüchtigten“ Amadeo Bordiga gegründeten Partei, eine gemeinsame Kritik an der Degeneration der Dritten Internationale. Für sie war die Losung „Zu die Massen" ,die auf dem Dritten Kongress der Komintern im Jahr 1921 beschlossen wurde, nicht unbedingt per se ein Fehler. Die Frage war jedoch, was es bedeuten sollte „zu den Massen“ zu gehen. Wenn es bedeutete, alle ArbeiterInnen in gemeinsamen Kämpfen zu vereinen, waren sie damit vollkommen einverstanden. Wenn es jedoch bedeuten sollte, sog. Einheitsfronten mit den Führern der sozialistischen Parteien einzugehen, die sich bereits geweigert hatten, der Kommunistischen Internationale beizutreten, und zwar aus dem guten Grund, dass sie gegen die Revolution eingestellt waren, dann sahen sie darin mehr als nur Opportunismus (...).

Die Italienische Linke lehnte es jedoch ab, sich entlang dieser Fragen abzuspalten, sondern kämpfte vielmehr weiter dafür, die Komintern auf dem Kurs der internationalen Revolution zu halten. Sie verstand sich nach wie vor als Teil einer internationalen zentralisierten Partei. Man könnte sogar argumentieren, dass sie dieses Prinzip auf die Spitze trieben, da sie akzeptierten, dass es für die Führung der Komintern (die natürlich von der russischen Partei dominiert wurde) eine logische Sache war, Bordiga und die Linke wegen ihrer Kritik an der Einheitsfront aus der Führung der italienischen Partei zu entfernen, obwohl es in der italienischen Partei eine überwältigende Mehrheit für die Positionen der Linken gab. Selbst der Eintritt der Zentristen der Sozialistischen Partei von Serrati in die Partei konnte die Popularität der Linken nicht schmälern und Antonio Gramsci (der von der Komintern zur Führung der Kommunistischen Partei Italiens auserkoren wurde, als Bordiga von den Faschisten inhaftiert wurde) musste 1926 auf dem Kongress in Lyon zu Methoden greifen, auf die auch ein Stalin stolz gewesen wäre, um sicherzustellen, dass die Linie der Komintern durchgesetzt wurde.

Bienno rosso- Die zwei roten Jahre 1919-20

Es war die Tradition der italienischen LinkskommunistInnen um Amadeo Bordiga, die die revolutionären Ideen von Marx hinsichtlich der Klasse und des Klassenbewusstseins am vehementesten verteidigte. Zur Zeit der Fabrikbesetzungen in Turin in den Jahren 1919-20 hatte Bordiga bereits gegen die von Gramsci angeführten Ordinovisti (genannt nach ihrer Zeitschrift L’Ordine Nuovo) argumentiert, dass der ökonomische Kampf der Klasse, auch wenn er um die Kontrolle der Produktionsmittel geführt wird, durchaus mit der bürgerlichen Ordnung vereinbar sei und aus sich selbst heraus kein ein eigenständiges sozialistisches Bewusstsein hervorbringe.

Außerdem bekräftigte Bordiga das marxistische Axiom, dass die herrschenden Ideen immer Ideen der herrschenden Klasse sind, und dass unter den Bedingungen kapitalistischer Ausbeutung eine Mehrheit des Proletariats nicht zu bewussten KommunistInnen werden kann. Nur durch die Bildung einer politischen Partei, die notwendigerweise eine Minderheit der Klasse organisiert, könne das Proletariat beginnen, seine politische Autonomie gegen die herrschenden Klasse zu behaupten. Indem die Partei ihre eigene historische Erfahrung und die daraus gezogenen Lehren destilliere und der Klasse zurückgebe, würde sie die Umwandlung der Bewusstseinsfunken der einzelnen ArbeiterInnen in revolutionäres Klassenbewusstsein befördern und somit das Verständnis die kapitalistische Ordnung zu überwinden stärken.

In diesem von der Partei politisch angeführten revolutionären Prozess würden immer breitere Schichten des Proletariats im Laufe einer praktischen Bewegung ein fortschrittliches Bewusstsein entwickeln. Die Ergebnisse der großen Klassenkämpfe der italienischen ArbeiterInnen von 1919-20 bestätigten diese Analyse.

Während Antonio Gramsci die Fabrikbesetzungen des Biennio Rosso (Die zwei roten Jahre) als „Sowjets“ abfeierte, wies Bordiga zu Recht darauf hin, dass diese eher mit Fabrikkomitees und nicht mit den russischen Sowjets, bzw. Klassenorganen der ArbeiterInnenmacht vergleichbar waren.

Bordiga wandte sich auch gegen die Vorstellung, dass die Fabrikkomitees die Produktion steuern und den Kapitalismus überwinden könnten, ohne das politische System des Kapitalismus in Frage zu stellen:

Wir möchten nicht, dass in den Arbeitermassen die Idee aufkommt, dass alles, was sie tun müssen um die Fabriken zu übernehmen und die Kapitalisten loszuwerden, ist, Räte zu gründen... Diese vergeblichen und ständigen Ausbrüche, die die Massen täglich erschöpfen müssen zusammengeführt und zu einer großen, umfassenden Anstrengung organisiert werden, die direkt auf das Herz der feindlichen Bourgeoisie zielt. Diese Funktion kann und darf nur von der kommunistischen Partei ausgeübt werden, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine andere Aufgabe hat und haben darf als die ihre Tätigkeit darauf zu richten, die arbeitenden Massen für die Notwendigkeit dieses politischen Schrittes zu sensibilisieren. Dies ist der einzige direkte Weg, um die Fabrik in Besitz zu nehmen, während ein anderes Vorgehen ein vergeblicher Kampf wäre.(5)

Diese Worte erwiesen sich geradezu als prophetisch, als die massiven spontanen Kämpfe der Klasse es nicht schafften, den Staat herauszufordern und stattdessen, weit entfernt sozialistisches Bewusstsein zu entwickeln, in der Ideologie der Selbstverwaltung gefangen blieben und somit in die Niederlage geführt wurden. Bordiga konzentrierte sich nun auf die Kritik der Idee, dass sich aus bestimmten „Formen“ des ökonomischen Kampfes Bewusstsein entwickeln könnte:

Eine völlig verfehlte Auslegung des marxistischen Determinismus, eine bornierte Vorstellung von der Rolle, die die letztlich von ökonomischen Faktoren determinierten Bewusstseins- und Willensfaktoren bei der Herausbildung der revolutionären Kräfte spielen, lässt viele ein `mechanisches´ Organisationssystem anvisieren, worin die Masse, entsprechend der Stellung der einzelnen in der Produktion, ich möchte fast sagen, automatisch zusammengefasst würde. Man glaubt, die Masse würde sich dann unweigerlich für die Revolution in Bewegung zu setzen und dabei grösste revolutionäre Schlagkraft entwickeln.(6)

Es ist richtig zu sagen, dass der tägliche Klassenkampf nicht automatisch in der ganzen Klasse ein kommunistisches Verständnis hervorbringt. Ein solches Verständnis entwickelt sich auch nicht automatisch in jedem/r ProletarierIn. Selbst solche proletarischen Aktivisten wie Wilhelm Weitling (1808 – 1871) oder Josef Dietzgen (1828 – 1888), die viel zum sozialistischen Denken beitrugen, taten dies durch wissenschaftliche Studien der Geschichte der ArbeiterInnenklasse, deren Lehren sie für die Klasse in ihrer praktischen politischen Aktivität lebendig machten. Die Bedingungen der proletarischen Existenz ermöglichen es nur einer Minderheit, für solche Lehren unter kapitalistischer Ausbeutung empfänglich zu sein. Dies führt zur Bildung einer Partei und zur Umwandlung der Erfahrung der ArbeiterInnen in politisches Bewusstsein und Willenskraft.

Die Revolution braucht einen Organismus aktiver und positiver Kräfte, die durch Lehre und Zielsetzung gebündelt werden. Breite Schichten und zahllose Individuen, die der Klasse, in deren Interesse die Revolution siegen wird, materiell angehören, befinden sich ausserhalb dieser zusammengeballten Kraft. Aber die Klasse lebt, kämpft, geht voran und siegt durch das Werk jener Kräfte, die sie in den Geburtswehen der Geschichte aus ihrem Schoss herausgepresst hat. Die Keimzelle der Klasse ist die unmittelbare Gleichartigkeit der wirtschaftlichen Bedingungen, und dies erscheint als erste Triebkraft zur Überwindung, zur Zerschlagung des bestehenden Produktionssystems. Um aber diese grossartige Aufgabe zu erfüllen, braucht sie ihre Lehre, ihre kritische Methode, ihren Willen, die darauf gerichtet sind, das einzulösen, was Analyse und Kritik vorweggenommen haben, braucht sie ihre Kampforganisation, die die Anstrengungen und Opfer so kanalisiert und einsetzt, dass die grösstmögliche Wirkung erzielt wird. Und in all dem besteht das Dasein der Partei.(7)

Die Trugschlüsse des Bordigismus

Es gab jedoch einige Verzerrungen in Bordigas Sicht des Klassenbewusstseins. In den Jahren der Konterrevolution, in denen Bordiga jeden Kontakt mit seinen GenossInnen in der Italienischen Linken vermied, verfestigten sich diese Fehler zu politischen Positionen, die sich schließlich als äußerst regressiv erwiesen. Bordiga hat zu Recht darauf bestanden, dass man nicht wahllos von kommunistischem Bewusstsein im Proletariat oder von der Autonomie der Klasse sprechen kann:

Der Klassenbegriff darf also keine statische, sondern muss eine dynamische Vorstellung hervorrufen. Wo wir eine soziale Tendenz, eine Bewegung mit bestimmten Zielen wahrnehmen, existiert eine Klasse im wirklichen Sinne des Wortes. Aber dann existiert auch, wenn auch noch nicht formell, so doch in der Substanz, eine Klassenpartei.(8)

Aber es ist ganz falsch, von diesem Punkt auszugehen und zu behaupten, dass ohne die Existenz eine Klassenpartei auch keine Klasse existiere. Bordiga beharrte eindrücklich darauf,

dass man nicht einmal von Klasse sprechen kann, solange nicht eine Minderheit derselben dahin drängt, sich als politische Partei zu organisieren.(9)

Von hier aus ist es nur ein kurzer logischer Schritt, die Klasse an sich, die auf der Grundlage ihrer Klassenidentität ökonomische Kämpfe führt, als bloße Klasse für das Kapital abzustempeln und ihre Erfahrung als wertlos zu betrachten. In der Konzeption der Erben Bordigas, der diversen Spaltprodukte der sog. „Internationalen Kommunistischen Partei“ (I.K.P.), wird das Programm zu einer Reihe von Geboten, die von der Klassenerfahrung losgelöst sind oder bestenfalls durch sie bestätigt werden, anstatt, wie in der lebendigen marxistischen Konzeption, durch sie bereichert und weiterentwickelt zu werden:

Die marxistische Theorie ist ein einziger invarianter Block, von ihren Anfängen bis zu ihrem endgültigen Sieg. Das Einzige, was sie von der Geschichte erwartet, ist, dass sie immer strenger angewandt wird und folglich immer tiefere, unveränderliche Züge annimmt.(10)

Abgesehen davon, dass dies wie ein Abklatsch der Hegelschen Teleologie erscheint, läuft dieses Beharren auf die historische Invarianz nicht nur darauf hinaus, alle theoretischen Fortschritte und Modifikationen zu ignorieren, die Marx im Laufe seiner Überlegungen zur Entwicklung des Klassenkampfes entwickelte, sondern auch die Aktion der Klasse selbst, die wesentlich zum kommunistischen Programm beitrug, außen vor zu lassen. Die Entwicklung der Marx'schen Position zum Staat, von der (im Kommunistischen Manifest angedachten) Übernahme des Staates bis hin zu der Schlussfolgerung ihn im revolutionären Prozess zu zerschlagen, ergab sich beispielsweise direkt aus den Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871. Es ist zwar richtig, dass es die Pariser ArbeiterInnen waren, die in jenem Jahr „den Himmel stürmten“ (Marx), aber es war Marx, der auf der Grundlage der Erfahrungen der Kommune die Theorie der proletarischen Diktatur entwickelte, und nicht die Pariser ArbeiterInnen. Dennoch war es die konkrete Klassenerfahrung, die die Grundlage für die Entwicklung der marxistischen Theorie lieferte - in diesem Fall wie auch in anderen.

Partei und Klasse

Die Fehleinschätzungen Bordigas, die später in den verschiedenen bordigistischen „Internationalen Kommunistischen Parteien“ als regelrechte Karikaturen ihre Blüten trieben, sind jedoch in der Tradition der italienischen Linken nicht unwidersprochen geblieben. Die Erkenntnis, dass es für die ArbeiterInnenklasse notwendig ist, zu kämpfen um eine Klassenpartei zu entwickeln, die ihr revolutionäres Klassenbewusstsein verkörpert, ist stets von unseren Genossen der Partito Comunista Internazionalista (PCInt.) verteidigt worden. Sie argumentierten nachdrücklich, dass diese Partei nicht „das Produkt der letzten Minute“ sein kann, sondern dass sie existieren muss, um kommunistische Positionen innerhalb der ArbeiterInnenklasse vor jedem revolutionären Ausbruch zu verteidigen, wie schwach und unpopulär ihre Anziehungskraft unter den gegebenen Ausbeutungsbedingen auch sein mag. Auf dieser Grundlage wurde die Partito Comunista Internazionalista (PCInt) von Onorato Damen, Luciano Stefanini und anderen 1943 in der Illegalität ins Leben gerufen.

Sie zog bald die meisten derjenigen Mitglieder der italienischen Linken an, die die Angriffe des Stalinismus, des Nazismus und des Faschismus innerhalb oder außerhalb Italiens überlebt hatten. Bordiga, der sich seit 1927 nicht mehr politisch betätigt hatte, unterstützte sie zunächst nicht. Anfangs riet er seinen Anhängern, in die stalinistische „Kommunistische“ Partei Italiens (PCI) von Togliatti einzutreten. Angesichts der Erfolge der neuen Partei begann er jedoch schließlich die PCInt zu unterstützen. Seine Ideen waren jedoch inzwischen ziemlich versteinert, und er begann bald, die Gründungsprinzipien der PCInt in Frage zu stellen. Es gab viele Konfliktthemen, entlang denen er die Partei 1951 spaltete, aber die Frage nach dem Wesen und der Rolle der Partei war eines der wichtigsten. Die „Bordigisten“ (wie sie fortan genannt wurden) entwickelten die Position, dass:

Der proletarische Staat (…) nur von einer einzigen Partei beseelt werden (kann) (…)Die kommunistische Partei wird also allein regieren und nie ohne physischen Kampf der Macht entsagen.(11)

Dagegen argumentierte die Partito Comunista Internazionalista in ihrer Politischen Plattform von 1952:

Es gibt keine Möglichkeit der Emanzipation der Arbeiterklasse, noch des Aufbaus einer neuen Gesellschaftsordnung, wenn diese nicht aus dem Klassenkampf hervorgeht. (…) Zu keinem Zeitpunkt und aus keinem Grund darf das Proletariat seine kämpferische Rolle aufgeben. Es delegiert seine historische Mission nicht an andere, und es gibt die Macht an niemanden ab, auch nicht an seine politische Partei.(12)

Der Bordigismus versteifte sich auf die Thesen der Komintern von 1920, die, wie wir gesehen haben, zu einem Zeitpunkt verfasst wurden, in dem der Prozess der Transformation der russischen Partei zu einer herrschenden Klasse bereits im Gange war. In der Tat krankt das „invariante“ kommunistische Programm des Bordigismus an einer selektiven Art der Invarianz. Die Idee, dass die ArbeiterInnenklasse einen Einparteienstaat braucht, wird ihrem Dogma hinzugefügt, doch die Möglichkeit, dass die Räte einen Halbstaat entwickeln, der absterben wird, sobald die Bourgeoisie unterdrückt ist, erscheint ihnen als eine gefährliche Neuerung! Es ist relativ einfach, die Fehler der Bordigisten zu kritisieren. Weitaus schwieriger ist es, darauf aufbauend eine kohärente marxistische Position zum Klassenbewusstsein zu erarbeiten. Da wir der Meinung sind, dass unsere italienischen GenossInnen diesbezüglich viel geleistet haben, lassen wir sie ausführlich zu Wort kommen:

Wir kommen noch einmal auf den wesentlichen Punkt der kommunistischen Lehre zurück, wonach es einen großen Unterschied zwischen `Klasseninstinkt´ und `Klassenbewusstsein´ gibt. Das erste entsteht und entwickelt sich innerhalb der Arbeiterkämpfe als Erbe der Arbeiter selbst; es entspringt dem Antagonismus der materiellen Interessen und wird durch die wachsenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen genährt, die dieser Antagonismus mit sich bringt. Das zweite Bewusstsein entsteht aus der wissenschaftlichen Untersuchung der Klassenwidersprüche, es wächst mit der zunehmenden Kenntnis dieser Widersprüche; es lebt und wird genährt durch die Untersuchung und Ausarbeitung von Fakten, die aus den historischen Erfahrungen der Klasse stammen ... Sozialistisches Bewusstsein ist wissenschaftliche Reflexion über die Erfahrungen der Klasse und über die Probleme, die sie aufwirft, entwickelt von denjenigen, die die Mittel haben, diese Reflexion durchzuführen, und die sich politisch mit der Klasse identifizieren.(13)

Diese Diskussion führt uns zurück zu den Fragen, die in den ersten beiden Texten dieser Artikelreihe gestellt wurden. Der scheinbare Widerspruch zwischen den Marx'schen Ideen, dass „die herrschenden Ideen überall die der herrschenden Klasse sind“, aber „die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiter selbst sein kann“, kann nur dadurch gelöst werden, dass man anerkennt, dass die Organisation des Proletariats zwei Aufgaben angehen muss. Erstens braucht sie ein politisches Instrument, das ihr kollektives, antikapitalistisches Bewusstsein eint und ausarbeitet. Dieses Organ (die Partei) überführt die abstrakten Lehren aus der proletarischen Erfahrung der Vergangenheit in ein konkretes Programm der Klassenaktion. Zweitens braucht es Organe der Klasse (die Räte), die, wenn sie sich das kommunistische Programm zu eigen machen, die wirklichen Instrumenten der Umgestaltung der Gesellschaft werden.

Die bloße Existenz dieser zwei Organisationsformen ist allein noch keine Garantie für den Sieg des Proletariats. Doch ohne diese beiden (oder anderen noch unentdeckten Organisationsformen) können wir nicht einmal von der realen Möglichkeit des Erfolgs sprechen.

Das Wesen einer Klassenpartei

Eine weitere Frage, die sich ganz natürlich aus der Abspaltung der Bordigisten von der PCInt stellte, ist das Wesen der Klassenpartei. Die meisten Menschen, die die Idee der proletarischen Emanzipation unterstützen, aber die Idee der Partei ablehnen, begründen ihre Ansicht meistens mit den negativen Erfahrungen der Vergangenheit. Dies gilt insbesondere für die tragische Entwicklung der bolschewistischen Partei zu dem stalinistischen Monstrum, zu dem sie in den 1930er Jahren wurde. Diese Entwicklung begann bereits vor Lenin und war, wie wir gesehen haben, eng damit verbunden, dass die Partei zum Staat selbst wurde.

Das Fraktionsverbot auf dem Zehnten Parteitag von 1921 ist in dieser Hinsicht von enormer Bedeutung, denn es bedeutete auch, dass die Bolschewiki eine ihrer früheren größten Stärken aufgaben, nämlich die Existenz einer Vielzahl von Meinungen innerhalb der Partei. Der Mangel an Monolithismus der Bolschewiki bestimmte ihre Dynamik innerhalb der ArbeiterInnenklasse.

Die Orientierung der Bolschewiki auf die ArbeiterInnenklasse und ihre weitgehend isolierte Position, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg umzuwandeln, waren die Grundlage für ihre Transformation in ein wirkliches Instrument der Klasse im Jahr 1917.

Der Bolschewismus entsprang nicht den Seiten von „Was tun?“, sondern dem direkten Anknüpfen am zunehmenden Klassenbewusstsein im Verlaufe des Krieges.(4) Die wichtige Erkenntnis aus dieser Episode ist, dass die Partei, wie klein sie auch sein mag (die Bolschewiki hatten im Februar 1917 nur 8.000 Mitglieder), vor einem allgemeinen revolutionären Ausbruch existieren muss. Indem sie das revolutionäre Programm (das aus der historischen Erfahrung der ArbeiterInnenklasse hervorgegangen ist) innerhalb der ArbeiterInnenklasse aufrechterhält (wie unpopulär dies kurzfristig auch erscheinen mag), kann sie zu einem Attraktionspol werden, um den sich die ArbeiterInnenklasse bei ihrem ersten Angriff auf den Kapitalismus gruppiert.

Innerhalb der bolschewistischen Partei galt das Leitprinzip des „demokratischen Zentralismus“. Das bedeutete, dass die Parteiführung von ihren Mitgliedern gewählt wurde und dass die wichtigsten politischen Fragen von Kongressen und Konferenzen der gesamten Mitgliedschaft entschieden wurden. In den Jahren vor 1917 und bis 1921 war die bolschewistische Partei durch scharfe Meinungsverschiedenheiten und ernsthafte, aber lebhafte Debatten auf allen Ebenen gekennzeichnet. Es war diese Fähigkeit zur Initiative der Basis, die den Bolschewismus zu einer so dynamischen Kraft innerhalb der ArbeiterInnenklasse machte. Diese Aktivität der Basis war in der Tat eine bessere Garantie für ein gesundes Organisationsleben als der „demokratische Zentralismus“ an sich. Denn mit dem Niedergang der lokalen Initiative während des Bürgerkriegs begann auch die Partei zu degenerieren. Unter Stalin wurde diese Entartung durch die Verfälschung der Parteigeschichte vervollständigt. Monolithismus und „Disziplin“ wurden als die Quellen des Erfolgs der Partei im Jahr 1917 identifiziert und gepriesen. Diese Umschreibung und Entstellung der wirklichen Geschichte des Bolschewismus war von zentraler Bedeutung für den stalinistischen Mythos von der allwissenden Partei (und dem Großen Führer).

Das demokratische Element im „demokratischen Zentralismus“ wurde zunächst untergraben durch Stalins Kontrolle über die Ernennung der lokalen Parteisekretäre (die die Wahlen manipulierten), und dann durch das System der Patronage, das die Umwandlung der einstmals kämpferischen revolutionären Kraft in eine neue herrschende Klasse vollendete. Der Terminus des „demokratischen Zentralismus“, der weitestgehend nur als stalinistischer Zentralismus verstanden wurde und wird, ist auch heute noch für viele Menschen ein unangenehmer Begriff. Die entscheidende Frage ist nicht, wie man es nennt, sondern die Erkenntnis, dass es nicht nur eines einzigen Mechanismus bedarf, mit dem die Parteimitglieder über die Politik und die Richtung ihrer eigenen Partei entscheiden können. Die Duldung von Fraktionen, und sogar Tendenzen, und ein Mechanismus zur Gewährleistung der internen Demokratie sind grundlegend für die Vitalität einer revolutionären Organisation.

Angesichts ihres eigenen Kampfes gegen die Degeneration der Komintern widmete die Italienische Linke auch dieser Frage ein besonderes Augenmerk. Als der „demokratische Zentralismus“ durch den Prozess der „Bolschewisierung“ in sein Gegenteil verkehrt wurde (also in den Stalinismus), vertrat sie die Idee, dass etwas mehr nötig sei. In den Thesen der Kommunistischen Linken auf dem Kongress von Lyon der Kommunistischen Partei Italiens schrieben sie:

Ein weiterer Aspekt der Bolschewisierungsparole besteht darin, eine vollständige disziplinäre Zentralisierung und das strenge Verbot des Fraktionismus als sichere Garantie für die Schlagkraft der Partei zu betrachten. Die höchste Instanz für alle Streitfragen ist das internationale Zentralorgan, in dem man wenn nicht unbedingt hierarchisch, so doch zumindest politisch der Russischen Kommunistischen Partei eine Hegemonie zuerkennt. Diese Garantie existiert in Wirklichkeit nicht. Das ganze Problem ist falsch gestellt. In der Tat hat man es nicht vermieden, dass der Fraktionismus in der Internationale sein Unwesen treibt; im Gegenteil, man hat dessen verhohlene und heuchlerische Formen ermutigt. Ausserdem ist vom historischen Standpunkt die Überwindung der Fraktionen in der russischen Partei weder ein Kunstmittel gewesen, noch ein auf statutenmässiger Ebene angewandtes Rezept mit Zauberwirkung; sie war im Gegenteil Ergebnis und Ausdruck des richtigen Herangehens an die Probleme der Theorie und der politischen Aktion. Disziplinäre Sanktionen sind eines der Elemente, die gegen Entartungen garantieren. Das setzt jedoch voraus, dass ihre Anwendung in den Grenzen der Ausnahmefälle bleibt und nicht zur Norm und beinahe zum Ideal des Parteilebens wird. Einerseits liegt die Lösung nicht in einer leeren Übersteigerung des hierarchischen Autoritarismus (dem die anfängliche Investitur fehlt, sei es wegen der Unvollständigkeit der nichtsdestotrotz grossartigen geschichtlichen Erfahrung der russischen Partei, sei es weil in der alten Garde selbst, Hüter der bolschewistischen Tradition, in der Tat Meinungsverschiedenheiten auftauchen, deren Lösung nicht a priori als die beste betrachtet werden kann); andererseits liegt sie auch nicht in einer systematischen Anwendung der Prinzipien der formalen Demokratie, die im marxistischen Lager nur den Platz einer unter Umständen bequemen organisatorischen Handhabe einnehmen.Die kommunistischen Parteien müssen einen organisatorischen Zentralismus verwirklichen, der bei einem angemessenen Maximum an Befragung der Basis die spontane Beseitigung jeder zu einer Differenzierung neigenden Gruppierung sichert. Das erreicht man nicht mit formellen und mechanischen, hierarchischen Vorschriften, sondern, wie Lenin sagt, mit der richtigen revolutionären Politik.(14)

Diese Suche nach einer neuen Organisationsform war angesichts der Degeneration sowohl der Kommunistischen Partei der Sowjetunion als auch der Komintern durchaus verständlich. So kam die Italienische Linke auf die Idee, dass etwas mehr als ein bloßer „demokratischer Zentralismus“ nötig wäre, um den zerfallenden Organen der Oktoberrevolution neues revolutionäres Leben einzuhauchen. Da Stalin die Abstimmungen in der russischen Partei und in den meisten anderen Parteien (mittels allerlei bürokratischer Tricks und Druckmittel) formal „demokratisch“ gestaltet hatte, spielte der Zentralismus letztlich nur den Exekutivorganen in die Hände.

Die Idee des „organischen Zentralismus“ sollte dafür sorgen, dass innerhalb der Komintern und ihrer Parteien mehr diskutiert und debattiert werden konnte. Das eigentliche Problem war jedoch ein historisches. Die Konterrevolution hatte die proletarisch-revolutionäre Welle von 1917-21 zum Stillstand gebracht, und die Kräfte des Konservatismus hatten nicht nur die Kapitalisten, sondern auch eine Komintern eingenommen, die zum bloßen außenpolitischen Instrument der UdSSR geworden war. Natürlich wurden die Thesen der Linken von der Führung um Antonio Gramsci abgelehnt (die es schaffte, die Abstimmung durch die Drohung, die Gehälter hauptamtlichen Kader, die einen wesentlichen Teil der Delegationen bildeten, zu streichen.(15). Die Linke wurde daraufhin aus der Partei, die sie einst gegründet hatte, ausgeschlossen.

Die Idee des „organischen Zentralismus“ wurde somit für die nächsten 25 Jahre begraben. In der Nachkriegszeit tauchte sie erst wieder auf, als die bordigistische Strömung, die sich innerhalb der Partito Comunista Internazionalista (dem wahren historischen Erbe der Italienischen Linken) herausbildete, ihrer Abspaltung von der PCInt vorbereitete. Doch diese Wiederbelebung des „organischen Zentralismus“ ging jedoch eindeutig in eine autoritärere Richtung als zu den Zeiten des Fraktionskampfes in der Komintern. Dies wurde besonders in der Diskussion zwischen Onorato Damen (einem der Hauptgründer der PCInt) und Bordiga deutlich. Damen argumentierte, dass der „organische Zentralismus“ nach der Definition von Bordiga eine Steilvorlage für eine Diktatur innerhalb der Partei sei. In der Tat hatte Bordiga das Konzept des „organischen Zentralismus“ eine Stufe weitergetrieben als in den Thesen von Lyon (die Abstimmungen oder „formale Demokratie“ einforderten, wenn dies als notwendig erachtet wurde). Jetzt vertrat Bordiga die folgende Auffassung:

Aber der entstehende Organismus, der die ganze von den Prüfungen der Geschichte bestätigte Tradition der Lehre und der Praxis benutzt, wendet diese auch in seinen täglichen Tätigkeiten an, die die Wiederherstellung eines sich stets verstärkenden Kontakts mit den ausgebeuteten Massen zum Ziel haben, und er streicht aus seinen eigenen Strukturen einen der Fehler, die ihren Ursprung in der Moskauer Internationale haben, die These des demokratischen Zentralismus und die Anwendung jeglicher Wahlmaschinerie, so wie er aus der Weltanschauung, auch des letzten Mitglieds, jegliches Zugeständnis an Neigungen demokratoider, pazifistischer, autonomistischer und libertärer Art gestrichen hat.(16)

Onorato Damen lehnt den „organischen“ Aspekt des Zentralismus nicht völlig ab, sondern bekräftigt, dass der „demokratische Zentralismus“ zwar nicht perfekt sei, aber letztlich die einzige gesunde Art und Weise darstelle, in der die Beziehung zwischen der Mitgliedschaft einer proletarischen Weltpartei und ihrer gewählten Führung, „zwischen Freiheit und Autorität“, aufrechterhalten werden könne. Mit anderen Worten: In einigen Punkten, in denen die Diskussion nicht zu einem Konsens führt, müssen die Fragen zwangsläufig durch Abstimmungen der Mitglieder entschieden werden. Bordiga begründete seine Ablehnung des „demokratischen Zentralismus“ damit, dass er von den Parteien der Dritten Internationale nur angewandt wurde, weil sie „unrein“ waren, doch wie Damen hervorhob, wird es niemals vollkommen „reine“ Kommunistische Parteien geben, da selbst in den fortschrittlichsten ArbeiterInnen alle möglichen kapitalistischen Hinterlassenschaften schlummern, die nur unter einer anderen Produktionsweise überwunden werden können:

Lenins Internationale hatte sicherlich ihre Schwächen, die auf die Unreife der historischen Periode nach dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale und der damaligen Krise der kapitalistischen Welt zurückzuführen sind. Jede proletarische Organisation reproduziert, wenn auch in fortgeschrittener Form und in umgekehrtem Verhältnis, die Merkmale der historischen Periode, in der sie entstanden ist. Und es ist sicher, dass die negativen Aspekte, die in der Dritten Internationale vorhanden waren, auch in zukünftigen internationalen Organisationen vorhanden sein werden, wenn auch in anderer Form, wie die objektiven Bedingungen, unter denen die verschiedenen linkskommunistischen Gruppierungen arbeiten, die heute das Recht beanspruchen, einen Beitrag zum Wiederaufbau der internationalen proletarischen Partei zu leisten, deutlich beweisen. Unter diesen Gruppierungen leidet das bordigistische `Kommunistische Programm´ am meisten unter Intoleranz und Krisen, da hier die Dynamik des demokratischen Zentralismus am stärksten wirkt, wie der explosive Kreislauf der inneren Widersprüche.(18)

Er argumentierte auch, dass der Mechanismus des „demokratischen Zentralismus“ innerhalb der Partei unerlässlich sei, um sicherzustellen, dass die Mitglieder angemessen auf den revolutionären Kampf vorbereitet sind. Diese Befürwortung des „demokratischen Zentralismus“ hat nichts mit dem Stalinismus zu tun, der sich hinter diesem Begriff versteckt, um einen reinen Zentralismus zu zelebrieren, der nichts Demokratisches an sich hat. Wie das obige Zitat zeigt, argumentierte er, dass Bordigas Verachtung für die innerparteiliche Demokratie nicht nur dem Stalinismus nahe stünde, sondern bereits unmittelbar nach ihrer Abspaltung 1952 schwerwiegende Folgen für seine Anhänger hatte. Die bordigistische Strömung hat sich im Laufe ihrer Geschichte mehrmals gespalten (teilweise, wie Damen oben ausführte, als Folge des Versuchs, einen künstlichen organischen Zentralismus aufrechtzuerhalten), wobei jedes Spaltprodukt (bzw. „Internationale Kommunistische Partei“) den Anspruch erhob, die einzig wahre Verkörperung der proletarischen Avantgarde zu sein. So wie es „keine Landstraße für die Wissenschaft“ gibt, wie Marx in seiner Einleitung zum Kapital bemerkte, so gibt es auch keine Abkürzung zum Kommunismus. Er wird erst dann verwirklicht werden, wenn das Proletariat die Lehren aus seinen früheren Kämpfen und Niederlagen vollständig verdaut und verstanden hat. In der Zwischenzeit lässt dies in den politischen Vorhutorganisationen der Klasse viel Stoff und Raum für Debatten und Diskussionen über den Weg der proletarischen Emanzipation.

Deshalb ist es nicht nur wichtig, dass wir uns darüber einig sind, dass Diskussionen und Debatten innerhalb der Partei notwendig sind, sondern sie müssen auch aktiv gefördert werden. Das bedeutet natürlich nicht, dass es keine Grenzen für die Diskussion gibt, aber in jeder Phase des historischen Kampfes der ArbeiterInnenklasse bereiten die Lehren aus ihrem vergangenen Kampf eine Reihe von Parametern vor, innerhalb derer eine solche Debatte stattfinden kann. Innerhalb dieser Parameter (ob in einer Plattform oder einem Programm verankert) muss ein Höchstmaß an Freiheit gewahrt werden, damit sich ein wirkliches Kampforgan der ArbeiterInnenklasse entwickeln kann. Fraktionen und Tendenzen (die im Laufe des Kampfes gegen den Kapitalismus unweigerlich auftauchen und wieder verschwinden werden) müssen nicht nur geduldet, sondern mit vollem Recht zur Debatte gestellt werden. Wie Damen in dem bereits zitierten Text ausführte:

In dieser ständigen dialektischen Beziehung zwischen der Mitgliedschaft und der Führung der Partei, in dieser notwendigen Integration von Freiheit und Autorität, liegt die Lösung des Problems...(18)

Eine Partei muss zu einer zentralisierten gemeinsamen Aktion fähig sein, um den Klassenfeind zu besiegen, aber eine sinnvolle Einheit wird nicht ohne ständigen Dialog zwischen ihren Mitgliedern erreicht. Dies ist nur eine der vielen Lehren, die wir aus der Zeit der Konterrevolution ziehen müssen. Sie haben "nichts gelernt und nichts vergessen" sagte man einst über die Bourbonen. Mit dem Bordigismus verhält es sich genauso.

Zum Weiterlesen:

Der Niedergang der Russischen Revolution und der Parteikult: leftcom.org

Partei und Klasse in der revolutionären Welle von 1917-1921: leftcom.org

Spontanität und Organisation in der russischen Februarrevolution: leftcom.org

Am Vorabend der Revolution: Die Debatte zwischen Lenin und Luxemburg: leftcom.org

Die Ära der Sozialdemokratie und der Kampf gegen den Revisionismus: leftcom.org

Marx, Engels und die Frage der proletarischen Aktion: leftcom.org

Die Entwicklung proletarischen Klassenbewusstseins: leftcom.org

Idealismus und bürgerlicher Materialismus: leftcom.org

Anmerkungen:

(1) Leitsätze über die Rolle der Kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution: sinistra.net

(2) Ebenda.

(3) Ebenda.

(4) Zur Vertiefung dieser Probleme siehe auch das kürzlich von unseren britischen GenossInnen publizierte Buch: Russia: Revolution and Counterrevolution 1905-1924 – A view from the Communist Left: leftcom.org

(5) Amadeo Bordiga in Il Soviet, 22.2.1920.

(6) Amadeo Bordiga : Partei und Klasse, 1921: sinistra.net

(7) Ebenda.

(8) Ebenda.

(9) Ebenda.

(10) Communist Programme Nr. 2, S. 7: pcint.org

(11) Proletarische Partei und Klassendiktatur:sinistra.net

(12) Piattaforma Politica del Partito Comunista Internazionalista: leftcom.org

(13) Prometeo, Erster Jahrgang 1978.

(14) Thesen von Lyon (1926) sinistra.net

(15) Die örtlichen Parteisekretäre wurden von der Partei bezahlt. Gramsci schärfte ihnen ein, dass sie sie für die Thesen der Komintern stimmen müssten, wenn sie nicht ihr Gehalt und damit ihren Lebensunterhalt verlieren wollten. Dies ist ein Grund, warum die Italienische Linke einen Apparat von hautamtlichen „Berufsrevolutionären“ immer als eine gefährlich Sache angesehen hat, die letztlich proletarische AktivistInnen von ihrem Arbeitsumfeld und ihren KollegInnen entfremden könnte. Allenfalls in Zeiten der Illegalität die klandestine Tätigkeiten erfordere, wurden hauptamtliche Kader für notwendig erachtet. Siehe die Einleitung zu unserer Broschüre Plattform der Comitati di Intesa 1925 für weitere Einzelheiten: leftcom.org Für eine vertiefte Kritik an Antonio Gramsci, dem Liebling der bürgerlichen Linken siehe auch Onorato Damen: Gramsci between Marxism and Idealism: leftcom.org

(16) Betrachtungen über die organische Aktivität der Partei, wenn die allgemeine Lage historisch ungünstig ist: sinistra.net

(17) Onorato Damen: Centralised Party, Yes – Centralism over the Party, No!: leftcom.org

(18) Ebenda. Zur Auseinandersetzung mit Bordiga siehe auch das Buch: Onorato Damen: Bordiga Byond the Myth: leftcom.org

Friday, January 20, 2023