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Startseite ›Die Wahlen in Chile
Es schien unwahrscheinlich, doch dann geschah es: Am 19. Dezember 2021 besiegte der Mitte-Links-Kandidat Gabriel Boric den ultrareaktionären rechten Kandidaten José Antonio Kast bei den chilenischen Präsidentschaftswahlen. Wahrscheinlich war es auch die Befürchtung, dass letzterer - der sich offen nostalgisch nach der "guten alten Zeit" der Pinochet-Diktatur sehnte - Präsident werden würde, die einen Teil der WählerInnen dazu veranlasste, zur Wahl zu gehen, wodurch die Zahl der Enthaltungen auf 44 % sank, während sie normalerweise bei rund 50 % oder deutlich darüber liegt.
Boric hat nicht nur mit großem Vorsprung gewonnen (56 %). Er ist der jüngste Präsident in der Geschichte Chiles. Zu seiner Unterstützung haben die Parteien und Zirkel" der linken Mitte und der parlamentarischen Linken das Wahlkartell Apruebo Dignidad gebildet, zu dem auch die Frente Amplio(1) und die chilenische „kommunistische" Partei gehören (die Anführungszeichen sind hier obligatorisch).
Bezeichnend ist auch, dass er mehrheitlich in den ärmeren Vierteln der Großstädte gewählt wurde, was ein deutliches Zeichen dafür ist, dass zumindest ein Teil der ArbeiterInnenklasse auf eine Verbesserung ihrer eigenen miserablen Lebensbedingungen durch Boric hofft. Die Zahlen des „Wirtschaftswunders", das das Land nach dem Putsch von 1973 erlebte, erfüllte die chilenische Bourgeoisie und die Institutionen der internationalen Bourgeoisie, wie den IWF oder die OECD, stets mit Genugtuung, nicht aber diejenigen, die hinter diesem angeblichen Wunder stehen, das Proletariat.
Nach dem Massaker, das die Pinochet-Junta in Absprache mit und auf Betreiben der CIA anrichtete, ist die (offizielle) Armut von 30 % auf 6,7 % gesunken, das Pro-Kopf-BIP hat sich verdreifacht und Chile ist damit zum reichsten Land Lateinamerikas geworden. Wir wissen jedoch, dass Statistiken für sich genommen bedeutungslos sein oder sogar die Realität verzerren können. Die Behauptung, dass das Pro-Kopf-BIP sich verdreifacht habe, bedeutet nicht, dass der erwirtschaftete Reichtum gleichmäßig durch einen „trickle down-Effekt“ auf alle Bevölkerungsschichten "herabrieselt", um den von den berüchtigten „Chicago Boys" genutzten Begriff zu verwenden. Angeführt wurden diese von dem nicht minder berüchtigten Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman, Berater der mörderischen Junta, die das Land fast zwanzig Jahre lang in ihrer Gewalt hatte, und Prophet der sogenannten neoliberalen Politik, die von der internationalen Bourgeoisie in den letzten Jahrzehnten verfolgt wurde. Der Grundgedanke der "trickle down"-Theorie ist, dass sich der Staat aus der direkten Steuerung der Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Bereiche zurückziehen und so ein so starkes Wirtschaftswachstum freisetzen solle, dass Geld zwangsläufig nach unten abfließen müsse. Es müssten also nur die Hindernisse beseitigt werden, die der Expansion der Unternehmen im Wege stehen, einschließlich der "öffentlichen" Verwaltung der wesentlichen Dienstleistungen (Gesundheit, Schule, Verkehr). Die Privatisierung all dessen was privatisiert werden kann, und selbst die administrative Kontrolle der aufgeschobenen Löhne (Renten) sollen direkt in die Hände der Privatunternehmen gelegt werden. Natürlich nicht zu vergessen, dass die Steuern für die Reichen und "Unternehmen" gesenkt werden. Damit dieses "hydraulische" Experiment erfolgreich sein könne, müsse nach Ansicht der Chicago Boys - die ArbeiterInnenklasse zum zur Knetmasse in den Händen des Kapitals werden. Sie solle den Bedürfnissen des Kapitals völlig untergeordnet werden, so dass jede Form des Widerstands der ArbeiterInnen im weitesten Sinne des Wortes - sei es nun in den fügsameren Formen der offiziellen Gewerkschaftsbewegung oder in den weniger kooperativen Formen der Basisgewerkschaften und erst recht im spontanen Kampf außerhalb und gegen die Gewerkschaft - beiseite gefegt und im Keim erstickt werden. Es ist das übliche dramatische Szenario eines Kapitals, das es sich unter der Peitsche bestimmter Sachzwänge nicht mehr leisten kann, die Verwaltung der Belegschaft mit der Gewerkschaft und den bürgerlichen linken Parteien zu teilen, so dass es keine andere Wahl hat, als zur offenen Gewaltanwendung überzugehen und die Fiktion der bürgerlichen Demokratie über Bord zu werfen. Dies geschah in Chile mit Pinochet (und dann in fast ganz Südamerika) in solch einem Maße, dass das Streikrecht faktisch abgeschafft wurde, was ein weiterer Beweis dafür ist, dass derartige „Rechte" nichts anderes sind als der Ausdruck bestimmter Kräfteverhältnisse unter bestimmten sozioökonomischen Bedingungen (und die Macht liegt in der Regel auf der Seite der Bourgeoisie.)
Die Verschärfung der Unterdrückung und Ausbeutung des Proletariats war und ist also die Grundlage für die "Erfolge" der chilenischen Wirtschaft, die bis vor einem Jahrzehnt durch den Anstieg der Rohstoffpreise, darunter Kupfer und Lithium, begünstigt wurden, einem der wichtigsten Exportartikel des Landes. Doch das chilenische Proletariat hatte, wie gesagt, trotz der triumphalen Statistiken nur wenig vom sog. „Wirtschaftswunder“ profitiert. In kaum einem Land ist die soziale Ungleichheit so ausgeprägt wir in Chile. 1 % der Bevölkerung besitzt 26,5 % des nationalen Reichtums während die ärmsten 50 % über 2 % verfügen. Es ist schwer vermittelbar, wie in einem Land, in dem die Armut angeblich deutlich zurückgegangen sein soll, 70 % der Bevölkerung verschuldet sind (12,6 Millionen von 18 Millionen EinwohnerInnen und ein Drittel von ihnen nicht in der Lage sind, ihre Schulden zurückzuzahlen. Hinzu kommt, dass das „öffentliche" Gesundheitssystem weitgehend zerschlagen ist. Um eine ernsthafte Versorgung zu erhalten, muss man zahlen, und zwar nicht gerade wenig. Das gleiche gilt für das Schulsystem und die Renten, die jetzt in den Händen des Privatkapitals liegen. Das Rentenniveau ist zu niedrig, um ein "würdiges" Leben zu ermöglichen. Es ist proportional noch niedriger als die Durchschnittslöhne.
Der Verfall der Rohstoffpreise seit 2010 und die daraus resultierende Verlangsamung der Wirtschaft hatten jedoch unweigerlich Folgen für die ArbeiterInnenklasse. Ihr Elend hat sich vergrößert. Nach den Warnungen der StudentInnenbewegungen von 2006 und 2011 entlud sich schließlich die Wut in den großen sozialen Kämpfen des Herbstes 2019. Jeder wird sich daran erinnern, dass der Auslöser dafür eine weitere Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr war, aber die Wurzeln lagen tiefer. Zusammengefasst wurde dies in dem Slogan „Es geht nicht um 30 Pesos [den Fahrpreis], es geht um 30 Jahre", eine offensichtliche Anspielung auf die Jahrzehnte „neoliberaler" Politik. Generalstreiks, Zusammenstöße auf der Straße, bei denen die bürgerlichen Ordnungskräfte jede Art von bürgerlicher Gewalt sog. „geringer Intensität" ausübten, einschließlich der Vergewaltigung von Frauen in Armee- und Polizeikasernen (aber auch auf der Straße), Tötungen und dauerhafte schwere Verletzungen durch den Einsatz von Schusswaffen, zwangen den damaligen Präsidenten Piñera zu einigen milden Zugeständnissen. Doch die staatliche Gewalt schuf oder, besser gesagt, verschärfte den Widerstand gegenüber einer immer weniger erträglichen Situation für wachsende Teile der Bevölkerung. In diesem Krisenszenario zahlten die ArbeiterInnenklasse und die ihr am nächsten stehenden sozialen Schichten wie üblich den Preis. Dann kam die Pandemie, die die negativen Auswirkungen der zugrundeliegenden Krise auf die ArbeiterInnenklasse im Allgemeinen und auf junge Menschen und Frauen im Besonderen noch verstärkte. Bis zum letzten Sommer hat Piñera nichts unternommen, um die ernsten Schwierigkeiten der ArbeiterInnenklasse zu lindern, so dass viele Menschen beträchtliche Summen aus ihrer Rentenkasse abheben mussten, um irgendwie bis zum Monatsende durchzukommen (mit schweren Folgen für ihre Renten). Gleichzeitig wurde die Mittel- und Oberschicht mit Hilfen überhäuft, mit dem doppelten Ziel, günstige Bedingungen für den künftigen Präsidentschaftskandidaten der Rechten zu schaffen und den Konsum und damit das BIP künstlich zu steigern. All dies reichte jedoch offensichtlich nicht aus, um den Sieg von Boric zu verhindern, der ein ehrgeiziges Reformprogramm vorgelegt hat: Eine radikale Reform des Renten-, Gesundheits- und Bildungssystems, eine progressive Besteuerung, der Schutz und die Ausweitung der so genannten Bürgerrechte (LGBT, gleichgeschlechtliche Ehen usw.), die Entwicklung einer "grünen" Wirtschaft und die Revision einiger Bergbauverträge, die die Umwelt und seltene Tierarten bedrohen. Dies sind zusammengefasst die charakteristischsten Elemente der Agenda des neuen Präsidenten, die jedoch auf zahlreiche Hindernisse stoßen. Erstens gibt es in dieser historischen Periode (die Krise bleibt die Krise) generell wenig Spielraum und noch weniger für große Reformprojekte, auch wenn der derzeitige Anstieg der Rohstoffpreise hilfreich sein kann, da Chile, wie bereits erwähnt, zu den weltweit führenden Produzenten und Exporteuren von Kupfer und Lithium gehört, Metallen, die an sich, aber insbesondere für den sog. „ökologischen Umbau“ unverzichtbar sind. Darüber hinaus würde eine starke Verringerung der Rolle der privaten Pensionsfonds - sowie der Unternehmen, die in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Steuererhöhungen für die Reichen usw. tätig sind - handfeste finanzielle Interessen berühren. Wir können also sicher sein, dass die Bourgeoisie alle Anstrengungen unternehmen wird, um die Reformen zu sabotieren oder zumindest zu verwässern. Bei einem Haushaltsdefizit von 13 % sind die Spielräume bereits sehr eng. Hinzu kommt, dass Boric nur auf eine sehr knappe Mehrheit in der Legislative zählen kann und einige seiner wichtigsten "Förderer" - darunter die Concertación, also Christdemokraten und Sozialdemokraten (z.B. Michelle Bachelet) - nicht bereit sind, ihm das zu erlauben, was sie nicht getan haben, als sie regierten. Selbst wenn die nächsten Wahlen Boric eine stabilere Mehrheit bescheren und die neue Verfassung dem Reformismus einen weniger holprigen institutionellen Weg ebnet, wird der junge Präsident versuchen müssen, zwischen den wirtschaftlichen Interessen der „fortschrittlichen" (wie sie sich selbst gerne sehen) Bourgeoisie und den Hoffnungen derer, die ihn gewählt haben, zu vermitteln.
Es ist nur allzu leicht vorherzusagen, dass sich bei letzteren Enttäuschung breit machen wird. Dies könnte der erste Schritt in einem politischen Reifungsprozess sein, wenn es einen politischen Bezugspunkt gäbe, der in der Lage wäre, Enttäuschung und Verbitterung in Treibstoff für den revolutionären Klassenkampf umzuwandeln. Leider ist dies, soweit wir wissen, heute nicht der Fall. Einmal mehr besteht die große Gefahr, dass die Entschlossenheit und der Kampfgeist, die in den letzten Jahren von bedeutenden Teilen des Proletariats zum Ausdruck gebracht wurden, im Nichts des inner-bürgerlichen Wahlkampfes enden werden. Das ist das Schicksal, das unsere Klasse immer ereilt, bis die revolutionäre Organisation, die Partei, die sich dialektisch aus diesen Kämpfen speist, ihre Wurzeln wieder dort verankert, wo sie sich entwickeln und entfalten muss.
CB, Battaglia Comunista(1) Die 2017 gegründete Frente Amplio (Breite Front) ist ein Zusammenschluss von fünf linken Parteien mit Positionen, die denen der spanischen Podemos sehr ähnlich sind.
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