USA: „Striketober“ eine beispiellose Streikwelle

Die Vereinigten Staaten haben eine Streikwelle in einem seit 1968 selten gesehenen Ausmaß erlebt. Im ganzen Land forderten von der Covid-19-Pandemie mitgenommene ArbeiterInnen eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Getrieben von den steigenden Lebenshaltungskosten übten diese Tausenden von ArbeiterInnen Druck auf ihre Chefs aus, um Lohnerhöhungen durchzusetzen. Davon wurden nahezu alle Bereiche der Wirtschaft erfasst.

Anstieg der Kämpfe

Konflikte nahmen in den Vereinigten Staaten bereits vor der Pandemie zu, beginnend mit den autonomen Kämpfen von LehrerInnen in West Virginia im Jahr 2018 (bei der 30.000 Streikende gegen ihre Gewerkschaften revoltierten). Es folgte ein Streik bei einer Frito-Lay-Snack-Food-Fabrik, einer Tochtergesellschaft von PepsiCo, in Kansas, bei der ein garantierter freier Arbeitstag in der Woche sowie Lohnerhöhungen durchgesetzt wurden. Ebenso kam es beim Kekshersteller Nabisco (eine Tochter des Riesen Mondelez) zu einem Konflikt, wo die Streikenden nach fünf Wochen Kampf Zugeständnisse durchsetzen konnten. Seit März 2020 wurden in den Vereinigten Staaten von dem Medium Payday Report 1.600 Streiks registriert. (2) Die Streiks im Oktober folgen daher einer deutlichen Zunahme der Kämpfe in den Vereinigten Staaten nach 50 Jahren weitgehender Passivität und faktischer Friedhofsruhe.

"Striketober"

Im Oktober traten in den USA mehr als 100.000 ArbeiterInnen in den Streik oder drohten mit Streik, eine beeindruckende Streikwelle, die bald als "Striketober" bezeichnet wurde. Am Donnerstag, den 14. Oktober, legten 10.000 Arbeiterinnen und Arbeiter des Landmaschinenherstellers John Deere die Arbeit nieder, um gegen niedrige Löhne und Arbeitsbedingungen zu protestieren. Der Stundenlohn sollte infolge eines ausgehandelten Deals nur um 6 Cent steigen. Ein lächerlicher Anstieg angesichts der jüngsten Gehaltserhöhung von Geschäftsführers John May, der im Jahr 2020 fast 14 Millionen Euro erhielt, eine Steigerung von 160% gegenüber 2019.(3)

Etwa 60.000 Beschäftigte der Film-und Fernsehbranche wurden am Montag, den 18. Oktober, zum Streik aufgerufen, während mehr als 24.000 Krankenschwestern und anderes Gesundheitspersonal in Kalifornien und Oregon am Montag, den 13. Oktober, für einen Streik stimmten, nachdem die Tarifverhandlungen mit dem privaten Krankenhauskonzern Kaiser Permanente ins Stocken geraten waren (31.000 Arbeiter). Unternehmen wie Kelloggs(4), John Deere und Kaiser Permanente konnten ihre Gewinne jedoch während der Pandemie deutlich steigern. Die Arbeiterinnen und Arbeiter forderten daher u.a. eine Lohnerhöhung von ca. 4% pro Jahr sowie längere Erholungspausen angesichts des mit der Pandemie verbundenen Burnouts.

Verallgemeinerung

Diese neue Situation scheint sich auf der ganzen Welt zu verallgemeinern und nimmt je nach Land andere Formen an. Portugal erlebte eine beispiellose Streikwelle, die die Gewerkschaften nicht aufhalten können. Zehntausende ArbeiterInnen in mehreren Branchen haben sich dem Kampf angeschlossen. Im September und Oktober streikten EisenbahnerInnen, LehrerInnen, ApothekerInnen, U-Bahn-Beschäftigte, Rettungskräfte, Beschäftigte des Finanzsamtes und des Justizwesens. Am 4. November führte diese Situation zur Auflösung des Parlaments.

Im Iran können die Massenstreiks und wilde Streiks, insbesondere im Ölsektor, als Teil derselben Kategorie wiederauflebender Kämpfe der ArbeiterInnen auf der ganzen Welt angesehen werden. (5)

Vor allem in Frankreich stellen die Chefs und das Management der Unternehmen fest, dass viele Arbeiterinnen und Arbeiter nicht an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und nach neuen Jobs suchen, eine seltsamen Form eines „latenten“ Streiks. Dieses Phänomen der Verweigerung sinnentleerter Arbeit verbreitet sich weltweit.

Aufgrund des Arbeitskräftemangels, der die Chefs dazu zwingt, die Löhne der Arbeiter, insbesondere der weniger gutbezahlten, zu erhöhen, ist die Ausgangslage für Streiks günstig. Um allgemeine Explosionen zu vermeiden, drängen die verschiedenen Bourgeoisien die Bosse zu Zugeständnissen.

Bedeutung

Die Vereinigten Staaten stehen wie der Rest dieser globalisierten Welt vor einem historischen Einschnitt, der durch die Pandemie offener zutage tritt. Ganze Sektoren der ArbeiterInnenklasse entwickeln von sich aus Kämpfe, ohne von den Gewerkschaften, die entweder diskreditiert sind oder von hochrangigen Gewerkschaftsfunktionären geführt werden, die Streiks verhindern wollen um ihre Posten, Privilegien und Bezüge nicht zu verlieren, zum Arbeitskampf aufgerufen zu werden. Die Gewerkschaften versuchen jedoch schnell, die Dinge wieder unter Kontrolle zu bekommen, um ihre Verlässlichkeit und Harmlosigkeit gegenüber den Bossen zu demonstrieren.

Dieser „Große Streik von 2021“ in den Vereinigten Staaten wurde hauptsächlich von unorganisierten ArbeiterInnen getragen, von schlecht bezahlten Servicekräften, scheinselbständigen FernfahrerInnen, Kurieren für Lieferdienste, Hotelangestellten, Restaurantangestellten, Einzelhandelsangestellten, ArbeiterInnen für lokale Bauprojekte, LehrerInnen und SchulbusfahrerInnen, Krankenschwestern, die von chronischen Überstunden "ausgelaugt" sind, LagerarbeiterInnen und ArbeiterInnen in der Lebensmittelindustrie, die 18 Monate hart gedrängt haben, Haushaltshilfen die von Vermittlungsagenturen beschäftigt werden usw. Die Liste ist lang ... trotz aller Vorhersagen, dass die ArbeiterInnenklasse schon vor langer Zeit verschwunden sei! Es ist leicht zu verstehen, dass diese sogenannten „Front-Line Worker“ in Wirklichkeit diejenigen sind, die den Kapitalismus am Laufen halten. Ohne sie hört alles auf.

Ein günstiger Moment im Showdown zwischen Bossen und ArbeiterInnen

Die Vernichtung von Arbeitsplätzen in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern in den letzten vier Jahrzehnten hat zig Millionen Niedriglohnjobs, minderwertigen Dienstleistungsjobs, befristeten Jobs, Teilzeitjobs, Jobs in der „Gig Economy“ (durch digitale Plattformen betriebene Akkordarbeit) und ähnliche „prekäre“ Jobs geschaffen. Die jüngste Covid-19-Krise hat die wirtschaftlichen Erschütterungen von 2020-21 verschärft und vertieft. Das Ausmaß von Niedriglohn- und prekären Jobs ist gravierend.

Viele ArbeiterInnen weigern sich mittlerweile für niedrige Löhne an unsichere Arbeitsplätze zurückzukehren. Dieses Phänomen wird sogar als „Great Resignation“ oder „Big Quit“ bezeichnet. (6) Wie Luis Feliz Leon und Dan DiMaggio in Labour Notes erklären: „Drakonische Überwachung, massive Überstunden, knapper Personalbestand, zweistufige Verträge und andere Formen der Überausbeutung haben dazu geführt, dass amerikanische Arbeiter weniger dazu neigen, solche Jobs anzunehmen.“(7) Im August sind schätzungsweise 4,3 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter nicht wieder an ihren alten Arbeitsplatz zurückgekehrt. (8)

Gleichzeitig haben die Ausweitung und Neubewertung der Arbeitslosenunterstützung es Millionen von ArbeiterInnen ermöglicht, weiterhin besser bezahlte Arbeitsplätze zu suchen, was die Bosse dazu veranlasst hat, höhere Löhne, zusätzliche Garantien und sogar Prämien in bestimmten Sektoren, insbesondere im Dienstleistungssektor anzubieten, wo der Arbeitskräftemangel am höchsten war. Doch die ArbeiterInnen halten weiterhin "ihre Arbeit zurück", wodurch weiterhin ein Arbeitskräftemangel entsteht. Ein Arbeitskräftemangel bedeutet in der Regel, dass die Löhne steigen müssen.

Ist dies der Beginn eines Perspektivwechsels für den Klassenkampf?

Die Umstrukturierung der Arbeitsmärkte steht jedoch erst am Anfang. Der "Große Streik von 2021" ist nur ein Symptom dafür. Rohstoffmärkte und die globale Verteilung von Gütern und Dienstleistungen unterliegen ähnlichen Spannungen und Veränderungen. Die Folgen der Flucht in die Finanzanlagenmärkte (Aktien, Anleihen, Derivate, Währungen, digitale Währungen, Finanzblasen etc.) werden sich unweigerlich bemerkbar machen. Wenn sie es tun, könnten sie sich als die beunruhigendsten Faktoren von allen erweisen.

In diesem neuen Zyklus des Kapitalismus werden weiterhin ArbeiterInnenkämpfe stattfinden. Um in die Offensive zu gehen, braucht es nicht nur eine Konfrontation mit den Bossen, sondern auch mit den Gewerkschaften. In diesem Sinne ist die autonome Organisation der ArbeiterInnenklasse mit dem Ziel, das Kräfteverhältnis der Klassen zu unseren Gunsten zu verändern, der einzige Weg, diese neue Phase des ArbeiterInnenkampfes zu entwickeln. Aber über diese Streiks hinaus werden sich alle wirtschaftlichen Kämpfe der Welt irgendwann erschöpfen, wenn sie es nicht schaffen, eine echte antikapitalistische politische Bewegung zu entwickeln.

Olivier (Bilan et Perspectives)

1) leftcom.org

2) paydayreport.com

3) execpay.org

4) leftcom.org

5) leftcom.org

6) en.wikipedia.org

7) labortribune.com

8) washingtonpost.com

Saturday, December 4, 2021