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Startseite ›Die „New Economy“ des Kapitalismus: Die Illusion einer produktiven Wirtschaft
Der vierte Teil dieser Artikelreihe wurde geschrieben, bevor der Finanzcrash von 2007/2008 die größte Bankenrettung in der Geschichte des Kapitalismus erforderlich machte. Doch es ist interessant zu sehen, dass sich heute im Wesentlichen kaum etwas geändert hat. Trotz der "quantitativen Lockerung" - im Falle Großbritanniens durch die Bank of England, die Staatsanleihen im Wert von 435 Mrd. Pfund in das Bankensystem pumpte - hat sich der Trend weg von der verarbeitenden Industrie fortgesetzt. Sowohl hinsichtlich des Anteils der Beschäftigten insgesamt als auch ihres Anteils an der Bruttowertschöpfung (BWS) sind die Zahlen für das verarbeitende Gewerbe rückläufig. Vor etwa zehn Jahren machten schätzungsweise 3,5 Millionen Beschäftigte im verarbeitenden Gewerbe etwa 12% der gesamten arbeitenden Bevölkerung aus, die schätzungsweise 16% der BWS erwirtschafteten. Zahlen für den jährlichen Wert (in kapitalistischen Begriffen) dessen, was eine Volkswirtschaft produziert, sind besonders verwirrend, da das Konzept der BWS zu dem des BIP (Bruttoinlandsprodukt) und des BSP (Bruttosozialprodukt) hinzugefügt wurde und jede dieser Größen in Dollar statt in Pfund Sterling berechnet werden kann. Dennoch sind heute im Vereinigten Königreich 2,7 Millionen Menschen, d.h. 8 % der Erwerbsbevölkerung, die etwa 32,54 Millionen ausmacht, im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt, was einen geschätzten Beitrag zur BWS von 11 % ergibt (siehe: themanufacturer.com).
So wird wie schon zuvor die Mehrheit der Arbeitsplätze offiziell im Bereich der "Dienstleistungen" verortet. Vom kapitalistischen Standpunkt aus gesehen habe „der Dienstleistungssektor die wirtschaftliche Erholung seit dem Rückgang im Jahr 2008 vorangetrieben". (Britisches Amt für Nationale Statistik). Während für Marx die "Dienstleistungsarbeit" per Definition keinen neuen Wert erzeugt, verhält es sich aus Sicht der Bourgeoisie anders. Hier werden mehr oder weniger alle Jobs außerhalb des verarbeitenden Gewerbes, des Bergbaus und der Rohstoffproduktion als "Dienstleistungen" eingestuft. Tatsächlich produzieren viele der unter dem Dach der "Dienstleistungen" beschäftigten Arbeiter mehr Wert für ihre Bosse als zur Deckung ihrer Löhne notwendig wäre. Ansonsten gäbe es für die Bosse keinen Grund sie zu beschäftigen. Wie viel neuer Wert von Dienstleistungsarbeitern produziert wird, könnte Gegenstand einer Diplomarbeit sein. Derweil bleiben wir zuversichtlich, dass die Lösung für das verschuldete, verkümmernde Wachstum des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts in Großbritannien oder anderswo- mitnichten in der Ausweitung des Dienstleitungssektors besteht, was weitestgehend nur eine andere Bezeichnung für die Arbeit ist, die von zunehmend prekären, schlecht bezahlten Arbeitern geleistet wird, egal ob sie nun als Akademiker, Fachkräfte oder Geringqualifizierte klassifiziert weden. Es geht vielmehr darum, das Lohnsystem als Ganzes loszuwerden.
Es ist nun über ein Jahrzehnt her, dass der erste Ansturm auf eine britische Bank seit 150 Jahren eine weltweite Finanzkrise einläutete. Die spektakulären Zinssätze, die die Arbeiterklasse dazu verleitete, mit ihren eigenen Häusern zu spekulieren, und sich bis zum Hals in Schulden zu stürzen, sind verschwunden. Ebenso wurde der Finanzdienstleistungssektor gestutzt. Aber nach wie vor dominiert das Finanzkapital sowohl in Großbritannien als auch in der Weltwirtschaft. Der weitaus größte Teil der Billionen von Dollar, die in das Bankensystem gepumpt wurden, verbleibt ... im Bankensystem. Unterdessen ist die Arbeiterklasse mit sinkenden Löhnen und der Verschlechterung ihres Lebensstandards konfrontiert. Die Verschuldung privater Haushalte ist fast so hoch wie im Jahr 2007. Die persönliche Verschuldung steigt, da die Sozialversicherungsleistungen zurückgehen und die Löhne sinken. Die Vorstellung, dass Dienstleistungen den Kapitalismus (und den Konsumkapitalismus noch dazu) aus diesem Sumpf herausführen können, ist eine noch größere Illusion als sie es 2006 war. Wie wir damals feststellten, "hat dies alles das Zeug zu einem Vorspiel für einen spektakulären Absturz". Dieselbe Argumentation gilt auch heute. Beim nächsten Mal wird das Kapital auf eine "traditionellere" Antwort auf seine Rentabilitätskrise setzen, wie die Handelskriege und die Forderungen nach (Green) New Deals nahelegen.
Teil vier: Die Illusion einer produktiven Wirtschaft
Bisher haben wir in dieser Reihe kapitalistische Behauptungen über den von der heutigen dienstleistungsdominierten Wirtschaft erzeugten Reichtum einer marxistischen Wertanalyse unterzogen. Es ist jetzt an der Zeit, diese Fäden zusammenzuführen und zu sehen, was sie uns über den gegenwärtigen Zustand des britischen Kapitals zu sagen haben. Zunächst also eine Zusammenfassung der bisher festgestellten wichtigen Punkte:
Der relative Rückgang der verarbeitenden Industrie und der Beschäftigung ist eine bekannte Tatsache. Offiziellen Zahlen zufolge machen Finanz- und Unternehmensdienstleistungen heute etwa jeden fünften Arbeitsplatz im Vereinigten Königreich aus, verglichen mit etwa jedem zehnten im Jahr 1981. Eine Aufschlüsselung der Zahlen zur Bruttowertschöpfung (BWS) des Vereinigten Königreichs für das Jahr 2002 zeigt, dass die Unternehmens- und Finanzdienstleistungen 30% ausmachen, verglichen mit 16% im verarbeitenden Gewerbe. [1] Auf den ersten Blick sind solche Statistiken eine Herausforderung für die Theorie, dass die Arbeit die Quelle aller Werte ist, zumal Dienstleistungsarbeit im Sinne von Marx keinen neuen Wert produzieren kann. Wir mussten daher nicht nur klären, was Marx mit Dienstleistungsarbeit meinte (Arbeit, die für eine bestimmte Aufgabe aufgewendet wird, die für die Person, die sie aus ihrem Einkommen bezahlt, einen Gebrauchswert hat), sondern auch, was er mit produktiver und unproduktiver Arbeit meinte, um die Bedeutung all dieser Begriffe von der Art und Weise zu unterscheiden, wie sie von kapitalistischen Ökonomen und Statistikern verwendet werden.
Die eigentliche Definition von produktiver Arbeit
Produktive Arbeit ist für Marx im Wesentlichen warenproduzierende Arbeit - d.h. Arbeit, die nicht nur Gebrauchswert, sondern auch Tauschwert für das Kapital produziert. Während der Dienstleistungsarbeiter für die Arbeit, die zur Produktion von etwas von unmittelbarem Nutzen eingesetzt wird, voll bezahlt wird, wird der produktive Arbeiter vom Kapitalisten zur Produktion von Waren eingesetzt, und zwar nicht für den unmittelbaren Gebrauch, sondern um mit Gewinn verkauft zu werden. Dieser Gewinn ergibt sich aus der unbezahlten Arbeitszeit, die der Arbeitnehmer über die Zeit hinaus arbeiten muss, die er benötigt, um die Warenmenge herzustellen, die zur Deckung seiner Lohnkosten erforderlich ist. Während für das Kapital die "Wertschöpfung" im wesentlichen eine monetäre Berechnung ist, bei dem die produktiven oder unproduktiven Sektoren der Wirtschaft als Gewinn oder Verlust definiert werden, zeigt ein marxistischer Ansatz, dass Arbeit, die „einen Mehrwert schafft, [einen neuen Wert] über das [Äquivalent] hinaus, das sie als [Lohn] erhält", die einzige Quelle für neuen Wert ist. [2] Aus dem gleichen Grund ist für Marx Arbeit unproduktiv, wenn sie nicht Teil der Warenproduktion ist, während für das Kapital "unproduktiv" einfach "unprofitabel" bedeutet. Früher war die kapitalistische Definition von "Dienstleistungen" praktisch die gleiche wie "unprofitabel" (obwohl sie auch vage etwas Nützliches impliziert), aber der spektakuläre Aufstieg von "Unternehmens- und Finanzdienstleistungen" in den letzten Jahren bedeutet, dass der Begriff in der kapitalistischen Wirtschaft wirklich keine einheitliche Bedeutung hat. (Was zum Beispiel ist das bestimmende Merkmal, das "finanzielle" und "soziale" Dienstleistungen verbindet?) Wir stießen auf die hausgemachte Verwirrung des Office of National Statistics (ONS) hinsichtlich ihrer Vorstellungen von "Dienstleistungen" als wir dessen Angaben zur Personalstruktur von April 2005 untersuchten und feststellten, dass es 80 % aller Arbeitsplätze unter Dienstleistungen klassifizierte. [3]
Für die ONS muss alles, was nicht unter Fertigung, Bau, Energie oder Landwirtschaft fällt, eine Dienstleistung sein! Diese offizielle Kategorisierung verwischt nicht nur die Rolle der neuen produktiven Sektoren wie der Medien- und Softwareindustrie, sie erlaubt nicht mehr als eine grobe Schätzung, wie viele Arbeiter einen neuen Wert für das Kapital produzieren, obwohl ihre Arbeitsplätze unter "Dienstleistungen" eingeordnet werden. Im zweiten Teil dieser Reihe (leftcom.org ) haben wir geschätzt, dass etwa ein Viertel der offiziell als "Dienstleistungen" klassifizierten Arbeitsplätze - etwa 6 Millionen - mit der Produktion neuer Werte verbunden sind. Wir können zum Beispiel davon ausgehen, dass ein erheblicher Teil der Arbeitskräfte im "Vertriebs-, Hotel- und Gaststättengewerbe" sowie im "Transport- und Kommunikationssektor" einen Mehrwert produziert. Ebenso können wir sagen, dass die Arbeitskräfte im hochgelobten " Unternehmens- und Finanzdienstleistungssektor" des Kapitalismus trotz der Höhe des erwirtschafteten finanziellen Gewinns keinen neuen Wert produzieren. Im vorhergehenden Teil (leftcom.org ) haben wir gesehen, wie der Boom im Finanzsektor tatsächlich auf eine massive Generierung von fiktivem Kapital zurückzuführen ist, und gerade hier ist die Unterscheidung zwischen Mehrwert und finanziellem Gewinn am deutlichsten. Insgesamt konnten wir hochrechnen, dass auf jeden wertproduzierenden Arbeiter im Vereinigten Königreich fast fünf weitere Personen kommen, die keinen Wert produzieren. Ironischerweise ist dieses Verhältnis von nahezu 1:5 ungefähr dasselbe wie in Großbritannien im Jahr 1861, als es laut der Volkszählung eine Bevölkerung von 28,7 Millionen Einwohnern und - nach derselben groben Schätzung - eine produktive Arbeitskraft von etwa 6 Millionen gab. [4]
Marx kommentiert einen Bericht an das Unterhaus für das gleiche Jahr, aus dem hervorgeht, dass "die gesamte Anzahl der in den eigentlichen factories des U[nited] K[ingdom] angewandten Personen (managers eingeschlossen) nur 775 534 [betrug], - während die Anzahl der weiblichen Dienstboten in England allein 1 Million betrug " und merkt sarkastisch an: „Welche schöne Einrichtung, die ein Fabrikmädchen 12 Stunden in der Fabrik schwitzen läßt, damit der Fabrikherr mit einem Teil ihrer unbezahlten Arbeit ihre Schwester als Magd, ihren Bruder als groom und ihren Vetter als Soldat oder Polizist in seinen persönlichen Dienst nehmen kann!“ [5] In diesem einen Satz veranschaulicht Marx anschaulich, wie die Einnahmen zur Bezahlung von Arbeitern, die nicht in der Warenproduktion tätig sind, aus dem Pool des Mehrwerts gezogen werden, den sich das Kapital aus der unbezahlten Arbeit der produktiven (d.h. warenproduzierenden) Arbeiter aneignet. Dies ist erst möglich, wenn der Mehrwert für das Kapital in Form von finanziellem Gewinn realisiert wird. Es liegt auf der Hand, dass ein großer Teil dieses finanziellen Gewinns als Einnahme zur Finanzierung nichtproduktiver Ausgaben verwendet wird (und nicht als Kapital für eine weitere Runde der Wertschöpfung umgeschichtet wird), dann stellt dies einen Mehrwert dar, der dem Akkumulationsprozess entzogen wurde. Die Lohnsumme eines großen Teils der unproduktiven Arbeitskräfte stellt somit eine Entnahme aus dem Pool des Mehrwerts dar, der bereits aus der früheren Akkumulation realisiert wurde. Als solche hat dies jedoch keinen Einfluss auf die Profitrate.
Anders verhält es sich mit dem kommerziellen Sektor. Obwohl Arbeiter, die sich mit den verschiedenen Aspekten des Kaufens und Verkaufens beschäftigen (was Marx als "Kaufmannskapital" bezeichnete), keinen Mehrwert produzieren, sind sie damit beschäftigt, diesen Wert für das Kapital zu realisieren - ihn in Profit umzuwandeln. Ihre Löhne sowie die Kapitalausgaben und Gewinne, die der Großhändler, Einzelhändler, Buchhalter oder wer auch immer erwirtschaftet, stellen einen Mehrwert dar, der aus der produktiven Sphäre ausgegliedert wurde und auf diese Weise in die Bildung der durchschnittlichen Profitrate einfließt. „Das Kaufmannskapital geht also ein in die Ausgleichung des Mehrwerts zum Durchschnittsprofit, obgleich nicht in die Produktion dieses Mehrwerts. Daher enthält die allgemeine Profitrate bereits den Abzug vom Mehrwert, der dem Kaufmannskapital zukommt, also einen Abzug vom Profit des industriellen Kapitals.“ [6] Tatsächlich ist die Unterscheidung zwischen Kaufmannskapital und Produktivkapital nicht immer so klar. Die Dominanz der Supermarktgiganten im Lebensmittelhandel, die die Produktion vieler der von ihnen verkauften Waren kontrollieren, bedeutet zum Beispiel nicht nur, dass ein größerer Teil des gesamten Mehrwertes, der mit der Produktion der Waren verbunden ist, den großen Supermarktketten Tesco oder Asda zufließt, sondern die marginale Verringerung des gesamten Kapitaleinsatzes verringert auch den Rückgang der allgemeinen Profitrate. Die alltägliche Realität des Kapitalismus ist immer komplizierter als die Theorie. Ohne die Theorie würden jedoch die Triebkräfte, die dieser Realität zugrunde liegen, ein Rätsel bleiben. Stetiger Fortschritt oder spektakulärer Rückgang?
Wenden wir uns noch einmal der Beobachtung von Marx über die hohe Zahl der (unproduktiven) Hausangestellten im Verhältnis zu den (produktiven) Fabrikarbeitern im Jahr 1861 zu. Marx macht nicht nur deutlich, was er über die zunehmenden Gefolgschaften von Bediensteten denkt, die die Kapitalisten auf der Grundlage der unbezahlten Arbeit der Fabrikarbeiter beschäftigen können, er stellt auch ausdrücklich fest, dass diese Situation mit der wachsenden Produktivität des Kapitals (d.h. der Arbeit der Arbeiter) einhergeht. Mit anderen Worten: Die mit der Entwicklung der Produktivkräfte einhergehende erhöhte Rate des Mehrwerts (die Rate der unbezahlten Arbeit), die mit der kontinuierlichen Anhäufung von Kapital einhergeht, ermöglicht nicht nur eine größere Bevölkerung, sondern auch ein zunehmendes Niveau an sozialem Reichtum, auch wenn dieser der Kapitalistenklasse übermäßig zufließt. Historisch gesehen ist es die beispiellose Entwicklung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus, die die materielle Möglichkeit für eine Welt geschaffen hat, in der - sobald die kapitalistische Herrschaft über die Produktivkräfte gebrochen ist - die Lohnarbeit das Leben von niemandem mehr beherrschen wird. Die Verfechter der neuen "Dienstleistungswirtschaft“ stellen den Niedergang der verarbeitenden Industrie gerne als natürliches Ergebnis des Vormarschs des Kapitalismus dar. (Natürlich ohne die Aussicht, dass die kapitalistische Ära jemals zu Ende geht könnte). Je "reifer" eine Wirtschaft wird, desto mehr wird sie "wirtschaftliches Wachstum" erreichen, indem sie nach und nach aus der verarbeitenden Industrie und der primären Industrie aussteigt, und desto wohlhabender werden ihre Bürger sein. In diesem Szenario wird die Position Großbritanniens als viertreichstes Land der Welt (gemessen am BIP) dem Anstieg der "Dienstleistungen", insbesondere der Finanzdienstleistungen, zugeschrieben. Die Realität sieht anders aus. Erstens ist die Geschichte der kapitalistischen Wirtschaft keine Geschichte des stetigen, progressiven Wachstums. Das wohlwollende Bild einer allmählichen Verbesserung, das zum Beispiel vom Office of National Statistics in einem Sonderbericht zum Ende des Jahrhunderts mit dem Titel "A Century of Labour Market Change" („Ein Jahrhundert des Wandels auf dem Arbeitsmarkt“) präsentiert wird, ist völlig irreführend. Dort heißt es: „Eine wichtige Änderung war die Verschiebung der industriellen Zusammensetzung. Im Vereinigten Königreich fiel der Anteil des verarbeitenden Gewerbes von 28 auf 14 Prozent der Beschäftigung und der Anteil der Landwirtschaft von 11 auf 2 Prozent.“ [7] Dabei wird der zyklische Charakter der kapitalistischen Entwicklung einfach ignoriert: die Auswirkungen zweier Weltkriege und die Wirtschaftskrise zwischen ihnen mit ihrer Massenarbeitslosigkeit in der verarbeitenden Industrie und in der Schwerindustrie, ergänzt durch einen relativen Anstieg der Beschäftigung im Dienstleistungssektor (tertiären Sektor). Es versäumt auch zu erwähnen, dass jahrzehntelang nach dem Zweiten Weltkrieg der Beschäftigungsanteil des verarbeitenden Gewerbes weit höher war als sein Anteil von 28% im Jahr 1900. Im Jahr 1951 waren 39% der beschäftigten Arbeitnehmer in der verarbeitenden Industrie tätig. Ein Jahrzehnt später war dieser Anteil um 1% zurückgegangen! Im nächsten Jahrzehnt, zwischen 1961-71, beschleunigte sich der Rückgang ... um 2%! Bis 1975 war der Anteil der Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie mit 29% jedoch mehr oder weniger wieder auf den Stand von 1900 zurückgekehrt! Soviel zum stetigen Voranschreiten in Richtung der blitzsauberen 'New Economy'.
Wie die Arbeiter, die die siebziger und achtziger Jahre erlebt haben, wissen, und wie wir im Laufe der Jahre immer wieder hervorgehoben haben, war die umfassende wirtschaftliche Umstrukturierung, die die Beschäftigung in der verarbeitenden Industrie verringert hat, in Wirklichkeit kein stetiger Übergang. Im Gegenteil, die heutige "New Economy“ ist in hohem Maße das Ergebnis der Unterdrückung der Arbeiterklasse nach einer Reihe von Frontalangriffen und sektorspezifischen Niederlagen im Laufe von fast zwei Jahrzehnten. Der Auslöser dieser Angriffe war das Wiederauftreten der zyklischen Akkumulationskrise des Kapitalismus, einer Krise von weltweiten Ausmaßen, in der der britische Kapitalismus bei seinen Angriffen auf die Arbeiterklasse und bei der Verwerfung des mit den Gewerkschaften in der Nachkriegszeit ausgehandelten quid pro quo eine Vorreiterrolle spielte. Dieser Artikel ist nicht der richtige Ort, um die Kämpfe Revue passieren zu lassen, die mit dem Verlust der Arbeitsplatzsicherheit für Hunderttausende von ArbeitnehmerInnen und der Arbeitslosigkeit für Millionen von Menschen endeten; die rücksichtslose Einführung neuer Technologien, die Lohnkürzungen mit sich brachten und die Macht der alten qualifizierten Arbeitskräfte untergruben; die ebenso berechnenden Angriffe auf Stahlarbeiter, Werftarbeiter und Bergleute, die den vollständigen Abbau des staatlichen Industriesektors beschleunigten, als das britische Kapital die Möglichkeiten der Globalisierung ins Auge fasste. Es genügt zu sagen, dass der beschleunigte Rückgang der Beschäftigung in der verarbeitenden Industrie - zwischen 1971 und 1981 um 7 % als Teil einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung und dann im nächsten Jahrzehnt um weitere 9 % (auf 20 % der Erwerbstätigen) gesunken ist. Heute beträgt die Beschäftigung in der verarbeitenden Industrie etwa 3,5 Millionen, was etwa 12 % der erwerbstätigen Bevölkerung ausmacht. All dies hat - keine Rückkehr zu den Wachstumsraten vor der Krise gebracht hat, wie auch immer diese gemessen werden mögen. Wenn es Großbritannien gelingt, seine Position unter den führenden imperialistischen Mächten aufrechtzuerhalten, dann nicht, weil die Abkehr von der verarbeitenden Industrie zu einem bemerkenswerten Produktivitätsfortschritt geführt hat. Auch wenn wir sagen können, dass über 6 Millionen Arbeitsplätze im offiziell bezeichneten Dienstleistungssektor mit der Produktion von Mehrwert verbunden sind, bedeutet dies immer noch, dass erstaunliche 60% aller (offiziell anerkannten) Arbeitsplätze unproduktiv sind. Auch wenn wir die Rate des Mehrwerts nur schätzen können, so ist es doch unglaublich, dass der Wert-Output pro Arbeiter in Bereichen wie dem "Gastgewerbe" auch nur annähernd der durchschnittlichen Rate des Mehrwerts des High-Tech-Produktionsarbeiters entspricht, geschweige denn, dass dies der Grund für das Wirtschaftswachstum ist, das für die „New Economy“ beansprucht wird. Selbst nach den Kriterien des Kapitalismus hinkt Großbritannien bei der Produktivität hinterher. [8] Vielmehr ist es die bereits bestehende Position Großbritanniens als imperialistische Macht, einschließlich seiner überbewerteten Währung und der historischen Rolle des Landes in der internationalen Finanz- und Handelswelt, die es (zusammen mit dem Rest der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt) in der Illusion leben lässt, dass die Erzielung finanzieller Gewinne an sich schon ein Zeichen wirtschaftlichen Wachstums ist. So wie es aussieht, waren die Hauptmotoren des Wirtschaftswachstums in Großbritannien in den letzten Jahren erhöhte Ausgaben für Konsumgüter aufgrund einer phänomenalen Zunahme der Verschuldung der Privathaushalte, die durch Kreditkartenausgaben und einem spekulativen Boom der Hauspreise angeheizt wurde. Mit 140 Prozent ist das Verhältnis zwischen der Verschuldung der britischen Haushalte und dem verfügbaren Einkommen jetzt sogar noch höher als in den USA [9], während die Bewertung des Office of National Statistics, wonach Großbritannien Ende 2003 5,3 Billionen Pfund Sterling wert war, zeigt, dass Wohnraum über 3 Billionen Pfund Sterling dieses Vermögens ausmacht! [10]
Die Bedeutung dieser Untersuchung
Natürlich ändern in der realen Welt die analytischen Unterscheidungen, die wir gemacht haben, zwischen Mehrwert und finanziellem Gewinn, zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit, nichts an der Situation der ArbeiterInnen. Unabhängig davon, ob Sie männlich oder weiblich sind, ob Sie in einem Krankenhaus, einem Callcenter, einem Supermarkt, einer Bohrinsel oder einer Fabrik arbeiten, der rote Faden, der Sie im Verhältnis zum Kapital verbindet, ist die Notwendigkeit, für einen Lohn zu arbeiten, und nicht die Frage, ob Ihre Arbeit einen Mehrwert für die Bosse erzeugt oder nicht. Der Sinn der Untersuchung des Verhältnisses von produktiver und unproduktiver Arbeit besteht keineswegs darin, zu suggerieren, dass eine Gruppe von Arbeitern klassenbewusster ist als eine andere. (Und vielleicht sollte noch einmal betont werden, dass, wenn es um den Mehrwert geht, "produktiv" nicht gleichbedeutend ist mit "handwerklich" und "unproduktiv" nicht gleichbedeutend mit "vor einem Schreibtisch sitzen". Diese Art von Mythen wurden vom Stalinismus propagiert und werden von kapitalistischen Ideologen ermutigt, um den Glauben zu fördern, dass der Sozialismus ein Thema ohne jeden Belang ist). Der Zweck dieser Untersuchung war es, die Idee in Frage zu stellen, dass der Kapitalismus, wie er heute existiert, gesünder denn je ist, und das bedeutet, die Grundlage seiner gestiegenen Wachstumsansprüche in Frage zu stellen. Wir mussten klären, inwiefern die Ausbeutung unbezahlter Arbeit durch das Kapital die eigentliche Quelle des Wohlstands ist, und dabei feststellen, dass, weit davon entfernt, seine Akkumulationskrise zu überwinden, nicht nur das Verhältnis der wertproduzierenden zu den unproduktiven Arbeitskräften dramatisch gesunken ist, sondern dass der Anteil des "Gesamtvermögens", der auf finanziellen Anlagen entfällt, die keinen neuen Wert darstellen, beispiellos ist. Die Situation des britischen Kapitalismus ist nicht einzigartig. Sie ist bezeichnend für die allgemeine Malaise eines globalen Systems, das über ein beispielloses Angebot an finanziellen Mitteln für Spekulationen, aber immer weniger "Investitionsmöglichkeiten" verfügt. Während sich die Financial Times über die Nachricht beunruhigt, dass "die Unternehmensinvestitionen als Anteil am Nationaleinkommen im vergangenen Jahr auf einen neuen Tiefstand gesunken sind", freuen sich die im Finanzsektor der City of London Beschäftigten über die Aussicht auf steigende Boni mit dem lukrativen Anstieg von Fusionen und Übernahmen. [11] Die „New Economy“ ist für einige sicherlich vermögensbildend. Im Lichte der Geschichte des Kapitalismus hat sie jedoch alle Voraussetzungen für den Auftakt zu einem spektakulären Absturz. Wir sind mit der „New Economy“ noch nicht fertig. In der nächsten Ausgabe werden wir uns damit befassen, was aus der Sicht der Arbeiterklasse vor sich geht. (ER)
[1] siehe ons.gov.uk und esrc.ukri.org
[2] MEW-Band 26.1 S. 172
[3] siehe: Teil zwei dieser Reihe, "Der Wert kapitalistischer Dienstleistungen" in Revolutionary Perspectives 36 (leftcom.org)
[4] Diese Zahl wurde einfach dadurch erreicht, dass man die in den verschiedenen Berufen beschäftigten Personen durchging, wie sie in der Volkszählung von 1861 aufgeführt sind. Online verfügbar unter www.disalspace.dial.pipex.com
[5] MEW-Band 26.1 S. 171
[6] MEW-Band 25 S. 297 [7] Zusammengestellt von Craig Lindsay für die Arbeitsmarktabteilung des ONS im März 2003. Online verfügbar auf der ONS-Website.
[8] Laut der Financial Times vom 24.2.06 zeigen die neuesten ONS-Zahlen für die Höhe des Outputs pro Arbeitnehmer, die sich auf das Jahr 2004 beziehen, dass das Vereinigte Königreich "unter dem Durchschnitt aller anderen Länder der Gruppe der sieben führenden Volkswirtschaften liegt..."
[9] Financial Times 30.4.05
[10] ESRC Website: esrc.ukri.org
[11] Financial Times, ‘Fears For Economy as Business Investment Falls’, 24.2.06 und außerdem ‘Mergers and Equities Boost City Jobs Market’, 21.2.06
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