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Startseite ›Marxismus und Sexualität
Widersprüche, die im Zentrum der kapitalistischen Produktionsweise stehen, wirken sich auf die menschlichen Beziehungen auf der Ebene des Überbaus aus. Die ideologischen, kulturellen, sprachlichen und organisatorischen Formen, die in der heutigen Gesellschaft vorherrschen, existieren jedoch nicht losgelöst von der sozialen und wirtschaftlichen Struktur unserer Gesellschaft. Sie sind Überbleibsel von früheren Produktionsweisen. Die Sexualität ist, wie andere Bereiche der menschlichen Tätigkeit, davon nicht ausgenommen. Besonders in Krisenzeiten, wenn sich die kapitalistischen Widersprüche verschärfen, wird Sexualität zu einem offenen umkämpften politischen Feld. Wir brauchen nicht weit zu schauen, um dies heute zu erkennen. Phänomene wie der „Feminismus der vierten Welle“, Frauenstreiks, TERFs (transfeindliche Feministinnen), Aufstände und die Auseinandersetzungen um Identität, Sexarbeit, Leihmutterschaft, häuslichen Missbrauch, sexuelle Übergriffe und LGBT-Themen zeigen deutliche Gegensätze auf. Es ist unvermeidlich, dass viele Revolutionärinnen und Revolutionäre in diese Auseinandersetzungen verwickelt werden, vor allem, wenn es sie auf persönlicher Ebene betrifft. Die Frage, wie Marxistinnen und Marxisten mit Sexualität in all ihren Dimensionen umgehen sollten, ist also nicht nur eine abstrakte Nabelschau. Wenn wir keine befriedigenden Antworten geben, werden sich die Arbeiterinnen und Arbeiter anderswo umsehen und wahrscheinlich unter den Einfluss der Rechten oder der Linken des Kapitals geraten (die beide darauf abzielen, die Arbeiterklasse zu spalten). Daher einige grundsätzliche Bemerkungen.
Konkurrierende Rechte
„Dennoch leitet sich die Verpflichtung zum Protest und zur Bekämpfung der nationalen Unterdrückung für die Klassenpartei des Proletariats durchaus nicht von einem besonderen „Recht der Nationen" her, genauso wenig, wie sich z. B. ihre Bestrebung nach einer gesellschaftlichen und politischen Gleichberechtigung der Geschlechter aus einem besonderen „Recht der Frauen" herleitet, auf das sich die Bewegung der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen beruft, die Verpflichtung kann nur abgeleitet werden aus dem allgemeinen Gegensatz zum Klassensystem, zu jeglicher Form von gesellschaftlicher Ungleichheit und Herrschaft, mit einem Wort, aus dem grundsätzlichen Standpunkt des Sozialismus.“ (Rosa Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie, 1908)
Die vorherrschenden Ideologien, seien sie rechts oder links, tendieren dazu, soziale Gegensätze in Form von widerstreitender Rechten zu fassen. Was immer es auch sein mag, Frauenrechte vs. Transgenderrechte, säkulare Rechte vs. religiöse Rechte oder auch Eigentumsrechte vs. Arbeiterrechte, das Prinzip bleibt dasselbe: Die Rechte des einen sollen die Rechte des anderen verletzen, und innerhalb dieses moralischen und rechtlichen Rahmens müssten "wir" ein vernünftiges Gleichgewicht finden. Verschiedene Stränge des bürgerlichen Denkens - Liberalismus, Konservatismus, Nationalismus, Reformismus oder ihre jeweiligen Ausformungen – haben jedoch unterschiedliche Vorstellungen davon, was als vernünftig zu gelten habe (Im Extremfall lief das auf Versuche hinaus, diesen oder jenen Teil der Gesellschaft auszulöschen). Dennoch waren die Menschenrechte oder die "Rechte des Menschen", wie sie sich ursprünglich im 17. bis 19. Jahrhundert gegen die absterbende Feudalordnung durchsetzen höchst revolutionärer Vorstellungen. Doch sie entsprachen dem Aufstieg einer bestimmten Klasse, der Bourgeoisie, in ihrem Versuch, die Zügel des Staates und der Industrie zu übernehmen.
"Aber das Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen. Es ist das Recht dieser Absonderung, das Recht des beschränkten auf sich beschränkten Individuums. Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechts der Freiheit ist das Menschenrecht des Privateigentums." (Karl Marx: Zur Judenfrage, 1844)
Als Marxisten haben wir einen anderen Bezugsrahmen. Weder glauben wir an widerstreitende Rechte, noch suchen wir nach einem vernünftigen Gleichgewicht derselben. Für Marxisten bedeutet Kommunismus eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden die Voraussetzung für die freie Entwicklung aller ist. Rechte, wie sie in der kapitalistischen Gesellschaft verstanden werden, sind ein Hindernis für die Verwirklichung dieses Ziels. Die Welt der Rechte ist die Welt der Staaten, der Armeen, der Polizei und der Rechtssysteme, die alle notwendig sind, um Rechte überhaupt erst durchzusetzen. Alle diese Institutionen bringen die Trennung von Mensch und Mensch zum Ausdruck. Rechte implizieren per definitionem die Klassengesellschaft, und die Klassengesellschaft ist das, was wir als die Quelle der Unterdrückung und des Elends der heutigen Zeit verstehen. Nachdem wir festgestellt haben, dass die Menschenrechte künstliche Antagonismen zwischen Mensch und Mensch faktisch verstärken, müssen wir erklären, was der historische oder dialektische, materialistische Rahmen eine Verständnis von Sexualität ist. Zum einen ist ein materialistisches Verständnis von Sexualität nicht gleichbedeutend mit biologischem Determinismus (wie ihn zum Beispiel viele Stalinisten in der Geschlechterfrage an den Tag legen). Vielmehr verstehen wir Sexualität als eine sich im Laufe der Geschichte immer weiter entwickelnde menschliche Aktivität.
Eine materialistische Konzeption von Sexualität
Jüngsten Schätzungen zufolge entstand die Gattung Homo vor bis zu 3 Millionen Jahren, während unsere Spezies, der Homo sapiens, vor etwa 300.000 Jahren entstand. Es ist umstritten, wann die erste primitive sexuelle Arbeitsteilung auftrat, aber einige archäologische Forschungen führen sie bis ins Jungpaläolithikum (vor 40.000 Jahren) zurück. Für sich genommen bedeutete dies noch nicht ungleiche Beziehungen zwischen den Geschlechtern, da Jäger-Sammler-Gesellschaften zu Kooperation und Gegenseitigkeit neigten. Dies änderte sich im Neolithikum (vor 12.000 Jahren), als es eine Verlagerung vom Sammeln von Nahrungsmitteln zur Nahrungsmittelproduktion, also zur Entwicklung der Landwirtschaft, gab. Gleichzeitig mit der Entwicklung der Siedlungen, der Steigerung der Arbeitsproduktivität und der Aneignung von Überschüssen entstehen aus dem Privateigentum die ersten Klassengesellschaften Der Egalitarismus wurde allmählich durch Hierarchie und ungleiche Beziehungen zwischen den Geschlechtern ersetzt.
„Im Laufe der tausendjährigen Geschichte der menschlichen Gesellschaft hat sich die Liebe vom einfachen biologischen Instinkt - dem Drang zur Fortpflanzung, der allen Geschöpfen (..) innewohnt - zu einer höchst komplexen Emotion entwickelt, die ständig neue intellektuelle und emotionale Aspekte gewinnt. (...) Auf allen Stufen der historischen Entwicklung hatte die Gesellschaft Normen festgelegt, die definieren, wann und unter welchen Bedingungen die Liebe "legal" ist (d.h. den Interessen des gegebenen sozialen Kollektivs entspricht) (...) Auf der Stammesstufe wurde die Liebe als eine verwandtschaftliche Bindung gesehen (Liebe zwischen Geschwistern, Liebe zu den Eltern). Die antike Kultur der vorchristlichen Zeit stellte die freundschaftliche Liebe über alles andere. Die feudale Welt idealisierte die platonische höfische Liebe zwischen Angehörigen des anderen Geschlechts außerhalb der Ehe. Das Bürgertum nahm die monogame eheliche Liebe als ihr Ideal an." (Alexandra Kollontai: Ein Weg dem geflügelten Eros, 1923)
Die Arbeitsteilung und die Eigentumsbeziehungen haben sich im Laufe der Jahrtausende durch die asiatischen, antiken, feudalen und kapitalistischen Produktionsweisen erheblich weiterentwickelt. Diese Produktionsweisen setzten ihre eigenen sexuellen Gesetze und ihre eigene Moral durch, oft auf brutale Weise (sei es durch den Staat und religiöse Körperschaften oder durch die Gesellschaft selbst). Natürlich hat dies in allen Aspekten der zeitgenössischen Sexualität, sowohl bewusst als auch unbewusst, blaue Flecken hinterlassen. Die Diskriminierung, die wir heute aufgrund des Geschlechts, oder der sexuellen Orientierung erleben, ist nur die Spitze des Eisbergs. Der Kapitalismus hat zwar das Patriarchat untergraben, darunter verstehen wir die Organisation der Gesellschaft in Familieneinheiten unter väterlicher Macht zum Zweck des Besitzes, aber er hat ihm kein Ende gesetzt. Nur eine Gesellschaft, die das Privateigentum und die Arbeitsteilung, wie wir sie kennen, abschafft, kann diese Aufgabe erfüllen. Das soll nicht heißen, dass Marxistinnen und Marxisten heute gegenüber sexueller Unterdrückung neutral bleiben: Im Eintreten für eine andere Gesellschaft müssen wir uns entsprechend verhalten und nicht nur Lippenbekenntnisse dazu abgeben. Politisch müssen wir die derzeitigen sexuellen Antagonismen im Kontext der Krise des Kapitalismus begreifen.
„Die revolutionäre Bewegung [...] wird den Prozess des Niedergangs der patriarchalischen Familie vollenden, den die wirtschaftliche Zersetzung des Kapitalismus eingeleitet hat. [...] Wenn die Kräfte der politischen Reaktion die Bedeutung der sexuellen Unterdrückung als Faktor der Reaktion verstehen und Schritte unternehmen, um diese Unterdrückung zu sichern, muss eine revolutionäre Partei die Bedeutung der sexuellen Rebellion erkennen und diese Rebellion gegen Kirche und Kapital unterstützen.“ (Wilhelm Reich: Der Einbruch der Sexualmoral)
„Der geflügelte Eros“
Die Linke und die Rechte des Kapitals haben ihre eigenen Vorstellungen davon, wie die Klassengesellschaft und damit auch die Sexualität zu verwalten sei. Aber indem sie auf diese oder jene Weise daran herumbasteln, versuchen sie nur, die bestehenden gesellschaftlichen Beziehungen zu erhalten, in denen die eigentliche Wurzel des Problems liegt. Es wird oft behauptet, dass der Feminismus und seine ideologischen Nachkommen am besten die Probleme von Frauen und der LGBT-Community angehen können. Aber die meisten Feministinnen haben überhaupt kein Interesse daran, den Kapitalismus zu überwinden, selbst sozialistische Feministinnen neigen dazu, mit Feminismus etwas anderes zu meinen als wir: Nicht die Abschaffung von Lohnarbeit, Geld und Staaten, sondern Umverteilung des Reichtums in einem sozialstaatlichen Rahmen.
„Heute besteht der einzige fortschrittliche Weg für die gesamte Menschheit darin, dass die ausgebeutete Klasse, das Proletariat, die Fesseln des kapitalistischen Staates in einer internationalen Revolution abstreift, die die Produktion aus dem Würgegriff der kapitalistischen Profitinteressen befreit und eine freie Assoziation von Produzentinnen und Produzenten schafft, die auf eine Produktion für gesellschaftliche Bedürfnisse abzielt. Diese Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum wird auch bedeuten, dass die monogame Familie nicht mehr die wirtschaftliche Grundeinheit der Gesellschaft sein wird. [...] Der letzte Ausweg der Feministinnen besteht darin, zu argumentieren, dass der Kommunismus die Gesellschaft nicht automatisch von patriarchalen Einstellungen und Verhaltensmustern befreien wird. Dem würden wir zustimmen. Aber der Punkt ist, dass es ohne eine kommunistische Revolution keine Grundlage für eine wirkliche Änderung der Einstellungen und Verhaltensmuster geben wird.“ (CWO, Women and Communism, 1986)
Es ist nicht unsere Aufgabe, Blaupausen einer neuen Gesellschaft zu entwerfen. Doch was wir sagen können, ist, dass die Abschaffung der Klassen die Art und Weise, wie wir über Sexualität denken und wie wir unsere Mitmenschen behandeln, grundlegend verändern wird. Die künftige Gesellschaft wird nicht mehr an den Rahmen widersprüchlicher Rechte und Identitäten, an das Konkurrenzstreben um Profit gebunden sein und die Herrschaft von Menschen über Menschen wird durch die Verwaltung von Dingen ersetzen. Solidarisches Miteinander und Liebe und werden die sexuellen Beziehungen bestimmen, und nicht mehr Warenaustausch, Vorurteile oder Gewalt.
„Was wir also heutzutage vermuten können über die Ordnung der Geschlechtsverhältnisse nach der bevorstehenden Wegfegung der kapitalistischen Produktion ist vorwiegend negativer Art, beschränkt sich meist auf das, was wegfällt. Was aber wird hinzukommen? Das wird sich entscheiden, wenn ein neues Geschlecht herangewachsen sein wird: ein Geschlecht von Männern, die nie in ihrem Leben in den Fall gekommen sind, für Geld oder andre soziale Machtmittel die Preisgebung einer Frau zu erkaufen, und von Frauen, die nie in den Fall gekommen sind, weder aus irgendwelchen andern Rücksichten als wirklicher Liebe sich einem Mann hinzugeben, noch dem Geliebten die Hingabe zu verweigern aus Furcht vor den ökonomischen Folgen. Wenn diese Leute da sind, werden sie sich den Teufel darum scheren, was man heute glaubt, daß sie tun sollen; sie werden sich ihre eigne Praxis und ihre danach abgemeßne öffentliche Meinung über die Praxis jedes einzelnen selbst machen - Punktum.“(Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, 1884)
Die Aufgabe der Revolutionäre besteht nicht darin, „den Eros aus dem gesellschaftlichen Leben zu vertreiben, sondern ihn entsprechend der neuen gesellschaftlichen Formation zu entwickeln und die sexuellen Beziehungen im Geiste der großen neuen psychologischen Kraft der kameradschaftlichen Solidarität zu erziehen". (Kollontai) So sehr wir es uns wünschen, Tausende von Jahren Geschichte werden nicht über Nacht verschwinden. Nach dem revolutionären Prozess wird eine Übergangsperiode beginnen, in der die Arbeiterklasse die Gesellschaft nach egalitären und kooperativen Grundsätzen umgestaltet und patriarchalische Haltungen, die keine materielle Grundlage mehr haben, mit dem Dreck vergangener Zeitalter hinweggefegt werden, wenn der Kommunismus Wirklichkeit wird. (Dyjbas)
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