Anarchismus und Marxismus

Was sind die ei­gent­li­chen Tren­nungs­li­ni­en zwi­schen Re­vo­lu­tio­nä­ren?

Dis­kus­si­ons­bei­trag un­se­rer bri­ti­schen Schwes­ter­or­ga­ni­sa­ti­on CWO auf der An­ar­chist Book­fair 2013

Als wir eine Ver­an­stal­tung zum Thema “Mar­xis­mus und An­ar­chis­mus” vor­schlu­gen und an­kün­dig­ten, än­der­te je­mand auf Face­book das Ver­an­stal­tungs­the­ma in „Mar­xis­mus ver­sus An­ar­chis­mus” um. Des­halb wol­len wir vor­weg klar­stel­len, dass es uns hier nicht um den wort­ge­wal­ti­gen Schlag­ab­tausch der Ver­gan­gen­heit geht, bei der eine Seite „Kron­stadt“ mit „Bar­ce­lo­na“ kon­tert und um­ge­kehrt. Wir wol­len auch nicht auf die Hin­ter­grün­de für die Spal­tung in Mar­xis­mus und An­ar­chis­mus zur Zeit der Ers­ten In­ter­na­tio­na­le ein­ge­hen (auch wenn das zu­wei­len wich­tig und in­ter­es­sant sein mag). Nein, unser Aus­gangs­punkt ist die Lek­tü­re der Bro­schü­re „Figh­ting for Our­sel­ves“, die von der „So­li­da­ri­ty Fe­de­ra­ti­on“ her­aus­ge­bracht wurde, und die wir hier letz­tes Jahr mit­ge­nom­men haben. Wir wer­den spä­ter noch dar­auf ein­ge­hen. Vorab sei ge­sagt, dass uns be­son­ders auf­ge­fal­len ist, dass die po­li­ti­sche Ent­wick­lung des An­ar­chis­mus bzw. An­ar­cho­syn­di­ka­lis­mus in ge­wis­ser Weise Par­al­le­len mit der Ent­wick­lung des Mar­xis­mus auf­weist. Wir gehen also von der glei­chen Prä­mis­se aus wie Da­ni­el Gue­rin:

So­wohl der An­ar­chis­mus als auch der Mar­xis­mus schöp­fen an­fangs aus der­sel­ben Quel­le. Und unter dem Ein­druck der neu ent­stan­de­nen Ar­bei­ter­klas­se legen beide das­sel­be End­ziel fest, d.h. den ka­pi­ta­lis­ti­schen Staat ab­zu­schaf­fen, den so­zia­len Reich­tum, die Pro­duk­ti­ons­mit­tel den Ar­bei­tern selbst an­zu­ver­trau­en.

Auch heute be­zie­hen sich viele An­ar­chis­tIn­nen gerne po­si­tiv auf das Kom­mu­nis­ti­sche Ma­ni­fest, wenn sie ihr po­li­ti­sches Ziel als “As­so­zia­ti­on frei­er Pro­du­zen­ten” be­schrei­ben (auch wenn bspw. Typen vom Schla­ge eines David Grae­ber wahr­schein­lich nicht ein­mal wis­sen bzw. zur Kennt­nis neh­men, dass es von Marx ge­schrie­ben wurde)

Wir alle hof­fen, dass die Ar­bei­te­rIn­nen­klas­se aus ihrer Ge­schich­te lernt und re­vo­lu­tio­nä­re Schluss­fol­ge­run­gen zieht. Die ei­gent­li­che Spal­tung liegt also nicht zwi­schen „An­ar­chis­mus“ und „Mar­xis­mus“ an sich, son­dern zwi­schen Re­vo­lu­tio­nä­rIn­nen die für eine staa­ten-​und klas­sen­lo­se Ge­sell­schaft kämp­fen, und jenen die sich das Eti­kett „Mar­xist“ oder „An­ar­chist“ an­hef­ten und ent­we­der eine Va­ri­an­te des Ka­pi­ta­lis­mus ver­tei­di­gen oder sich auf einem Li­fes­tyle aus­ru­hen, der den Grund­la­gen des Staa­tes und der Klas­sen­herr­schaft in kei­ner Weise ge­fähr­lich wer­den kann.

Mar­xis­mus und der Staat

Es steht außer Frage, dass Mar­xis­tIn­nen in Hin­blick auf den Eta­tis­mus eine weit­aus schwe­re Erb­last mit sich her­um­schlep­pen. Von den Schrif­ten von Marx und En­gels haben viele selbst­er­nann­te „Mar­xis­ten“ sta­li­nis­ti­scher wie trotz­kis­ti­scher Prä­gung wahr­schein­lich al­len­falls das Kom­mu­nis­ti­sche Ma­ni­fest zur Kennt­nis ge­nom­men. Im Kom­mu­nis­ti­schen Ma­ni­fest ski­zier­ten Marx und En­gels zwar die Grund­zü­ge einer kom­mu­nis­ti­schen Ge­sell­schaft als „As­so­zia­ti­on frei­er Pro­du­zen­ten“, al­ler­dings sag­ten sie nichts zum Staat und sei­ner Über­win­dung. Viel­mehr ar­gu­men­tier­ten sie dass der Staat vom Pro­le­ta­ri­at über­nom­men und für die Ver­wirk­li­chung des Kom­mu­nis­mus ge­nutzt wer­den könn­te.So heißt es etwa im Ab­schnitt „Pro­le­ta­ri­er und Kom­mu­nis­ten“:"Wir sahen schon oben, dass der erste Schritt in der Ar­bei­ter­re­vo­lu­ti­on die Er­he­bung des Pro­le­ta­ri­ats zur herr­schen­den Klas­se, die Er­kämp­fung der De­mo­kra­tie ist.Das Pro­le­ta­ri­at wird seine po­li­ti­sche Herr­schaft be­nut­zen, der Bour­geoi­sie nach und nach alles Ka­pi­tal zu ent­rei­ßen, alle Pro­duk­ti­ons­in­stru­men­te in den Hän­den des Staa­tes, d.h. als herr­schen­de Klas­se or­ga­ni­sier­tes Pro­le­ta­ri­ats, zu zen­tra­li­sie­ren und die Masse der Pro­duk­ti­ons­kräf­te rasch zu ver­meh­ren."(1)

Sie füh­ren dann eine Liste von zu er­grei­fen­den Maß­nah­men auf wie u.a..:"1. Ex­pro­pria­ti­on des Grund­ei­gen­tums und Ver­wen­dung der Grund­ren­te zu Staats­auf­ga­ben.(…) 5. Zen­tra­li­sie­rung des Kre­dits in den Hän­den des Staa­tes durch eine Na­tio­nal­bank mit Staats­ka­pi­tal und aus­schließ­li­chem Mo­no­pol.6. Zen­tra­li­sie­rung des Trans­port­we­sens in den Hän­den des Staats. 7. Ver­meh­rung der Na­tio­nal­fa­bri­ken, Pro­duk­ti­ons­in­stru­men­te, Ur­bar­ma­chung und Ver­bes­se­rung der Län­de­rei­en nach einem ge­mein­schaft­li­chen Plan.8. Glei­cher Ar­beits­zwang für alle, Er­rich­tung in­dus­tri­el­ler Ar­me­en, be­son­ders für den Acker­bau.“(2)

Die Me­tho­de des Mar­xis­mus, wie wir ihn ver­ste­hen, ba­siert auf dem his­to­ri­schen Ma­te­ria­lis­mus, und das be­deu­tet aus den Er­fah­run­gen der Klas­sen­kämp­fe zu ler­nen. Nach der Nie­der­schla­gung der Pa­ri­ser Com­mu­ne wur­den Marx und En­gels sich über zwei Dinge klar. Zu­nächst muss­ten sie sich ein­ge­ste­hen, dass der im Kom­mu­nis­ti­schen Ma­ni­fest auf­ge­führ­te Maß­nah­men­ka­ta­log un­zu­rei­chend war. "Wie sehr sich auch die Ver­hält­nis­se in den letz­ten fünf­und­zwan­zig Jah­ren ge­än­dert haben, die in die­sem `Ma­ni-​fest` ent­wi­ckel­ten all­ge­mei­nen Grund­sät­ze be­hal­ten im gan­zen und gro­ßen auch heute noch ihre volle Rich­tig­keit. Ein­zel­nes wäre hier und da zu bes­sern. Die prak­ti­sche An­wen­dung die­ser Grund­sät­ze, er­klärt das `Ma­ni­fest`selbst, wird über­all und je­der­zeit von den ge­schicht­lich vor­lie­gen den Um­stän­den ab­hän­gen, und wird des­halb durch aus kein be­son­de­res Ge­wicht auf die am Ende von Ab­schnitt II vor­ge­schla­ge­nen re­vo­lu­tio­nä­ren Maß­nah­men ge­legt. Die­ser Pas­sus würde heute in vie­ler Be­zie­hung an­ders lau­ten.“(3)

Des Wei­te­ren hoben sie her­vor, dass ihre Vor­stel­lung den Staat über­neh­men zu könne nicht nur ver­al­te­tet, son­dern schlicht­weg falsch war:"Ge­gen­über der im­men­sen Fort­ent­wick­lung der gro­ßen In­dus­tri­en in den letz­ten fünf­und­zwan­zig Jah­ren und der mit ihr fort­schrei­ten­den Par­tei­or­ga­ni­sa­ti­on der Ar­bei­ter­klas­se, gegen¬über den prak­ti­schen Er­fah­run­gen, zu­erst der Fe­bru­ar­re­vo­lu­ti­on und noch weit mehr der Pa­ri­ser Kom­mu­ne, wo das Pro­le­ta­ri­at zum ers­ten­mal zwei Mo­na­te lang die po­li­ti­sche Ge­walt in­ne­hat­te, ist heute dies Pro­gramm stel­len­wei­se ver­al­tet. Na­ment­lich hat die Kom­mu­ne den Be­weis ge­lie­fert, dass die Ar­bei­ter­klas­se nicht die fer­ti­ge Staats­ma­schi­ne in Be­sitz neh­men und sie für ihre eig­nen Zwe­cke in Be­we­gung set­zen kann.“

Be­son­ders die Not­we­nig­keit der Über­win­dung des Staa­tes wurde von En­gels spä­ter immer wie­der be­tont:"Alle So­zia­lis­ten sind einer Mei­nung dar­über, dass der po­li­ti­sche Staat und mit ihm die po­li­ti­sche Au­to­ri­tät im Ge­fol­ge der nächs­ten so­zia­len Re­vo­lu­ti­on ver­schwin­den wer­den, und das be­deu­tet, dass die öf­fent­li­chen Funk­tio­nen ihren po­li­ti­schen Cha­rak­ter ver­lie­ren und sich in ein­fa­che ad­mi­nis­tra­ti­ve Funk­tio­nen ver­wan­deln wer­den, die die wah­ren so­zia­len In­ter­es­sen hüten.“(4)

So­zi­al­de­mo­kra­tie und Eta­tis­mus

Doch dies wurde je­doch von ihren Un­ter­stüt­zern in Deutsch­land und Frank­reich nicht ver­stan­den, die dar­auf setz­ten, auf par­la­men­ta­ri­schem Wege die po­li­ti­sche Macht zu er­obern. „Alles was ich weiss ist, dass ich kein Mar­xist bin“ schrieb Marx, spöt­tisch be­zug­neh­mend auf die Ver­ball­hor­nung sei­ner Theo­ri­en durch die sog. „Mar­xis­ten“ in der fran­zö­si­schen „Parti Ou­vri­er“. In ihrer „Kri­tik des Go­tha­er Pro­gramms“ von 1875 (die von der SPD al­ler­dings erst 1891 ver­öf­fent­licht und mit Ver­weis auf das da­mals ak­tu­el­le „Er­fur­ter Pro­gramm“ als „ver­al­tet“ aus­ge­ge­ben wer­den konn­te) un­ter­zo­gen Marx und En­gels dem Re­for­mis­mus einer har­ten Kri­tik und leg­ten dar, warum Las­sal­les Be­griff eines „Volks­staa­tes“ ein Wi­der­spruch in sich sei. Al­ler­dings gin­gen so­wohl Marx wie En­gels davon aus, dass die So­zi­al­de­mo­kra­tie mit der Zeit einen an­de­ren Kurs ein­schla­gen würde. Doch diese Hoff­nun­gen er­füll­ten sich nicht. 1895 be­schwer­te sich En­gels bit­ter­lich dar­über, wie seine Ar­ti­kel von den Her­aus­ge­bern der Vor­wärts ent­stellt wur­den. Er starb ohne zu wis­sen in­wie­weit Karl Kau­tsky seine Ein­lei­tung zu den „Klas­sen­kämp­fen in Frank­reich“ po­li­tisch ent­stellt hatte.Die De­bat­ten der So­zi­al­de­mo­kra­tie dreh­ten sich vor­ran­gig um die Frage, wie die Par­tei­en der Zwei­ten In­ter­na­tio­na­le die Staats­macht er­obern könn­ten. Für die bes­ten re­vo­lu­tio­nä­ren Ele­men­te der Zwei­ten In­ter­na­tio­na­le stan­den die Frage des In­ter­na­tio­na­lis­mus und die Ge­fahr eines im­pe­ria­lis­ti­schen Krie­ges im Mit­tel­punkt, al­ler­dings blie­ben sie in der Min­der­heit.

Erst mit dem Schei­tern der re­vo­lu­tio­nä­ren Welle und der Er­rich­tung eines staats­ka­pi­ta­lis­ti­schen Re­gimes in der UdSSR wur­den die mar­xis­ti­schen Min­der­hei­ten sprich­wört­lich ge­zwun­gen, sich mit der Rolle des Staa­tes im re­vo­lu­tio­nä­ren Pro­zess aus­ein­an­der­zu­set­zen. Die Tat­sa­che dass nach dem Ers­ten Welt­krieg ei­ni­ge Schrif­ten von Marx zum Pro­blem des Staa­tes und der Re­vo­lu­ti­on ver­öf­fent­licht wur­den, war hier si­cher hilf­reich. Doch weit­aus wich­ti­ger war die Be­schäf­ti­gung mit den Räten die 1905 in Russ­land und an­ders­wo ent­stan­den waren. Das Bei­spiel der Räte hatte als „end­lich ent­deck­te po­li­ti­sche Form“ ge­zeigt, wie der bür­ger­li­che Staat über­wun­den wer­den könn­te, ohne ein neues re­pres­si­ves Herr­schafts­or­gan her­vor­zu­brin­gen. Die rus­si­schen Bol­sche­wi­ki ge­hör­ten si­cher­lich zu den re­vo­lu­tio­närs­ten Ele­men­ten der So­zi­al­de­mo­kra­tie. Den­noch folg­ten sie un­glück­li­cher­wei­se dem Bei­spiel der Men­sche­wi­ki und So­zi­al­re­vo­lu­tio­nä­re die wäh­rend der Zeit der sog. Dop­pel­herr­schaft ein po­li­ti­sches Re­gie­rungs­or­gan (die sog. Pro­vi­so­ri­sche Re­gie­rung) an die Spit­ze bzw. über die Rä­te­struk­tu­ren in Russ­land stell­ten. Mit der Grün­dung des „So­vn­ar­kom“ (Rat der Volks­kom­mis­sa­re) setz­ten die Bol­sche­wi­ki 1917 diese Tra­di­ti­on fort.(6)

An­fäng­lich mach­ten sich die Bol­sche­wi­ki dar­über wenig Ge­dan­ken, da sie an­nah­men, dass die Er­eig­nis­se in Russ­land nur der Auf­takt einer welt­wei­ten Re­vo­lu­ti­on seien. Viele füh­ren­de Mit­glie­der der Bol­sche­wi­ki hoben immer wie­der her­vor, dass ohne eine in­ter­na­tio­na­le Aus­wei­tung der Re­vo­lu­ti­on alles ver­lo­ren sei. In den De­bat­ten über Le­n­ins „April­the­sen“ hat­ten die Bol­sche­wi­ki zwar das alte so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Zwei­pha­sen-​Mo­dell in Frage ge­stellt, aber kein neues Pro­gramm ent­wi­ckelt. Die Bol­sche­wi­ki wirk­ten eher wie Ge­trie­be­ne die auf un­ter­schied­lichs­te Si­tua­tio­nen re­agier­ten bzw. re­agie­ren muss­ten, an­statt von einer so­li­den pro­gram­ma­ti­schen Basis aus zu agie­ren.

Mit der zu­neh­men­den Iso­lie­rung des rus­si­schen Pro­le­ta­ri­ats, ver­fes­tig­te sich auch die alte so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Vor­stel­lung, dass die Par­tei stell­ver­tre­tend für die Ar­bei­te­rIn­nen­klas­se die Macht über­neh­me und fe­der­füh­rend den So­zia­lis­mus auf­baue. Diese Kon­zep­ti­on blieb wei­ter­hin in der Drit­ten In­ter­na­tio­na­le be­stim­mend und stellt fak­tisch bis heute den po­li­ti­schen Be­zugs­rah­men der di­ver­sen Sta­li­nis­ten, Cas­tris­ten, Mao­is­ten und Trotz­kis­ten dar. Nur jenen kom­mu­nis­ti­schen Min­der­hei­ten, die sich in ihren Ana­ly­sen auf die Me­tho­de und Prin­zi­pi­en von Marx stütz­ten ge­lang es, sich von die­ser Vor­stel­lung frei zu ma­chen. Wir soll­ten nicht ver­ges­sen, dass es die rus­si­schen Links­kom­mu­nis­tIn­nen waren, die in ihrer Zeit­schrift „Kom­mu­nist“ als erste vor dem Ab­glei­ten der Re­vo­lu­ti­on in einen Staats­ka­pi­ta­lis­mus warn­ten.( Lenin stimm­te mit ihnen darin sogar über­ein, al­ler­dings war für ihn der Be­griff Staats­ka­pi­ta­lis­mus po­si­tiv kon­no­tiert)

Viele Mar­xis­ten (be­son­ders die­je­ni­gen die aus der Tra­di­ti­on des deut­schen Links­kom­mu­nis­mus kamen) gin­gen nun dazu über die Or­ga­ni­sa­ti­ons­form der Par­tei zu ver­wer­fen und ein­zig und al­lein die Räte als re­vo­lu­tio­nä­re Or­ga­ne an­zu­se­hen. Heut­zu­ta­ge gibt es nur noch we­ni­ge die sich als Rä­te­kom­mu­nis­tIn­nen be­zeich­nen. Den­noch hatte der Rä­te­kom­mu­nis­mus einen be­deu­ten­den und nach­hal­ti­gen Ein­fluss auf Mar­xis­tIn­nen wie auch An­ar­chis­tIn­nen. Die ita­lie­ni­sche Kom­mu­nis­ti­sche Linke brauch­te län­ger, um die Rolle des Staa­tes und den Cha­rak­ter einer Re­vo­lu­ti­on zu ver­ste­hen. Ama­deo Bordi­ga hatte stets für das Kon­zept einer Dik­ta­tur der Par­tei selbst in und über den Räten ar­gu­men­tiert. Erst als sich gegen Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges in Ita­li­en die Par­ti­to Co­mu­nis­ta In­ter­na­zio­na­lis­ta (PCInt) grün­de­te, wurde die­ses Kon­zept in­fra­ge ge­stellt, was letzt­end­lich zur Tren­nung von Bordi­ga und sei­nen An­hän­gern führ­te, die sich be­harr­lich wei­ger­ten an­zu­er­ken­nen dass Russ­land staats­ka­pi­ta­lis­tisch war. In ihrer Platt­form hob die PCInt 1952 her­vor, dass die Ar­bei­te­rIn­nen­klas­se die Ent­wick­lung des So­zia­lis­mus an nie­man­den de­le­gie­ren kann, nicht ein­mal an die ei­ge­ne re­vo­lu­tio­nä­re Par­tei. Re­vo­lu­tio­nä­rIn­nen mögen eine füh­ren­de Rolle spie­len und in den Or­ga­nen der Klas­se für eine pro­le­ta­ri­sche Per­spek­ti­ve kämp­fen. Die Ver­wirk­li­chung des So­zia­lis­mus er­for­dert je­doch die Selbst­ak­ti­vi­tät der Klas­se. Die Ar­bei­te­rIn­nen­klas­se muss in­ter­na­tio­nal ihre ei­ge­nen Or­ga­ne und Struk­tu­ren ent­wi­ckeln (Fa­bri­ko­mi­tees, Ver­samm­lun­gen, Räte usw.) um Klas­sen­ge­gen­sät­ze, Fremd­be­stim­mung, Geld, Gren­zen und Ar­me­en zu über­win­den. Die ein­zi­ge Ga­ran­tie gegen die Wie­der­kehr einer re­pres­si­ven staat­li­chen Struk­tur be­steht in der Selbst­ak­ti­vi­tät der Mas­sen!

An­ar­chis­ti­sche Ago­ni­en

Auch im an­ar­chis­ti­schen Lager muss­te gegen re­for­mis­ti­sche Ten­den­zen ge­kämpft wer­den. Wir wol­len hier nicht näher auf die frü­hen Mu­tua­lis­ten ein­ge­hen, die glaub­ten, eine so­zia­lis­ti­sche Ge­sell­schaft auf den Ka­te­go­ri­en von Ware und Geld auf­bau­en zu kön­nen. Statt­des­sen wol­len wir den Schwer­punkt auf die an­ar­cho­syn­dikalis­ti­sche Be­we­gung legen, die einen kla­ren re­vo­lu­tio­nä­ren An­spruch hatte. Sie wurde be­son­ders in jenen Län­dern stark, wo die Klas­se durch die Aus­beu­tung buch­stäb­lich an die Wand ge­drückt wurde, so dass das Kon­zept des so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Gra­dua­lis­mus wenig er­folg­ver­spre­chend er­schien. Neh­men wir nur das Bei­spiel der fran­zö­si­schen „Con­fe­de­ra­ti­on Ge­ne­ral du Tra­vail“ (CGT). Diese syn­di­ka­lis­ti­sche Ge­werk­schaft schien ge­ra­de­zu der Ge­gen­pol zum so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Re­for­mis­mus zu sein. An­ge­sichts der har­ten Hal­tung der Bosse war sie ge­zwun­gen zu kämp­fen, um ihren For­de­run­gen mit meh­re­ren mi­li­tan­ten Streiks Nach­druck zu ver­lei­hen. Doch diese Ära ging ste­tig ihrem Ende ent­ge­gen, wie u.a. auch die Bro­schü­re der „Sol­fed“ aus­führt:

An­fang des 20 Jahr­hun­derts nahm der Staat und die Bosse an­ge­sichts der Er­fol­ge der CGT eine ver­söhn­li­che und ent­ge­gen­kom­men­de Hal­tung ein. Dies er­öff­ne­te den Re­for­mis­ten immer grö­ße­re Spiel­räu­me zur Klas­sen­zu­sam­men­ar­beit. Im Jahr 1909 waren die Re­vo­lu­tio­nä­re an­ge­sichts des Wachs­tums der Ge­werk­schaft in die Min­der­heit ge­ra­ten. In einem Land mit einer Be­völ­ke­rung von 7 Mil­lio­nen (in Wirk­lich­keit waren es 35 Mil­lio­nen, An­merk. d. CWO) war die CGT von 10000 Mit­glie­dern im Jahr 1902 auf 700 000 Mit­glie­der im 1912 an­ge­wach­sen. Vic­tor Grif­fu­el­hes trat in­fol­ge der Ma­nö­ver und Ma­chen­schaf­ten gegen ihn als Ge­ne­ral­se­kre­tär zu­rück und Emile Pouget trat des­il­lu­sio­niert aus der Ge­werk­schaft aus. Das Ab­glei­ten in die Klas­sen­kol­la­bo­ra­ti­on, den Re­for­mis­mus und Bü­ro­kra­ti­sie­rung fand mit der Un­ter­stüt­zung des na­tio­na­len Kriegs durch die CGT sei­nen Hö­he­punkt. Dies war der deut­lichs­te Bruch mit den eins­ti­gen re­vo­lu­tio­nä­ren und in­ter­na­tio­na­lis­ti­schen Ur­sprün­gen.

Doch das be­traf nicht nur die CGT. Wie die Mehr­heit der sog. „Mar­xis­ten“ der Zwei­ten In­ter­na­tio­na­le ging auch der an­ar­chis­ti­sche Theo­re­ti­ker Kro­pot­kin und mit ihm viele An­ar­chis­ten 1914 zur „Va­ter­lands­ver­tei­di­gung“ und Kriegs­un­ter­stüt­zung über.

Genau wie Kron­stadt 1921 mit aller Deut­lich­keit ge­zeigt hatte, dass die pro­le­ta­ri­sche Re­vo­lu­ti­on nicht mit dem Eta­tis­mus kom­pa­ti­bel ist, so lie­fer­te der Spa­ni­sche Bür­ger­krieg 1936 den Be­weis dafür, dass an­ar­chis­ti­sche Prin­zi­pi­en al­lei­ne nicht aus­rei­chen. Spa­ni­en war 1936 ge­nau­so iso­liert (wenn nicht sogar iso­lier­ter) als das re­vo­lu­tio­nä­re Russ­land 1918. Da sich der spa­ni­sche Staat nicht am Ers­ten Welt­krieg be­tei­ligt hatte, ver­lief die his­to­ri­sche Ent­wick­lung hier an­ders als in den meis­ten eu­ro­päi­schen Län­dern. Hier hatte sich in den 30er Jah­ren eine mas­sen­haf­te re­vo­lu­tio­nä­re Be­we­gung gegen den dro­hen­den im­pe­ria­lis­ti­schen Krieg ent­wi­ckelt. Den­noch hielt die re­vo­lu­tio­nä­re Si­tua­ti­on nicht lange an, son­dern wurde tra­gi­scher Weise im im­pe­ria­lis­ti­schen Kes­sel­trei­ben auf­ge­löst. Unter dem Druck die sta­li­nis­ti­sche Volks­front gegen den Fa­schis­mus zu un­ter­stüt­zen, gab die Füh­rung von CNT und FAI ihre ab­leh­nen­de Hal­tung ge­gen­über dem Staat auf und be­tei­lig­te sich zu­nächst an der (ka­ta­la­ni­schen) Re­gie­rung in Bar­ce­lo­na und spä­ter der Zen­tral­re­gie­rung in Mad­rid. Die Re­vo­lu­ti­on wurde ab­ge­sagt und statt­des­sen die vor­geb­li­che „Volks­front gegen den Fa­schis­mus“ un­ter­stützt, die von den Sta­li­nis­ten in den schöns­ten Tönen ge­prie­sen wurde. Letzt­end­lich wurde damit der Selbst­ak­ti­vi­tät der Mas­sen der Boden ent­zo­gen und die Ar­bei­te­rIn­nen­klas­se dem Im­pe­ria­lis­mus aus­ge­lie­fert.

Re­vo­lu­tio­nä­re für die Re­vo­lu­ti­on

Die fun­da­men­ta­le Schwä­che vie­ler vor­geb­li­cher “Mar­xis­ten” und “An­ar­chis­ten” kann auf ein un­zu­rei­chen­des Ver­ständ­nis der Klas­sen­ge­sell­schaft und des Klas­sen­kamp­fes zu­rück­ge­führt wer­den. Wenn man sich bei der Ana­ly­se nicht an Klas­sen­kri­te­ri­en ori­en­tiert, endet man un­wei­ger­lich im Re­for­mis­mus. Auch heute tre­ten staats­fi­xier­te „Mar­xis­ten“ für Ver­staat­li­chun­gen und Ein­heits-​und Volks­fron­ten mit die­ser und jener na­tio­na­lis­ti­schen Be­we­gung ein, umso so schnell wie mög­lich zur einer Ge­sell­schafts­form zu kom­men, die sie als „So­zia­lis­mus“ aus­ge­ben, die für uns al­ler­dings nichts an­de­res als Staats­ka­pi­ta­lis­mus ist.

Als Mar­xis­tIn­nen haben wir nicht das Ge­rings­te mit die­sen Staats­lin­ken zu schaf­fen. Wir tei­len nicht ein­mal die glei­che Vor­stel­lung über eine zu­künf­ti­ge kom­mu­nis­ti­sche Ge­sell­schaft. So­lan­ge wir nicht das Geld und damit die Aus­beu­tung los­ge­wor­den sind (und Aus­beu­tung be­deu­tet nicht ein­fach nur Nied­rig­löh­ne son­dern Lohnar­beit über­haupt), so­lan­ge wir nicht Struk­tu­ren ge­schaf­fen haben die den re­pres­si­ven Ap­pa­rat eines Staa­tes über­wun­den haben, so­lan­ge es keine Re­vo­lu­ti­on im Welt­maß­stab gibt, kön­nen wir auch nicht von So­zia­lis­mus oder Kom­mu­nis­mus reden. Und dies scheint heute der Knack­punkt zu sein. Der Re­for­mis­mus ist ge­ra­de heute in den un­ter­schied­lichs­ten Aus­prä­gun­gen wie­der im Kom­men. Neben dem üb­li­chen Ge­werk­schafts­for­de­run­gen nach einem an­geb­lich „ge­rech­ten Lohn“ gibt es auch die re­for­mis­ti­sche Vor­stel­lung kom­mu­nis­ti­sche Struk­tu­ren ent­wi­ckeln zu kön­nen ohne die Macht des bür­ger­li­chen Staa­tes zu zer­stö­ren. Fer­ner gibt es den Re­for­mis­mus der Oc­cu­py – Be­we­gung mit der po­pu­lis­ti­schen Lo­sung der „99% gegen die 1%“. Dabei gerät völ­lig aus dem Blick­feld, dass die Ar­bei­te­rIn­nen­klas­se als aus­ge­beu­te­te und ei­gen­tums­lo­se Klas­se in einem ganz an­de­ren Ver­hält­nis zum Ka­pi­ta­lis­mus steht, als viele der sog. „99%”.

An­ge­sichts der glo­ba­len ka­pi­ta­lis­ti­schen Krise müss­te das Ziel einer hu­ma­nen Ge­sell­schaft gar nicht so uto­pisch und so weit ent­fernt seien, wie viele von uns viel­leicht den­ken. Es ist heute durch­aus mög­lich über An­ti­ka­pi­ta­lis­mus zu reden ohne gleich schräg an­ge­se­hen zu wer­den. Doch gleich­zei­tig steckt der Wi­der­stand der Klas­se al­len­falls in den An­fän­gen. Auf der an­de­ren Seite kön­nen wir auf einen reich­hal­ti­gen Er­fah­rungs­schatz von Kämp­fen der letz­ten 200 Jahre zu­rück­grei­fen. Er­fah­run­gen die heute den meis­ten Men­schen un­be­kannt sind, von der gro­ßen Mehr­heit der Ar­bei­te­rIn­nen­klas­se gar nicht zu reden. Die zu­neh­men­de or­ga­ni­sche Zu­sam­men­set­zung des Ka­pi­tals läuft auf Jahre der Kür­zungs­po­li­tik hin­aus. Die Spiel­räu­me des Ka­pi­ta­lis­mus neue Ge­ne­ra­tio­nen gut­aus­ge­bil­de­ter Ar­bei­te­rIn­nen in den Pro­duk­ti­ons­pro­zess zu in­te­grie­ren schwin­den. Dies er­öff­net Re­vo­lu­tio­nä­rIn­nen Mög­lich­kei­ten Teile der Ar­bei­te­rIn­nen­klas­se auf ihre ei­ge­ne Ge­schich­te auf­merk­sam und neu­gie­rig zu ma­chen. Das be­deu­tet nicht, dass wir ein­fach nur die Frage des Kom­mu­nis­mus als schö­ne Idee für die Zu­kunft auf­zu­wer­fen bräuch­ten und an­sons­ten nichts tun müss­ten. Theo­rie und Pra­xis sind keine ge­trenn­ten Dinge. Wir müs­sen den Kampf für den Kom­mu­nis­mus mit den täg­li­chen Kämp­fen gegen die An­grif­fe des Ka­pi­ta­lis­mus ver­bin­den. Wir müs­sen ver­su­chen Ver­bin­dun­gen mit wei­ten Tei­len der Klas­se her­zu­stel­len. Letzt­lich kann es keine re­vo­lu­tio­nä­re Be­we­gung geben, die keine feste Ver­an­ker­ung in der Ar­bei­te­rIn­nen­klas­se sel­ber hat.

Doch auch hier wird ein wei­te­rer Un­ter­schied zwi­schen Re­vo­lu­tio­nä­rIn­nen und Re­for­mis­ten deut­lich. Wäh­rend Re­vo­lu­tio­nä­rIn­nen dafür plä­die­ren nicht nur die Kür­zun­gen son­dern das Sys­tem wel­che sie her­vor­bringt zu be­kämp­fen, be­schrän­ken sich Re­for­mis­ten wenn über­haupt auf den Pro­test gegen Kür­zun­gen oder die „Ver­tei­di­gung des So­zi­al­staats“. Lo­gi­scher­wei­se stel­len sie nie­mals das Sys­tem als Gan­zes in­fra­ge. Bei den meis­ten Di­no­sau­ri­ern der „alten Ar­bei­ter­be­we­gung“ wie bspw. den Sta­li­nis­ten oder Trotz­kis­ten, kommt dies nicht von un­ge­fähr. Ihnen geht es vor­ran­gig darum et­wai­ge „Wahl­al­ter­na­ti­ven“ gegen die Kon­ser­va­ti­ven zu un­ter­stüt­zen, an­statt eine re­vo­lu­tio­nä­re Al­ter­na­ti­ve zum Ka­pi­ta­lis­mus auf­zu­bau­en. Sie ver­ste­hen und un­ter­stüt­zen wei­ter­hin den Staat als Trä­ger und Trans­mis­si­ons­rie­men für ihre vor­geb­li­chen „so­zia­lis­ti­schen Am­bi­tio­nen“. Und dies scheint heute die Tren­nungs­li­nie und der sprin­gen­de Punkt zu sein. An­ti­staat­li­che, an­ti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Re­vo­lu­tio­nä­rIn­nen sind sich in ihrer Vor­stel­lung einer kom­mu­nis­ti­schen Ge­sell­schaft sehr ähn­lich. Es ist an der Zeit dass sich Re­vo­lu­tio­nä­rIn­nen dar­über klar wer­den und auf die­ser Basis in Be­zie­hung tre­ten. Wir mögen un­ter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen haben wie eine freie Ge­sell­schaft er­kämpft wer­den kann, doch dies ist Ge­gen­stand der Dis­kus­si­on – und so­lan­ge es keine wirk­li­che Klas­sen­be­we­gung gibt, die die­sen Namen ver­dient ist, dies eine of­fe­ne De­bat­te …(CWO)

(1) Karl Marx/ Fried­rich En­gels: Ma­ni­fest der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei, Seite 69, Ber­lin 1989

(2) Ebenda

(3) Karl Marx Fried­rich En­gels: Vor­wort zur zwei­ten deut­schen Aus­ga­be des Kom­mu­nis­ti­schen Ma­ni­fests von 1872, Seite 12, Ber­lin 1989.

(4) MEW Bd. 18, Seite 308

(5) Ur­sprüng­lich soll­te dies Mit­glie­der die­ses Re­gie­rungs­gre­mi­ums im her­kömm­li­chen Sinne Mi­nis­ter hei­ßen, bis Trotz­ki die re­vo­lu­tio­nä­rer klin­gen­de Be­zeich­nung „Volks­kom­mis­sar“ ins Spiel brach­te

Saturday, November 30, 2013