The Great Unrest (1910 bis 1914): Als die britische ArbeiterInnenklasse die Fundamente des Kapitalismus erschütterte

Je mehr Zeit vergeht desto mehr entwickelt sich das Internet zu einer Hauptquelle der vergessenen Details der Geschichte der ArbeiterInnenklasse die ansonsten in den Archiven lagern und nur gelegentlich ans Tageslicht befördert werden, um die gängigen Interpretationen zur Geschichte der „Arbeiterbewegung“ zu stützen. In diesem Text geht es darum, auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückzublicken. Er basiert auf Quellenmaterial aus lokalen Archiven aus dem Nordosten Englands und anderer Orte, welches deutlich zeigt, dass die legendären Ereignisse wie die Kanonenboote auf der Mersey nicht die ganze Geschichte war. Vielmehr handelte sich um eine landesweite, von der ganzen ArbeiterInnenklasse getragene Bewegung, die den bürgerlichen Staat ernsthaft herausforderte.

Von 1910 bis 1914 ereilte England eine Streikwelle, die sich durch ihre Militanz und ihre Verweigerung auszeichnete, dem Diktat der Gewerkschaftsführer weiter Folge zu leisten. Diese Militanz erschütterte den bürgerlichen Staat in seinen Grundfesten. Die liberale Regierung um Herbert Henry Asquith ging zunehmend dazu über, auf militärischen Mitteln zurückzugreifen um die Streiks einzudämmen. Eines der bekanntesten Beispiele für die Kriegsführung der Regierung war die im Jahr 1911 erfolgte Entsendung zweier Kriegsschiffe auf den Fluss Mersey, um gegen einen Streik der Seeleute vorzugehen. Allerdings gibt es ebenso eine Fülle ähnlicher Beispiele wie etwa die Entsendung von Truppen gegen den Eisenbahnstreik im gleichen Jahr, um so zu versuchen Streikbrechern einzusetzen. In dieser Zeit durchbrach die ArbeiterInnenklasse mehr und mehr die Schranken der bürgerlichen Legalität. Es entwickelte sich ein neues Bewusstsein, welches die grundlegenden Regeln des bürgerlichen Staates zunehmend in Frage stellte.

Ökonomische Restrukturierung und Austeritätspolitik

Um kurz und bündig skizzieren zu können wie die Militanz aussah und wie sie sich auf das Klassenbewusstsein auswirkte, ist es notwendig die Streikserie in ihrem historischen Kontext zu sehen. Als erstes gilt es zu verstehen, das die Streikserie im Zuge des Endes der ‚friedlichen‘ kapitalistischen Periode entstand. Die lang anhaltende ökonomische Expansion zeigte schon in der Zeit der sog. Großen Depression 1873-96 erste Ermüdungserscheinungen. Ein kurzer Boom folgte. Doch zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts stagnierten die Löhne bei steigenden Lebenshaltungskosten. Der Lebensstandard der ArbeiterInnenklasse wurde zunehmend beschnitten. Die Parallele zu heute ist eindrucksvoll. Zwischen 1910 uns 1914 befand sich der Kapitalismus am Ende eines Akkumulationszyklus.

Doch die Angriffe auf den Lebensstandard der ArbeiterInnen allein können die große Empörung nicht erklären. Schließlich waren niedrige Löhne nichts absolut Neues im englischen Kapitalismus. Armut allein erzeugt für sich genommen noch keinen Widerstand und Militanz. Etwas anderes war notwendig und dies waren exakt zwei Faktoren: Um auf dem Weltmarkt bestehen zu können mussten die Besitzenden versuchen den Ausbeutungsgrad der ArbeiterInnenklasse zu erhöhen. Um eine höhere Profitrate zu erzielen gibt es nur zwei Wege: Zum einen den der Lohnabsenkungen zum anderen den der Reorganisierung und Umstrukturierung der Produktion, um so mit weniger ArbeiterInnen mehr Produkte auf den Markt zu werfen. Die sind bis heute die gängigen Wege um den kapitalistischen Produktionsprozess am Laufen zu halten. Dies stößt immer wieder auf den Widerstand der ArbeiterInnen, die sich den neuen wissenschaftlichen Managementideen wie bspw. der Taylorisierung der Arbeitsabläufe widersetzen. Die Frage wer über den Arbeitsprozess bestimmt, die Unternehmer oder die Arbeiter, kombiniert mit dem zunehmendem Druck des sinkenden Lebensstandards der arbeitenden Klasse führte zunehmend zu einer Zerreißprobe zwischen den Klassen in der englischen Gesellschaft.

Unzufriedenheit mit der Labour Party

Der Versuch der Bourgeoisie die Ausbeutung im steigenden Maße zu verschärfen, hatte zeitgleich eine Verbreitung sozialistischer Ideen in der ArbeiterInnenklasse zur Folge. Mit der zunehmenden Desillusionierung vieler junger ArbeiterInnen über die Labour Party wuchs die Bewegung an. Nach dem Erfolg bei den Wahlen 1906 hatte es eine gestiegene Erwartungshaltung an die Labour Party gegeben, die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen auf parlamentarischem Wege zu verbessern. Doch es dauerte nicht lange bis diese Hoffnungen enttäuscht wurden und sich die Labour Party in einem regelrechten Schmusekurs der liberalen Regierung um den Hals warf. Während die liberale Regierung Asquiet eine Reihe von Reformen in die Wege leitete, deren wichtigste der „National Insurance Act“ von 1911 war, fand die Labour Party keine Antwort auf die immer dringlichere Frage des Anwachsens der Arbeitslosigkeit sowie den stetig zunehmenden Lohnkürzungen. In Opposition zur Labour Party stand der Marxist John MacLean (6). Er argumentierte:

Die Wahlen 1906 brachten den Labour Kandidaten einen unglaublichen Erfolg. Es ist mir egal wie das im Einzelnen zustande kam. Eine neue Partei existierte nun um die Sache der Arbeiter zum Sieg zu verhelfen, es sah rosiger aus und die Konferenz der Labour Party 1907 beschloss eine allgemein getragene sozialistische Resolution. Dies gab einigen von uns die Chance auf die wir hofften. Hyndman und einige andere von uns verlangten eine gerechte Vereinigung mit der Sozialdemokratischen Föderation (Socialist Democratic Federation, SDF) und ihrem Kreis um die Zeitschrift Justice und unterstützen eine Resolution mit diesem Ziel auf unserer Konferenz in Manchester 1907. Aber wir wurden vernichtend geschlagen. Seither agiert die Labour Party anstatt mit und für die Arbeiterklasse zu kämpfen und ihr aufrecht als eigenständige Kraft zur Seite zu stehen wie ein Verteidiger der liberalen Minister, angepasst und staatsmännisch, als müsste sie beweisen, dass sie die effektivste Werbeagentur der [liberalen] Partei ist …

Innerhalb der Labour Party verkörperte Mac Lean den wachsenden Unmut. Außerhalb der Labour Party konnten politische Organisationen wie die „Independent Labour Party“ (ILP) (1), die „Social Democratic Federation“ (SDF) (2) wie auch die „Socialist Labour Party“ (SLP) (3), ihren Einfluss vergrößern. So erfreulich es war über Alternativen zur Labour Party zu verfügen, stellte sich der ArbeiterInnenklasse und erst recht revolutionären Minderheiten das Problem, dass jede dieser Organisationen ernsthafte Schwächen anhafteten. Die Unabhängigen waren stark von pazifistischen Ideen beeinflusst. Die „Social Democratic Federation“ um Hyndman (4) hingegen vertrat zunehmend sozialimperialistische Ideen. Lenin bezeichnete diese Erscheinung als Sozialismus des Worts und den Imperialismus der Tat. Im Falle der „Socialist Labour Party“ (SLP) fand organisatorisch und theoretisch eine Annäherung an halb syndikalistische Ideen statt.

Syndikalismus als eine Alternative?

Die Gewerkschaften hatten in den 1880er Jahren durch den Zugewinn bisher unorganisierter Sektoren, wie den Hafenarbeitern oder den Gasarbeitern, einige Erfolge verbuchen können. Zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts nahmen sie jedoch mehr und mehr den Charakter von Vermittlungs- und Schlichtungsinstanzen zwischen Unternehmern und den ArbeiterInnen an. Die einfachen Gewerkschaftsmitglieder sahen in sofortige unmittelbare Aktionen einen gangbaren Weg Verbesserungen zu erkämpfen. Anders verhielt es sich jedoch mit den hautamtlichen Gewerkschaftsfunktionären. Wo immer es ging hielten sie die ArbeiterInnen von Kampfmaßnahmen zurück, um auf am Verhandlungstisch zu Lösungen zu kommen. Unzufriedenheit machte sich breit und so mancher Gewerkschafter, darunter vor allem jüngere AktivistInnen gelangten zu dem Schluss, dass den Gewerkschaften mehr an Verhandlungen gelegen war, als daran sie in ihren alltäglichen Kämpfen gegen die Unternehmer zu unterstützen. Ihre Antwort auf die auf Ausgleich bedachte Verhandlungsstrategie der Gewerkschaftsführer äußerte sich in Groll und Kritik an der Labour Party, die sich immer schwerer tat die Liberale Partei auch nur zu kritisieren. Besonders junge Gewerkschaftsmitglieder waren dadurch empfänglich für die Idee des Syndikalismus, d.h. die Ablehnung politischer Parteien und den Versuch jenseits der etablierten Parteien eine branchenübergreifende Gewerkschaft aufzubauen. Die Anziehungskraft des Syndikalismus speist sich aus der Erkenntnis, dass die Stärke der ArbeiterInnenklasse in ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln liegt. Demgegenüber besteht jedoch die Schwäche des Syndikalismus darin, jeglichen politischen Kampf zu verwerfen. Syndikalisten sind der Überzeugung, dass der Kapitalismus im Zuge eines Generalstreiks und die Übernahme der Kontrolle der Betriebe durch die Arbeiter überwunden werden könne. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Bourgeoisie kaum warten wird bis sich die ArbeiterInnen soweit kollektiv organisiert haben. Mit ziemlicher Sicherheit ist davon auszugehen, dass die besitzende Klasse wenn sie sich in ihren Klasseninteressen bedroht fühlt, die volle Kraft und Gewalt des bürgerlichen Staates in Anspruch nimmt, um die Rebellion der Arbeiter nieder zu ringen. Und faktisch verhielt es sich auch genau so.Während des „Great Unrest“ setzten die Unternehmer voll auf die Repression des Staates um die Streiks in Liverpool niederzuschlagen. Einer der unnachgiebigsten Streikführer, Tom Mann (5), wurde festgenommen.

In den Kohleminen Durhams verbreiteten junge Bergarbeiter wie bspw. Georg Harvey syndikalistische Ideen und setzten diese der konservativen Gewerkschaftsführung der DMA (Durham Miners Association) entgegen. Unter den Eisenbahnern fand die von Charles Watkins herausgegebene syndikalistische Zeitschrift ‚ „Syndicalist Railwayman“ eine weite Verbreitung. Die syndikalistische Propaganda ging jedoch nicht über den Tellerrand ökonomischer Forderungen hinaus und war somit nicht in der Lage das politische Niveau der Streiks zu erhöhen geschweige denn eine fundamentale Opposition gegen den bürgerlichen Staat zu entwickeln.

Die ArbeiterInnen greifen zu eigenen Aktionen

Besonders viele junge ArbeiteraktivistInnen sahen im Syndikalismus trotz all seiner Schwächen eine politische Alternative zu den bestehenden Gewerkschaften. Während der ersten größeren Streiks in den Kohlgruben von Durham 1910 widersetzte sich eine große Mehrheit der Arbeiter der Aussetzung des Streiks durch die konservative Gewerkschaftsführung der „Durham Miner`s Association“. Die Bergarbeiter

traten für mehr als acht Wochen in den Streik, um dem Vorstoß der Bergwerksunternehmen das Zweischicht-Verfahren von 1890 durch ein Dreischichtmodell zu ersetzen eine klare Absage zu erteilen. In den Streiks spielte das Mittel der direkten Aktion eine große Rolle zumal die Bergbauunternehmen alles aufboten um Streikbrecher einzusetzen. Die ArbeiterInnen, Frauen wie Männer, wehrten sich dagegen energisch. Gleichwohl brach der Streik nach 12 Wochen ab. Aber schon 1912 folgte ein weiterer diesmal landesweiter Streik mit der Forderung nach einem Mindestlohn, der sich wiederum durch eine unglaubliche Entschlossenheit der BergarbeiterInnen auszeichnete. Es war erstaunlich, welch hohes Maß an Selbstdisziplin und eigener Organisationsfähigkeit in der ArbeiterInnenklasse herangereift war.

Der Kampf der Bergarbeiter für Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen weitete sich auch auf die Eisenbahnarbeiter aus. 1911 entwickelte sich in Liverpool ein Streik der sich rasant schnell und gegen den „Rat“ der Gewerkschaftsführer ausbreitete und immer mehr Eisenbahner erfasste. Auch dieser Streik zeichnete sich durch ein hohes Maß an Militanz aus und fand in den lokalen Communities viel Unterstützung und Rückhalt. Zur bekanntesten Auseinandersetzung kann es in Llanelli in Südwales, wo die Armee die gesamte Stadt umzingelte. Dem Militäreinsatz fielen zwei streikende Bahnarbeiter zum Opfer. In einem Bericht im „Durham Chronicle“ ist zu lesen, das ganze Waggons mit Streikbrechern herangekarrt wurden. Als ihr Zug die Ebene von Annfield zwischen Tyne Dock und Consett passierte wurde er von den ortsansässigen ArbeiterInnen mit einem regelrechten Steinhagel eingedeckt. In Shildon erhielt ein Streik vor Ort die Bezeichnung ‚Knox’s Strike‘, weil 540 schwerbewaffnete Soldaten in die Stadt geholt werden mussten, um die Züge der Streikbrecher zu schützen. In Darlington ließ die herrschende Klasse eintausend Soldaten einrücken um den lokalen Aufstand niederzuwerfen.

Historiker bewerteten die Streiks während des „Great Unrest“ maßgeblich als Auseinandersetzung der industriellen Arbeiterklasse, d.h. der Bergarbeiter, der Eisenbahner und der Hafenarbeiter. Dabei lag die Stärke und Dynamik der Streiks gerade darin, dass bisher unorganisierte ArbeiterInnen in den Kampf miteinbezogen wurden. Für viele von ihnen, besonders für die vielen ungelernten Arbeiterinnen die eine besonders aktive Rolle spielten, war es das erste Mal dass sie sich an Streikaktionen beteiligten. Die Arbeiterinnen der Süßwarenindustrie in Bristol, verließen ihre Fabriken, demonstrierten auf der Strasse und forderten die Arbeiter anderer Fabriken zum Streik auf. In London beteiligten sich Arbeiterinnen der Bekleidungsindustrie mit dem gleichen Selbstverständlichkeit an den Aktionen wie die Kaufhausbeschäftigten. In der Phase von 1910 bis 1914 kam es in der Region um Clydeside zu massiven Arbeiterunruhen. Die Zahl der durch Streikaktivitäten verlorenen Arbeitstage war in diesen vier Jahren viermal höher als im ganzen vorangegangen Jahrzehnt 1900-1910. Einer der bekanntesten Streiks entwickelte sich in der Nähmaschinenfabrik Singer Sewing in Clydebank gegen geplante Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen. Auch bei diesem Streik an dem sich 11 000 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten ging die Initiative von den Frauen aus. Hier zeigte sich erneut wie sehr sich vormals dem Schicksal ergebene Gruppen von ArbeiterInnen radikalisiert hatten. Besonders Frauen und ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter spielten in diesen Kämpfen für höhere Löhne eine herausragende Rolle. Dieser Ausbruch der über Jahre angestauten Wut versetzte die Bourgeoisie in Angst und Schrecken. Im Jahre 1913 sah es danach aus, als ob die sich Streiks entwickeln und neue Schichten der ArbeiterInnenklasse in die Kämpfe einbezogen würden. Trotz der durch Aussperrung herbeigeführten Niederlage der Kämpfe in Dublin 1913 ging der liberale Schatzkanzler Lloyd George davon aus, dass 1914 mit einer stärkeren Streikwelle zu rechnen sei und ggfs. noch stärkere Konfrontationen mit der ArbeiterInnenklasse anstünden. Dazu kam es schließlich nicht, weil es der britischen wie auch der Bourgeoisie anderer europäischer Länder gelang, die ArbeiterInnenklasse in die grauenhafte Schlächterei des Ersten Weltkrieges zu treiben. Die ganze Militanz der ArbeiterInnenklasse schien sich wie Nebel im Morgenlicht verflüchtigt zu haben. Kurz zuvor hatten Labour Party und die Gewerkschaften mit der Bourgeoisie ihren Burgfrieden geschlossen und im Namen der nationalen Solidarität tausende von Arbeitern für das Gemetzel der Schützengräben mobilisiert. Dieser Verrat warf ein bezeichnendes Licht auf die Gewerkschaften wie auch die Labour Party und unterstrich einmal mehr die Tatsache dass sie aus dem Lager der Arbeiterklasse ausgeschert waren. Sie wurden zu Organisationen deren Hauptaufgabe darin bestand und besteht die kapitalistische Wirtschaftsordnung zu verteidigen.

Nach hundert Jahren

Was können wir heute als ArbeiterInnen und/oder revolutionäre Minderheiten aus diesen Streiks lernen? Es gibt einige Ähnlichkeiten. Damals wie heute sind ArbeiterInnen mit harten Lohnkürzungen und der Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen konfrontiert. Damals waren direkte Lohnkürzungen (anstatt Lohneinfrierungen oder Lohnwachstum unterhalb der Inflationsrate) auf der Tagesordnung. Der herrschenden Klasse bescherte die Ausbeutung der immer mehr verarmenden Arbeiterinnen und Arbeiter erquickliche Gewinne. Die sagenhafte Entfaltung von Reichtum dieser Ära entspricht dem Wohlstand der heutigen Kapitalistenklasse. (…) Gleichzeitig leiden heute viele ArbeiterInnen unter Lohnkürzungen, müssen unter sklavischen Bedingungen mit Kurzeitverträgen schuften, und werden durch die steigende Arbeitslosigkeit immer mehr unter Druck gesetzt. Gegenwärtig scheint die Klasse gegen die Angriffe auf ihre Lebensbedingungen kaum Widerstand zu leisten. Doch wir sollten uns klar sein das die Gesellschaft oberflächlich betrachtet ruhiger erscheint als sie eigentlich ist. Etwaige Erschütterungen und Brüche bleiben einer solchen Sichtweise verborgen. Alle Kommentatoren und Beobachter waren während der Zeit des „Great Unrest“ überrascht wie plötzlich und vielfältig sich die Wut der Arbeiterinnen und Arbeiter in ihren Aktionen entfaltete. Vielen schien es so als käme dieser Wutausbruch aus dem Nichts. Heute befinden wir uns in einer vergleichbaren Situation, da Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern mit dem Rücken zur Wand stehen, nicht nur in Hinblick auf die Lebensbedingungen sondern auch (angesichts drastischer Kürzung der Löhne und Renten) in Bezug auf ihre Zukunft.

Der „Great Unrest“ zeigte aber auch deutlich dass ökonomische Militanz allein als Kampfansage an die Bourgeoisie und Antwort auf die kapitalistische Krise nicht ausreicht. Das Erkennen und Verstehen der Unzufriedenheit und Wut in der Klasse reicht nicht aus. Erforderlich ist eine revolutionäre marxistische Organisation, die über ein solides theoretisches Fundament verfügt und darüber hinaus über eine solide Verankerung in der Klasse verfügt. Zur Zeit des „Great Unrest“ war die relativ junge Labour Party fähig sich den Massen der Arbeiterinnen und Arbeiter als ‚ihre‘ Partei darzustellen. Obwohl Revolutionäre wie bspw. John MacLean die Labour Party für ihre Mätzchen im Parlament scharf kritisierten da sie zunehmend den Politikstil der Liberalen Partei kopierte während Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter angesichts der Niedriglöhne und Arbeitslosigkeit hungerten, herrschte bei der Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter die Überzeugung vor, dass die Labour Party schon irgendwie ’sozialistisch‘ sei. Organisationen wie MacLeans „British Socialist Party(7) oder die politisch deutlich klarere „Socialist Labour Party“ taten sich schwer darzulegen wie arbeiterfeindlich die Labour Party war. Die enthusiastische Stimmung zu Kriegsbeginn die viele Arbeiter dazu führte sich ‚freiwillig‘ für den Kriegseinsatz zu melden, verdeutlichte schmerzhaft, dass kein Bruch mit dem Nationalismus stattgefunden hatte, und den Schrecken des imperialistischen Ersten Weltkriegs damit Tür und Tor geöffnet war.

Heute hält sich in Großbritannien die Begeisterung für die Labour Party in Grenzen. Doch dies hindert viele selbsternannte „sozialistische“ und „revolutionäre“ Gruppen wie die „Socialist Workers Party“ (SWP) (8) oder „Socialist Party(9) nicht daran sich als Stimmungskanonen für die Labour Party aufzuspielen. Um die Koalition von Liberalen und Torries abzulösen rufen sie weiterhin dazu auf die Labour Party als angeblich kleineres Übel zu wählen. Revolutionäre müssen sich jedoch nicht nur kritisch mit den Überbleibseln trotzkistischer oder stalinistischer Provenienz auseinandersetzen, sondern auch den weit verbreiteten politischen Zynismus gegenüber politischen Aktionen bekämpfen. Für einige mag der gegenüber den etablierten Parteien an den Tag gelegte politische Zynismus äußerst komfortabel sein. Doch letztendlich spielt die damit unterschwellig vertretende Meinung dass jegliche politische Aktivität Zeitverschwendung sei nur der herrschenden Klasse in die Hände. Ihr kann es nur Recht sein wenn wir uns ihrer Ausbeutung weiterhin passive fügen. Welche Schlussfolgerungen lassen sich also nun aus dem „Great Unrest“ ziehen: Die Selbstermächtigung der Arbeiterinnen und Arbeiter hatte zunächst ein größeres Vertrauen in ihre Anführer zur Folge. Doch letztendlich merkten sie, dass sie von ihnen hinters Licht geführt wurden. 1911 buhten Arbeiterinnen und Arbeiter Tom Mann (der von Historikern der Kommunistischen Partei regelrecht zum Revolutionsheroen gekürt wurde) aus, als bekannt wurde dass er einem schmutzigen Deal zugestimmt hatte. Die Arbeiterinnen und Arbeiter konnten nicht verstehen, dass Gewerkschaften sie im Stich ließen und verrieten. Heute, ein Jahrhundert später, sind die Akzeptanz und das Vertrauen in die Gewerkschaften merklich zurückgegangen. Zu oft schon haben die Gewerkschaften der Klasse übel mitgespielt. Überall auf der Welt verstehen immer mehr ArbeiterInnen dass sie ihre Kämpfe in die eigenen Hände nehmen müssen, dass sie freie Versammlungen und Streikkomitees brauchen um die Kämpfe eigenständig zu organisieren. Für Revolutionäre kommt es darauf an, in den alltäglichen Kämpfen praktische Erfahrungen zu sammeln, dabei zu sein und schließlich zu versuchen in ihnen Fuß zu fassen. Nur so ist der Aufbau einer in der Arbeiterklasse verankerten revolutionären marxistische Organisation möglich, die in der Lage ist eine internationalistische Strategie zu entwickeln um die ArbeiterInnen im Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung zu vereinigen. In den anstehenden Kämpfen gilt es alles Menschenmögliche zu tun, um die ArbeiterInnenklasse in die Lage zu versetzen die Herrschaft der Bourgeoisie auf allen Ebenen zu brechen.

DT

(1) Independent Labour Party war eine 1893 gegründete eher reformistisch orientierte Organisation.

(2) Die Social Democratic Federation wurde 1881 gegründet. In England war sie die erste Organisation mit sozialistischem Anspruch gegründet. Aufgrund der Politik Hyndmans kam es zu ernsthaften Spaltungen. 1911 ging sie in der British Socialist Party auf.

(3) John MacLean (1979-1923) war ein schottischer Sozialist, Mitglied der BSP und Mitbegründer der Kommunistischen Partei. In seinen späteren Lebensjahren ging er mehr und mehr zum schottischen Nationalismus über.

(4) Henry Mayers Hyndman (1842-1921) kam aus einem reichen und bürgerlichen Elternhaus. Später wurde er von der Person Lassalle beeinflusst und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Social Democratic Federation. Marx und Engels standen ihm kritisch und skeptisch gegenüber. Später ging er zu offen rechten und sozialchauvinistischen Positionen über und war ein Kriegsbefürworter.

(5) Tom Mann (1856-1941) war ein bekannter Agitator und Gewerkschaftsaktivist. Er gilt bis heute in reformistischen Kreisen als Ikone der britischen Gewerkschaftsbewegung.

(6) John MacLean (1979-1923) war ein schottischer Sozialist, Mitglied der BSP und Mitbegründer der Kommunistischen Partei. In seinen späteren Lebensjahren ging er mehr und mehr zum schottischen Nationalismus über.

(7) Die British Socialist Party entstand 1911. Anfangs war sie politisch heterogen zusammengesetzt, entwickelte sich nach links und spielte eine wichtige Rolle bei der Gründung der Kommunistischen Partei.

(8) In der BRD vergleichbar mit der Idiotentruppe „Marx“ 21.

(9) In der BRD die SAV.