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Buchbesprechung: Alexander Rabinowitch: Die Sowjetmacht. Das erste Jahr
Wir haben lange warten müssen bis nun endlich und unverhofft Alexander Rabinowitchs Buch „The Bolsheviks in Power“ auf Deutsch erschienen ist (1). Seine bisherigen Arbeiten waren für uns ein wichtiger Bezugspunkt bei unseren Diskussionen und Untersuchungen über den Verlauf der Russischen Revolution. Rabinowitch nimmt in der historischen Forschungslandschaft eine Sonderrolle ein, wie er auch in seiner Einleitung hervorhebt:
„The Bolsheviks come to Power“ und “Prelude to Revolution“ widersprachen gängigen Vorstellungen von der Oktoberrevolution, sah man doch im Westen die, Oktoberrevolution gemeinhin als eine Art Militärputsch, den eine kleine ergebene Bande revolutionärer Fanatiker unter der genialen Führung Lenins angezettelt hatte. Demgegenüber ergaben meine Nachforschungen, dass die bolschewistische Partei in Petrograd 1917 zu einer Massenpartei herangewachsen war und keineswegs eine monolithische Bewegung darstellte, die sich im Gleichschritt hinter Lenin eingereiht hätte. Ihre Führung bestand vielmehr aus einem linken, einem zentristischen und einem gemäßigten Flügel, die alle dazu beitrugen, eine revolutionäre Strategie und Taktik zu entwickeln. Weiter zeigte sich, dass der Erfolg, der der Partei nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 im Kampf um die Macht beschieden war, folgenden ausschlaggebenden Faktoren zuzuschreiben war: der organisatorischen Flexibilität der Partei, ihrer Offenheit und Aufgeschlossenheit für die Anliegen der Bevölkerung sowie ihren engen und sorgsam gepflegten Verbindungen zu Fabrikarbeitern, Soldaten der Petrograder Garnison und den Matrosen der Baltischen Flotte. Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Oktoberrevolution in Petrograd weniger eine militärische Operation war, sondern eher ein allmählicher Prozess auf dem Boden einer in der Bevölkerung tief verwurzelten politischen Kultur sowie einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der Februarrevolution, kombiniert mit der unwiderstehlichen Anziehungskraft der Versprechen der Bolschewiki – sofortiger Friede, Brot, Land für die Bauern und Basisdemokratie durch die Mehrparteiensowjets (2).
Diese Feststellung führt ihn dann zu der Frage, wie es zu erklären sei, „ dass sich diese Partei so schnell in eine der am stärksten zentralisierten und autoritärsten politischen Organisation der Neuzeit verwandelte?“ Eine Frage, die sich für Revolutionäre ums so dringlicher stellt, auch wenn wir uns klar darüber sind, wie Recht Rosa Luxemburg hatte, als sie erklärte, dass die Frage des Sozialismus in Russland nur gestellt jedoch in Russland alleine nicht beantwortet werden konnte. Mit dem Scheitern der internationalen Revolution zerschlugen sich auch alle Hoffnungen des Oktober 1917.Aber diese Niederlage vollzog sich nicht in der Weise, wie es von den Bolschewiki befürchtet, und von Leo Trotzki auf der zweiten Sitzung des Sowjetkongresses formuliert wurde:
Doch wir setzen alle unsere Hoffnungen darauf, dass unsere Revolution die europäische Revolution entfesselt. Wenn die aufständischen Völker Europas den Imperialismus nicht erwürgen, dann werden wir erwürgt werden (3).
Diese Gefahr wird faktisch immer bestehen, unabhängig davon wann und wo auch immer eine proletarische Revolution ausbrechen wird. Sie wird irgendwo beginnen müssen, aber ohne die Solidarität der internationalen ArbeiterInnenklasse keine Aussicht auf Erfolg haben. Trotzki konnte jedoch damals nicht ahnen, dass die Bolschewiki auf dem russischen Territorium einen militärischen Sieg gegen den Imperialismus erringen, aber auf dieser Grundlage die Basis, auf der sie die Macht errungen hatten, zerstören würden. Rabinotwitchs Buch ist daher besonders nützlich, um einige grundlegende Probleme einer proletarischen Erhebung und der Übergangsphase zu einer gänzlich anderen Produktionsweise, dem Sozialismus, zu beleuchten. Die Bolschewiki konnten zwar im Dezember 1920 den letzten vom Imperialismus unterstützten militärischen Gegner aus der Krim vertreiben, aufgrund des Scheiterns der internationalen Revolution, der vollständigen Isolation und den ökonomischen Verwüstungen in Russland, hatten sie jedoch nicht die geringste Chance den Sozialismus aufzubauen. Gleichwohl leidet Rabinowitchs Arbeit an zwei grundlegenden Schwächen. Er ist in erster Linie ein sehr politischer Historiker, was ihn dazu führt, dem Agieren von Personen zu große Aufmerksamkeit zu widmen, allerdings die konkreten Rahmenbedingungen und Umstände ihres Handelns in den Hintergrund treten und in Teilen seiner Darstellung sogar verschwinden zu lassen. Das ist eine große Schwäche, die ihn in seiner Bewertung zuweilen dazu führt der Russischen Revolution mehr Entwicklungsmöglichkeiten zuzubilligen als tatsächlich gegeben waren. „Menschen machen Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken“ (Karl Marx). Geschichte zu machen, bedeutet auch sie zu schreiben, bzw. zu bewerten. Geschichte ist keine einfache Abfolge von Ereignissen, die nur chronologisch geordnet werden müssten. Jene, die Geschichte schreiben, tun dies in der Regel im Zeitgeist ihrer Epoche. Als MarxistInnen betrachten wir historische Probleme immer aus einer Klassenperspektive, auch wenn es zuweilen viele Faktoren gibt, die diese verdunkeln. Bürgerliche Historiker hingegen geben immer vor, nicht von einem Klassenstandpunkt sondern mit größter Objektivität vorzugehen. Rabinowitch trägt dem Rechnung und unterstreicht den Trend der bürgerlichen Geschichtsschreibung die historische Fakten zu verzerren. Er legt dar, wie die historische Schule der „Revisionisten“ zu der er gehört, in den 70er Jahren die Deutung der Oktoberrevolution durch die „Kalten Krieger“ der stalinistischen UdSSR wie auch der USA entzauberte. In gewisser Weise ergänzten sich diese beiden Seiten sogar. Während die Kalten Krieger in den USA darauf bestanden, dass die Oktoberrevolution lediglich ein Putsch gewesen sei, der den Weg in die Diktatur eröffnet habe, führten die Stalinisten sie auf einen genialen Plan Lenins zurück, der von einer hoch disziplinierten Partei (deren wirklicher Erbe Stalin war) durchgeführt worden sei. Derartige Verzerrungen hatten ein enormes ideologisches Gewicht, und haben es in gewisser Weise noch heute. In den 70er Jahren kamen die sog. „Revisionisten“ durch intensive Studien zu der Schlussfolgerung, dass die Russische Revolution Ausdruck einer Massenerhebung war, an der sich Tausende wenn nicht sogar Millionen Unterdrückte beteiligten, und sich letztendlich der Bolschewistischen Partei zuwandten. Die Bolschewistische Partei hatte in Wirklichkeit wenig mit der stalinistischen Darstellung einer monolithischen Organisation zu tun. Sie war ein Schmelztiegel verschiedener Ideen, die sich letztendlich um die Frage kreisten, wie die ArbeiterInnenklasse zu einer politischen Einheit werden und den Sozialismus erkämpfen könnte. Es ist nicht überraschend, dass die revisionistischen Forschungen nach dem Mai 1968 einsetzte als der Nachkriegsboom an sein Ende kam, und sich in vielen Ländern Streikkämpfe und Bewegungen entwickelten, die gleichermaßen den US-amerikanischen wie den stalinistischen Imperialismus herausforderten. Heute hat sich allerdings der Zeitgeist wieder geändert. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wurde die alte Behauptung, dass es sich bei der Russischen Revolution lediglich um einen Staatsstreich gehandelt habe, wieder verstärkt in Umlauf gesetzt. Ebenso verhielt es sich mit der alten Lüge, dass der Stalinismus nur die logische Konsequenz des Leninismus gewesen sei. Auch Rabinowitch ist nicht vollständig gegen diesen Zeitgeist gefeit. Dies wird u.a. an seiner teleologischen Annahme deutlich, dass sich die Russische Revolution zu einer Demokratie nach westlichem Muster hätte entwickeln können, wenn es einer der oppositionellen Fraktionen in der Bolschewistischen Partei gelungen wäre, Lenin auszuspielen. Dies bedeutet letztendlich die Geschichte auf den Kopf zu stellen. Die Tatsache, dass sich Lenins Positionen oft durchsetzten, war weniger dem Umstand geschuldet, dass er geschickter manövrierte, sondern dass den Sichtweisen und Handlungsoptionen seiner Gegenspieler angesichts der konkreten Umstände der Jahre 1917 oftmals der Boden entzogen wurde.
Der Kampf um die Sowjetmacht
Besonders wird dies im ersten Kapitel des Buches mit dem Titel „Die Niederlage der Gemäßigten“ deutlich. Rabinowitch zeichnet hier die Positionen der „gemäßigten“ Bolschewiki wie (Kamenew, Rjasanow, Nogin etc.) nach, die nach dem Oktober 1917 eine Verständigung mit den Menschewiki und Rechten Sozialrevolutionären (Rechte SR) anstrebten, also jenen Kräften, die die Sowjets dominiert hatten, bis die Wahlen vom September den Bolschewiki und ihren Verbündeten eine Mehrheit brachten. Schon die Wortwahl „Gemäßigte“ spiegelt eine etwas verzerrte Sichtweise des Autors wieder. „Versöhnler“ oder „Klassenkollaborateure“ wäre eine weitaus treffendere Bezeichnung für diese Gruppierungen. Das Problem mit den sog. „Gemäßigten“ bestand darin, dass sowohl die Menschewiki wie die Rechten SR mehr als einmal deutlich gemacht hatten, dass sie die Sowjets so schnell wie möglich zugunsten eines parlamentarischen Systems loswerden wollten. Dies war auch einer der Gründe, warum sie innerhalb der ArbeiterInnenklasse an Unterstützung verloren und schließlich aus den Exekutivorganen der Sowjets abgewählt wurden. In den Verhandlungen mit Kamenew traten sie in den Bolschewiki gegenüber äußerst arrogant auf und machten mehr als einmal deutlich, auf welcher Seite der Barrikade sie standen. Sie stellten nicht nur unannehmbare Bedingungen (keine Regierungsämter für Lenin und Trotzki, keine Garantie für die Sowjetmacht usw.) sondern arbeiteten aktiv mit bürgerlichen Kräften und ehemaligen zaristischen Beamten im sog. „Allrussischen Komitee zur Rettung des Vaterlandes“ zusammen. Dieses Bündnis organisierte nicht nur Streiks von Beamten und Bankangestellten gegen die Sowjetregierung sondern plante auch einen Militärstreich. Rabinowitch verschweigt dies keineswegs, suggeriert dann allerdings, dass Kamenew durch Lenin und Trotzki kaltgestellt wurde. Kamenews Verhandlungsbemühungen waren jedoch vorrangig daran gescheitert, dass sich seine Verhandlungspartner alles andere als „moderat“ oder „gemäßigt“ zeigten. Es waren in erster Linie die konkreten Lebensbedingungen der russischen ArbeiterInnenklasse, die zu einem bolschewistisch dominierten Sowjetregime führten. Rabinowitch hingegen behauptet, dass die Mehrheit der ArbeiterInnenklasse eine Koalition aller Sowjetparteien bevorzugte. Hierbei berücksichtigt er allerdings zu wenig, dass es in der ArbeiterInnenklasse ein breite Ablehnung der „oborontsy“, („Vaterlandsverteidiger“) gab, wie die Menschewiki und Rechten SR allgemein genannt wurden. Der Umstand, dass es zu keiner Mehrparteienregierung kam, war in erster Linie der Weigerung der rechten „Sozialisten“ geschuldet, die Sowjets vollständig anzuerkennen. Rabinowitch ist ein sehr gewissenhafter Historiker und scheut nicht davor zurück diesbezüglich Nachweise zu liefern. So verweist er u.a. auf eine „unversöhnlich gehaltene Resolution“, die das menschewistische Zentralkomitee am 28. Oktober (10. November nach dem neuen Kalender) verabschiedete:
Die Resolution untersagte jegliche Verhandlungen mit den Bolschewiki vor der endgültigen Niederschlagung ihres „Abenteuers“. Darüber hinaus forderte sie das Rettungskomitee auf, mit der Provisorischen Regierung, dem Vorparlament und den Arbeiterorganisationen Gespräche über eine neue Regierung aufzunehmen. Die Zentristen und rechten Menschewiki waren so überzeugt davon, dass die Entwicklung ihnen in die Hände arbeitete, dass sie in ihrer Resolution das Rettungskomitee auforderte, dem MRK (Militärisches Revolutionskomitee – eine von den Bolschewiki dominierte Struktur) die sofortige Kapitulation anzutragen. Im Gegensatz sollte die persönliche Unversehrtheit seiner Führer garantiert und die Entscheidung darüber, ob sie vor Gericht gestellt werden sollten, der Konstituierenden Versammlung überlassen werden (4).
Diese Resolution kam wohlgemerkt von Leuten, die während der Junitage 1917 die Unterdrückung der Presse der Bolschewiki und die Ermordung bolschewistischer ArbeiterInnen organisiert hatten. Die Menschewiki und Rechten SR waren geradezu versessen darauf die Bolschewiki zu vernichten. Ihre Teilnahme an den Verhandlungen diente in erster Linie dem Ziel, Keile in die bolschewistische Partei zu treiben und ihre Einheit zu unterminieren. Rabinowitch liefert hierfür viele Nachweise, ohne allerdings die nahe liegende Schlussfolgerung zu ziehen, dass es nicht den geringsten Grund gab, mit diesen Kräften irgendwelche Kompromisse einzugehen. In Deutschland hatte sich die Mehrheitssozialdemokratie mit den kaiserlichen Generälen darauf verständigt die herrschende Ordnung zu verteidigen und die Spartakisten zu zerschlagen. Die Spartakisten hatten einen verfrühten Aufstandsversuch unternommen um die im November 1918 entstandenen Räte vor der Liquidation durch die Sozialdemokratie zu verteidigen. Die deutschen ArbeiterInnen waren noch nicht vorbereitet und bereit die Spartakisten in dem Maße zu unterstützen, wie es die russischen ArbeiterInnen im Falle der Bolschewiki getan hatten und der Aufstand wurde von den militärischen Verbänden der Freikorps die unter dem gemeinsamen Kommando von Sozialdemokratie und Heer standen zerschlagen. Die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts sowie hunderter ihrer Genossen war exakt das Schicksal, was die Menschewiki und rechten SR für die Bolschewiki vorgesehen hatten.
Die Konstituierende Versammlung
Menschewiki und die Rechten SR waren nur dem Namen nach „sozialistisch“ und keine wirklichen Verhandlungspartner. Nachdem sie gescheitert waren eine „Koalition der Sowjetparteien“ zu schmieden, gerieten die „moderaten“ Bolschewiki gegenüber Lenin ins Hintertreffen. Allerdings hatten sie aber noch einigen Einfluss, was auch an den parteiinternen Debatten der Bolschewiki über die Novemberwahlen zur Konstituierenden Versammlung deutlich wird. Lenin argumentierte für eine Verschiebung. Die „moderaten“ Bolschewiki und der Parteiorganisator Swerdlow hielten dagegen, dass die Boschewiki früher Wahlen versprochen hatten, und eine Verschiebung als Verrat und Vertrauensbruch aufgefasst würde. Die Wahlen fanden schließlich wie geplant statt. Das Problem bestand darin, dass sie so kurz nach dem Oktoberumsturz stattfanden und in vielen Landesteilen Russlands die ganze Tragweite der neuen Situation noch nicht ersichtlich war. Somit hatten sie bezüglich der Revolution wenig Aussagekraft. Weitaus bedeutender war der Umstand, dass sich die Sozialrevolutionäre kurz vor diesen Wahlen gespalten hatten. Die linken Sozialrevolutionäre (Linke SR) hatten die Sowjetmacht und die Oktoberrevolution unterstützt. Die Linken SR vereinigte die Mehrheit der bäuerlichen Stimmen auf sich. Gleichwohl wurde ihnen vom rechten Flügel der die Kontrolle über den Parteiapparat hatte, nur 1 von 6 Sitzen zugesprochen. Dies war einer von zwei Gründen, die die Linken SR in einer (von Isaak Steinberg verlesenen) Erklärung während der Konstituierenden Versammlung aufführten, um ihren gemeinsamen Auszug mit den Bolschewiki zu begründen. Der zweite Grund war die Weigerung der Menschewiki und Rechten SR, die Sowjetmacht zu unterstützen.
Wir gehen, damit wir unsere ganze Kraft in diesem entscheidenden Moment der großen russischen Revolution auf die Arbeit in den Sowjetinstitutionen verwenden können … für die Sache der arbeitenden Klassen … und für ihren Sieg...
erklärte der Linke Sozialrevolutionär Karelin zum Auszug seiner Fraktion (5). Bezüglich der internen Debatten der Bolschewiki über die Frage der Konstituierenden Versammlung liefert Rabinowitch keine neuen Erkenntnisse, da das Quellenmaterial nach wie vor rar ist. Er bezieht sich lediglich auf Raskolinikovs (6) Erinnerungen nach der Lenin dem Rat der Volkskommissare (Sownarkom) vorgeschlagen haben soll die Konstituante nicht mit Gewalt aufzulösen. Man wollte sie so lange tagen lassen wie gewünscht und schließlich nach Hause gehen lassen. Am Ende des Kapitels, zwingt seine Ehrlichkeit als Historiker Rabinowitch trotz aller Ausschweifungen über die Möglichkeit einer Demokratie nach westlichem Vorbild in Russland zu der Feststellung, dass das „russische Volk (…) dem Schicksal der Konstituierenden Versammlung zutiefst gleichgültig gegenüber“ stand.
Die Agonie von Brest-Litowsk und die Folgen
Die Debatten des revolutionären Lagers über die Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest Litowsk werden von Rabinowitch besser nachgezeichnet. Seine Darstellung spiegelt die materiellen Umstände (besonders der weit verbreiteten Kriegsmüdigkeit der russischen Arbeiter und Soldaten) plastisch wieder. Aber auch hier suggeriert er, dass Lenin in der Frage der Möglichkeit einer internationalen Revolution angeblich eine Wende um 180 Grad vollzogen habe. Lenin richtete seine revolutionäre Strategie (das Erreichen der Weltrevolution) jedoch immer nach den konkreten Begebenheiten aus. Er lag mit seinen Annahmen nicht immer richtig, aber seine Methode war in sich konsistent. Die Machteroberung der Bolschewiki war ein Resultat der Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung. Die erste Amtshandlung des Allrussischen Sowjetkongresses bestand in der Verabschiedung von Lenins „Dekret über den Frieden“ vom 8. November 1917. Lenin war davon ausgegangen, dass die Kriegsmüdigkeit in den europäischen Ländern zu einer raschen Ausweitung der Revolution führen würde. Nach zwei Monaten stellte sich heraus, dass diese Bedingungen noch nicht gegeben waren. Lenin zog daraus die Schlussfolgerung, dass die Revolution auf Zeit spielen müsse. Seine Methode bestand immer darin die unmittelbare Politik an den konkreten Begebenheiten auszurichten. Rabinowitch führt aus, wie die Verhandlungen von Brest Litowsk von Trotzki in die Länge gezogen wurden, bis die Deutschen schließlich genug hatten und der russischen Delegation ein Ultimatum stellten. Lenin hatte in der Zwischenzeit bei Kirilenko und anderen Befehlshabern Erkundigungen über den Zustand und die Moral der Truppen eingeholt, und war zu dem Schluss gekommen, dass ein militärischer Widerstand aussichtslos war. Er kam in den Diskussionen der Sowjetorgane immer wieder auf diese Faktenlage zurück, konnte sich aber von Januar bis Februar 1918 mit seiner Forderung nach einem sofortigen Frieden nicht durchsetzen. Deshalb einigte er sich mit Trotzki, dessen Vorschlag „Weder Krieg noch Frieden“ zu unterstützen. Dies war ein Kompromiss, der die Revolutionäre sowohl in der Bolschewistischen Partei als der Linken SR wieder zusammenschweißte. Bei all seiner Antipathie gegen Lenin gelingt es Rabinowitch in diesem Teil seiner Darstellung vortrefflich die äußert komplexe Lage der Revolution zu beschreiben. Er arbeite auch heraus, wie überstürzt Trotzki handelte als er die Deutschen mit seiner Losung „Weder Krieg noch Frieden“ konfrontierte. Die Verblüffung der deutschen Delegation bereitete Trotzki großes Vergnügen. Ohne eine Antwort abzuwarten, telegrafierte er an Kirilenko die Demobilisierung der Armee einzuleiten. Dies war ein Akt des revolutionären Romantizismus. Am darauf folgenden Tag schickte Lenin ein Gegentelegramm an Kirilenko, um ihn aufzufordern die Demobilisierungsorder zurückzuziehen. Aber es war bereits zu spät. Viele Soldaten befanden sich bereits auf dem Weg in ihre Dörfer. Alle Hoffnungen den vorrückenden deutschen Truppen selbst schwachen Widerstand entgegenzusetzen hatten sich zerschlagen. Bei seinem Vorrücken konnte der deutsche General Hoffmann ganze Garnisonen einnehmen ohne in nennenswerter Seite auf russische Soldaten zu treffen. Der Friedensvertrag, der dann unterschrieben werden musste, enthielt weitaus härtere Bedingungen als der, den die Deutschen ursprünglich vorgeschlagen hatten. Lenin blieb davon weitestgehend ungerührt. Er hielt es nicht einmal für nötig den durch Gewalt aufgezwungenen Vertrag ausgiebig zu lesen oder sich mit Experten darüber zu beraten, da er davon ausging, dass die Weltrevolution ihn innerhalb von sechs Monaten obsolet machen würde. Tatsächlich brach genau sechs Monate später die deutsche Revolution aus. Gleichwohl stellte die Debatte um Brest Litowsk eine schwere Belastungsprobe für die Bolschewistische Partei dar. Lenin sah sich in der Partei heftigen politischen Angriffen ausgesetzt. Viele „Linke KommunistInnen“ traten aus Protest über den Vertragsabschluß von ihren Funktionen zurück, einige von ihnen sogar aus der Partei aus. Die meisten von ihnen mussten sich jedoch später eingestehen, dass es im März 1918 kaum andere Möglichkeiten gegeben hatte. Sie kehrten schließlich wieder in die Partei zurück, um weiter für die Revolution zu arbeiten. Die Führer der Linken Sozialrevolutionäre hingegen entwickelten eine große Feindschaft gegenüber den Bolschewiki, auch wenn viele von ihnen ihre Ämter und Funktionen in den Sowjetinstitutionen behielten. Es trat nun ein, was Rabinowitch als den „Selbstmord der Linken Sozialrevolutionäre“ bezeichnet. Die Linken SR blieben zwar Internationalisten, fielen aber nun in die Praxis ihrer populistischen Vergangenheit zurück, den individuellen Terror. Die Linken SR hofften den Friedensvertrag von Brest Litwoks auf dem Fünften Sowjetkongress im Juli 1918 rückgängig zu machen, aber nach Rabinowitch (seine Beweisführung ist sehr indizienhaft) sicherten sich die Bolschewiki durch eine Reihe von Verfahrenstricks eine Mehrheit. Als ihre Versuche gescheitert waren den Delegiertenschlüssel zu ändern, beschloss die Führung der Linken SR ein Zeichen zu setzen. Ohne jede Diskussion und Rückkopplung mit der Parteibasis verständigte sie sich darauf den deutschen Botschafter Graf Mirbach zu ermorden. Mirbach wurde schließlich von zwei Linken SR (die der Tscheka angehörten) erschossen, was von den Bolschewiki als Versuch eines Staatsstreiches interpretiert wurde. Die Bolschewiki gingen nun mit äußerster Härte gegen die Partei der Linken SR vor, die sowohl von der Repression als auch von der Verzweiflungstat ihrer Führung vollkommen überrascht wurde. Für Rabinowitch hatte insbesondere diese überstürzte Aktion der Linken SR zur Folge, dass die Revolution einen weiteren Schritt in Richtung eines Einparteienstaates vollzog. Er legt sehr überzeugend dar, dass dies weniger einem vorgefertigten Plan der Bolschewiki entsprang, sondern eher der Verzweiflung anderer politischer Kräfte der Sowjetmacht geschuldet war. Ein weiteres Problem bestand nach Rabinowitch in Lenins mangelnder Kompromissbereitschaft und seiner Indifferenz gegenüber der Sowjetdemokratie. Dieses Argument ist jedoch nur schlüssig, wenn man die äußerst komplizierten Rahmenbedingungen von wirtschaftlichem Zerfall, beginnendem Bürgerkrieg und fortgesetztem militärischen Ausnahmezustand vollkommen außer Acht lässt. Rabinowitch tendiert dazu gerade diese Faktoren herunterzuspielen oder als Folge der Bolschewistischen Politik dazustellen. Dies sollte man vor Augen haben, wenn man sein Buch liest, und lesen sollte man es unbedingt. Es ist nicht nur eine fesselnde Darstellung einer sich abzeichnenden Tragödie (auch wenn seine Definition des Tragischen sich von unserer unterscheidet) sondern liefert auch wichtige Denkanstöße bezüglich der Probleme einer Übergangsgesellschaft zum Kommunismus. Auf eines dieser Probleme sind wir bereits bei anderen Gelegenheiten näher eingegangen: Die Regierungsgewalt hätte bei dem von den Sowjetkongressen gewählten Zentralen Exekutivkomitee (ZEK) liegen müssen. Stattdessen lag sie jedoch faktisch beim „Rat der Volkskommissare“ (Sownarkom). Dieser war zwar nominell dem ZEK rechenschaftspflichtig, aber die diversen Krisen des Jahres 1918 führten faktisch dazu, dass er zum staatlichen Exekutivorgan wurde. Dies hatte zur Folge, dass sich statt eines Halbstaates auf der Basis der Rätemacht ein zentralisiertes und autoritäres Organ herausbildete. Wir stimmen nicht mit Rabinowitchs Argument überein, dass die Revolution schon nach dem ersten Jahr der Sowjetmacht verloren war. Wir meinen, dass der revolutionäre Prozess bei allen Problemen und Rückschlägen bis in die 20er Jahren lebendig war, aber die Fehler des Bürgerkrieges und danach schließlich zur Herausbildung eines totalitären Staates führten. Eine internationale Revolution hätte das revolutionäre Experiment in Russland unter Umständen noch retten können. Das definitive Ende der Revolution setzte jedoch später in den 20er Jahren ein, als Stalin daran ging nicht nur die verbliebenen Errungenschaften der Revolution sondern auch die Revolutionäre selber zu vernichten.
Alexander Rabinowitch: Die Sowjetmacht. Das Erste Jahr - Mehring Verlag 2010
(1) „The Bolscheviks Come to Power“ erschien erstmals 1976.
(2) Rabinowitch: Die Sowjetmacht. Das Erste Jahr, Seite 2.
(3) Zit.nach Rabinowitch, Seite 23.
(4) Ebenda Seite 36.
(5) Zit. nach Rabinowitch, Seite 169.
(6) Raskolinikov (Feodor F. Ilyin) war seit seiner Jugend Bolschewik und Mitglied des Sownarkom. 1917 war er der führende Repräsentant der Bolschewiki in Kronstadt. Er hat seine politischen Erinnerungen in zwei Büchern niedergeschrieben die auch auf Englisch erhältlich sind („Petrograd and Kronstadt in 1917“ und „Tales of Sub-Lieutenant Ilyin“). Rabinowitch greift auf diese Erinnerungen zurück.
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