Stuttgart 21: Endstation Schlichtungsgespräche?

Zweifellos beschränken sich die Kämpfe gegen das Milliardengrab Stuttgart 21 nicht darauf, ob jetzt der mittlerweile weltberühmte Stuttgarter Sackbahnhof mitsamt Infrastruktur in einen Durchgangsbahnhof umgebaut wird oder nicht. Der Hauptgrund für die Renitenz der SchwäbInnen ist, dass all diejenigen, die behauptet hatten, dass es kein Geld mehr für Bildung, Kultur und vieles andere gäbe, nun ein Projekt verwirklichen wollen, das mindestens 17 Milliarden verschlingen wird und dessen Notwendigkeit nicht nachvollziehbar und das sogar sicherheitstechnisch mehr als fragwürdig ist. Die ganze Geschichte spielt noch vor dem Hintergrund einer unsäglichen „parlamentarischen Maultaschen-Connection“, die mit unglaublicher Arroganz auftritt und sich zuerst jegliche Einmischung in die ureigensten Angelegenheiten eines „einmal gewählten Parlaments“ verbeten hatte. Man kann auch davon ausgehen, dass außer den Interessen der Deutschen Bahn-AG und vieler mächtiger Bauunternehmen auch noch ganz spezielle Interessen von ortsansässigen Politikern an größeren geplanten Immobilienvorhaben auf dem Boden der Baustelle eine Rolle spielen.

Mittlerweile geht es aber beim vehementen Vorgehen gegen die S21-GegnerInnen nicht mehr nur um die Durchsetzung des Bauprojekts an sich, sondern um die „Sicherung der staatlichen Ordnung.“ Wo käme man wohl hin, wenn sich die AktivistInnen gegen Stuttgart 21 ernsthaft mit den AtomkraftgegnerInnen und/oder anderen Kämpfen verbinden würden?

Seit Monaten demonstrieren jede Woche Zehntausende gegen das Vorhaben und nach dem brutalen Polizeiangriff gegen eine SchülerInnendemo am 30.9. gingen mehrfach über 100.000 Menschen auf die Straße. Mehrere Wochen lang wurde montags und samstags demonstriert, zwischendurch treffen sich Leute zu zahlreichen kleineren Aktionen und Diskussionen, AktivistInnen campen seit Wochen im Park, andere wachen in Baumhäusern oder versorgen Obdachlose mit Essen, die von der unerwarteten Gesellschaft etwas überrascht wurden.

Die Machtdemonstration der Polizei führte dazu, dass ein Teil der SchülerInnen und der anderen DemonstrantInnen schnell erkannt hat, wie es um das „Demokratieverständnis“ der herrschenden Klasse bestellt ist. Die SchülerInnen waren erstmals gemeinsam gegen das Projekt auf die Straße gegangen, die Polizei ging gezielt und brutal gegen die DemonstrantInnen vor. Pfefferspray und Wasserwerfer wurden eingesetzt, es gab viele Verletzte und mindestens ein Demonstrant ist im Moment auf einem Auge erblindet. Im Anschluss an die Schülerdemo hatte die Polizei einen Teil des Parks mit Hamburger Gittern gesichert und marschierte dahinter auf. In der Nacht zum 1. Oktober sollten nämlich Fakten geschaffen und symbolisch schon mal ein Teil der Bäume abgeholzt werden, die dem Bauprojekt später im Weg stehen würden. (Der erste Oktober ist in BW der Stichtag für solche Baumfällaktionen.) Die Bäume fielen unter dem Einsatz mehrerer Hundertschaften der Polizei und unter den Augen der ohnmächtigen AktivistInnen. Die Wut der S21-GegnerInnen hatte in diesen Tagen nach dem Polizeieinsatz ein vorher unvorstellbares Ausmaß erreicht. Welche Rolle die Medien spielen und wie diese tagtäglich die Ereignisse verzerren und falsch darstellen, wurde in diesem Zusammenhang besonders deutlich.

Nach den Rekordteilnahmen an den Demos in der Zeit nach dem „schwarzen Donnerstag“ (in BW war seit den 60-er-Jahren kein Wasserwerfer mehr eingesetzt worden) schlugen die Grünen Schlichtungsgespräche vor, der Vorschlag wurde von der regierenden CDU natürlich dankend angenommen. Der zuerst von Cem Özdemir als Schlichter vorgeschlagene Heiner Geißler wurde gleich verpflichtet und verschafft der Regierung derzeit eine kleine Ruhepause, auch wenn diese in dieser Zeit teils starrköpfige AktivistInnen im Rathaus bewirten und an Schlichtungstagen gleich zwei Sendeplätze (SWR 3 und Phoenix) ganztags für die Übertragung frei machen muss. Gleichzeitig ist natürlich die Bewegung geschwächt und in der Frage der „Schlichtung“ gespalten. Die so genannten Parkschützer z.B. nehmen nicht an den Gesprächen teil. Andere kleine Gruppierungen kritisieren ebenfalls die Gespräche und die Eintracht der „Schlichtungsgespräche“ wird gelegentlich durch symbolische Aktionen gestört.

Die CDU, die derzeit keine Chance mehr auf eine absolute Mehrheit hat, bastelt hier also mit den Grünen an einer möglichen schwarz-grünen Koalition. Die Grünen stellen sozusagen in den Schlichtungsgesprächen ihre ernsthafte „Regierungsfähigkeit“ auf die Probe – halten sie die Bewegung in Schach, dürfen sie mitmachen, andernfalls gibt’s eben zur Strafe schwarz-rot in Baden-Württemberg. Wie und mit welchem Ziel die Grünen auf allen möglichen Protestwellen schwimmen, haben wir ja u. a. zu genüge beobachten können.

Der Ausgang der „Schlichtungsgespräche“ ist derweil offen: Es werden vermutlich ein paar Zugeständnisse gemacht und Versprechen für eine „neue Form der Demokratie“ beim nächsten Projekt gegeben werden. Wie die AktivistInnen darauf reagieren und wie sich die Bewegung entwickeln wird, hängt dann von vielen Faktoren ab: Wird sich eine Verbindung zu den Kämpfen gegen das Sparpaket entwickeln? Im Moment gibt es diesbezüglich wenig Anzeichen. Solange es aber keine Verbindung mit dem Kampf gegen die Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse gibt, sind die derzeitigen Proteste dazu verdammt entweder abzuebben oder als schwäbische Einpunktbewegung mehr schlecht als recht dahinzuvegetieren. Dass gerade die SchülerInnendemo so massiv angegangen wurde, ist bei weitem kein Zufall – die SchülerInnen hatten natürlich gleich bei ihrer ersten und bisher einzigen Demo die Frage nach dem Zusammenhang mit den sozialen Kürzungen gestellt und ein Teil der Bewegung wird dies nach Ende der Gespräche mit Sicherheit wieder tun.

Da die Bewegung in einer Zeit massiver zeitgleicher Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse in vielen Ländern entstanden ist, bleibt eine gewisse Chance, dass ein noch größerer Teil der AktivistInnen als bisher darauf kommt, dass es außer der Kehrwoche in der schwäbischen Region noch eine Menge zu kehren gilt, dass weitere Kontakte zu andern Kämpfen aufgebaut werden und sie sich in Zukunft weiteren Befriedungs- und Kontrollbestrebungen wie der aktuellen „Schlichtung“ widersetzen werden.