Warschau 1944: Eine Lehre der Geschichte

„Diejenigen, die den ersten Befehl zum Kampf gaben

lasst sie nun unsere Leichen zählen.

Sollen sie durch die Straßen gehen

die nicht da sind

durch die Stadt

die nicht da ist

lasst sie wochenlang zählen, monatelang

sollen sie unsere Leichen zählen

bis zum Tod.“(1)

Der Krieg in der Ukraine hat eine neue Phase der weltweiten Kriegstreiberei eingeleitet, in der das anhaltende Gemetzel in Gaza eine weitere Eskalation darstellt.(2) In Zeiten wie diesen ist es hilfreich einen Blick in die Vergangenheit zu werfen um zu sehen wie sie unsere heutigen Perspektiven beeinflussen kann. Wir haben bereits über den Aufstand im Warschauer Ghetto im Jahr 1943(3) und die Aktivitäten der polnischen SozialistInnen geschrieben, die erfolglos versuchten unter der Besatzung einen unabhängigen politischen Weg einzuschlagen.(4) Am 1. August jährt sich ein weiterer historischer Wendepunkt – der 80. Jahrestag des Warschauer Aufstands von 1944. Diese tragische Episode, die heute ein Schlüsselelement der polnischen nationalistischen Mythologie darstellt(5), erlaubt uns einen genaueren Blick auf den fundamentalen Unterschied zwischen nationalen Aufständen und revolutionärem Klassenkampf zu werfen.

Besetzung von Warschau

Am 1. September 1939 wurde Polen von Westen her von Nazi-Deutschland überfallen, was den Beginn des Zweiten Weltkriegs einläutete. Am 17. September marschierte die UdSSR von Osten her in Polen ein und teilte das Land wie es im Geheimprotokoll des Molotow-Ribbentrop-Pakts vorgesehen war in zwei Hälften.(6) Polen sollte für die Dauer des Krieges unter Besatzung bleiben, auch wenn sich die Demarkationslinien immer wieder verschoben (insbesondere nach dem Angriff Nazi-Deutschlands auf die UdSSR am 22. Juni 1941).

Als sich die deutsche Armee Warschau näherte, wurde die Bevölkerung der Stadt zur Verteidigung mobilisiert, während sich die polnischen Staatsbeamten auf die Evakuierung vorbereiteten. Während der am 8. September 1939 begonnenen Belagerung Warschaus starben mindestens 2.000 Soldaten und 10.000 ZivilistInnen. 10 % der Gebäude der Stadt wurden zerstört. Am 27. September wurde ein Waffenstillstand vereinbart und Warschau kapitulierte kurz darauf. Nachdem sie über Rumänien geflohen war, konstituierte sich in Frankreich eine polnische Exilregierung (die nach dem Fall Frankreichs nach London verlegt wurde). In der Zwischenzeit versuchte das NS-Regime den Pabst-Plan und den Generalplan Ost in die Tat umzusetzen. Warschau sollte in eine "neue deutsche Stadt" verwandelt werden: Unterdrückung jeglichen Widerstands, massive Reduzierung der polnischen Bevölkerung, Germanisierung der restlichen Stadt und Einrichtung eines jüdischen Ghettos (das im November 1940 eröffnet wurde). Als sich die Lage an der Front verschlechterte, wurde der Einsatz von Zwangsarbeitern und Konzentrationslagern immer weiter ausgedehnt. Ab 1942 entstanden die ersten Vernichtungslager.

Trotz alledem ging das politische Leben in Polen unter klandestinen Bedingungen weiter. Die Reste der polnischen herrschenden Klasse schlossen sich in einem polnischen Untergrundstaat zusammen, der der polnischen Exilregierung unterstellt war. In ihm wetteiferten Agrarpopulisten, Nationalisten, Christdemokraten und die Sozialpatrioten der Polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socjalistyczna, PPS) um politischen Einfluss. Der polnische Untergrundstaat schuf seinen eigenen bewaffneten Flügel, die Union des bewaffneten Kampfes, die 1942 in die Heimatarmee umgewandelt wurde. Sie war gewissermaßen eine antinazistische Dachorganisation, die allen offenstand, die "dem Vaterland die Treue schworen". Die andere wichtige politisch-militärische Kraft war die Moskau unterstellte Polnische Arbeiterpartei (Polska Partia Robotnicza, PPR), die über ihre eigene Volksarmee verfügte und im Juli 1944 in der Provinz Lublin das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung ausrief, eine provisorische Regierung in Opposition zur polnischen Exilregierung. Mit der Zeit schlossen sich die meisten politischen Gruppen im besetzten Polen entweder der Führung in London oder in Moskau an.

Operation Sturm

Ende 1943 wurde angesichts der Niederlage an der Ostfront klar, dass Nazi-Deutschland den Krieg verlieren würde. Die polnische Exilregierung hoffte nun die Kontrolle über das Land zurückzuerlangen bevor die vorrückende Rote Armee eintreffen würde, von der sie erwartete, dass sie Polen in einen Vasallenstaat Moskaus verwandeln würde. Unter dem Codenamen "Operation Sturm" plante die Heimatarmee eine Reihe von Volksaufständen in den polnischen Gebieten, die im Januar 1944 beginnen sollten. Aus strategischen Gründen wurde Warschau zunächst davon ausgenommen. Da die Aktionen an den östlichen Vorkriegsgrenzen Polens jedoch ihre Ziele nicht erreichten, wurde eine bewaffnete Erhebung in Warschau zur letzten Chance für die Heimatarmee, das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu verschieben.

Die Frage eines Aufstandes in Warschau blieb selbst in polnischen Militär- und Politikerkreisen umstritten. General Bór-Komorowski, der Befehlshaber der Heimatarmee, der die Idee unterstützte und mit ihrer Vorbereitung beauftragt war, sah sie als militärisch gegen die Deutschen, aber politisch gegen die Sowjets gerichtet an. General Anders hingegen, der die polnischen Streitkräfte im Osten führte, hielt die Entscheidung, den Aufstand zu starten, für einen kriminellen Akt, da ihm klar war, dass die Rote Armee ihm niemals zu Hilfe kommen würde. In jedem Fall traf sich die Führung der Heimatarmee nach dem Bekanntwerden falscher Gerüchte über den Vormarsch der Roten Armee auf Warschau zu einer geheimen Sitzung und beschloss, die Aktion am 1. August 1944 um 17.00 Uhr zu starten. Obwohl die Warschauer Bevölkerung mit einem Aufstand rechnete, waren viele Widerstandskämpfer kaum vorbereitet, schlecht bewaffnet und konnten erst mit Verspätung zu ihren Einheiten gelangen.

In einer Stadt mit 1 Million Einwohnern hatte Bór-Komorowski bis zu 50.000 Widerstandskämpfer unter seinem Kommando. Nach dem Plan der Führung der Heimatarmee sollte der Kampf nur wenige Tage dauern - stattdessen dauerte er 63 Tage. Abgesehen von einigen Nachschublieferungen kam keine Hilfe von der Roten Armee oder den Alliierten im Allgemeinen. Der russische Imperialismus erkannte, dass der Aufstand gegen seine Interessen in der Region gerichtet war, aber er kam auch dem amerikanischen und britischen Imperialismus ungelegen, die nach der Konferenz von Teheran ihre Beziehungen zu Stalin nicht verschlechtern wollten. Auf der anderen Seite drückte Himmler in einem Gespräch mit Hitler seine Freude aus:

Mein Führer, der Zeitpunkt ist unsympathisch. Geschichtlich gesehen ist es ein Segen, dass die Polen das machen. Über die fünf, sechs Wochen kommen wir hinweg. Dann aber ist Warschau/Warszawa, die Hauptstadt, der Kopf, die Intelligenz dieses 16- bis 17-Millionenvolkes der Polen ausgelöscht, dieses Volkes, das uns seit 700 Jahren den Osten blockiert und uns seit der ersten Schlacht bei Tannenberg immer wieder im Wege liegt. Dann wird das polnische Problem geschichtlich für unsere Kinder und für alle, die nach uns kommen, ja schon für uns kein großes Problem mehr sein.(7)

Die deutsche Vergeltung war hart - Massaker im Arbeiterviertel Wola und im Vorort Ochota, Massendeportationen, Bombardierung und Niederbrennen ganzer Stadtteile. Am Ende war Warschau zu 80-90 % zerstört, 200.000 ZivilistInnen wurden getötet und 650.000 in Durchgangslager deportiert. Der Aufstand erfüllte nicht die Ziele der Heimatarmee. Am 17. Januar 1945 zog die Rote Armee schließlich in die Ruinen Warschaus ein und stieß dabei nur auf schwachen Widerstand der sich nun zurückziehenden deutschen Streitkräfte. Mit Hilfe der Roten Armee und des NKWD wurde der Grundstein für eine polnische „Volksrepublik“ gelegt. Die überlebenden TeilnehmerInnen des Aufstands waren Repressionen ausgesetzt und obwohl sich die Heimatarmee offiziell selbst auflöste, führten einige Einheiten weiterhin geheime Aktivitäten gegen die neuen Behörden durch.

Historische Parallelen

Es stimmt, dass in den ersten Tagen des Aufstands Enthusiasmus und Selbstorganisation zum Ausdruck kamen und es gab auch Momente der Solidarität in der Katastrophe. Es wurden Haus- und Blockausschüsse gebildet, die bei den Luftschutzmaßnahmen, der Brandbekämpfung und der Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Sand halfen. Junge PfadfinderInnen übernahmen die Postzustellung, während Nachrichten und politische Publikationen weiterhin in großer Zahl gedruckt und lokale Radiosender eingerichtet wurden. Zygmunt Zaremba, ein PPS-Vertreter des polnischen Untergrundstaates und Teilnehmer am Aufstand, beschrieb die Situation vor Ort wie folgt:

Das Leben auf dieser kleinen Insel der Freiheit war seltsam. Die Verwaltung wurde zum Teil durch das Oberkommando der Heimatarmee und zum Teil durch die im Geheimen vorbereiteten Kader der Zivilverwaltung durchgeführt. Die Hauptrolle spielten jedoch die Gebäude- und Wohnblockausschüsse, denen man freiwillig gehorchte. Eine Polizei wurde nicht benötigt. Die gesamte Stadt war zu einer vollständig sozialisierten Kommune geworden. Die Einwohner teilten ihr Essen mit den Soldaten und mit den Flüchtlingen aus den noch von den Deutschen besetzten Teilen der Stadt. In den Häusern wurden Gemeinschaftsküchen eingerichtet, die die Bewohner und die durchreisenden Gäste versorgten. Wenn die privaten Vorräte zur Neige gingen, verteilte die Verwaltung über die Hauskomitees kostenlos Lebensmittel, die in deutschen Lagern erbeutet worden waren. Geld spielte überhaupt keine Rolle. Es gab eine brüderliche Gemeinschaft aller Kämpfer, die von dem glücklichen Wissen beherrscht wurde, dass wir alle endlich frei waren. Wir waren stolz darauf, dass wir uns aus eigener Kraft befreit hatten, dass wir die Deutschen besiegt und sie gezwungen hatten, sich zu ergeben und ihre Waffen `unseren Jungs´, wie wir die Soldaten der Heimatarmee nannten, zu überlassen. Es war bemerkenswert, dass sich niemand an den Gefangenen rächte; die Leute starrten sie auf der Straße neugierig an, wenn sie dazu gebracht wurden, Befestigungen zu bauen; sehr oft wurde eine ironische Bemerkung an das "Herrenvolk" gerichtet, aber kein Gefangener wurde geschlagen oder gelyncht.(8)

Zaremba, der den Aufstand als Versuch betrachtete, "einen freien und unabhängigen polnischen Staat durch unsere eigenen Anstrengungen und Opfer zu schaffen", hatte ein großes Interesse daran, ihn möglichst romantisch darzustellen. Doch er war nicht der Einzige, der den Vergleich mit der Pariser Kommune zog. Die Ereignisse in Warschau blieben auch in Italien nicht unbemerkt, wo sich ebenfalls ein nationaler Aufstand gegen den Faschismus anbahnte. Im Oktober 1944 erschien in der von Bordigas Anhängern in Neapel herausgegebenen Zeitschrift La Sinistra Proletaria ein Artikel mit dem Titel "Es lebe die Warschauer Kommune":

Zunächst einmal haben die russischen Behörden die polnischen Partisanen als das bewertet, was sie wirklich sind, nämlich proletarische Kämpfer ohne Herren, autonome Kämpfer der Arbeiterklasse, die nicht für die Freiheit des Polens der Kapitalisten und Großgrundbesitzer, sondern für die Emanzipation der Arbeiterklassen gegen alle Herren in Ost und West, Nord und Süd kämpfen. Auf diese kommunistische Haltung wollten die russischen Führer reagieren, indem sie erstens diesen Kämpfern der proletarischen weltweiten Front die militärische Hilfe verweigerten und zweitens das Massaker der Nazis an 200.000 Menschen zuließen, die fast alle Kämpfer des revolutionär-sozialistischen Bundes in Warschau waren.(9)

Aus der Zeit herausgeschrieben, sind gewisse sachliche Ungenauigkeiten verständlich - der Bund (gemeint ist der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund) spielte eine bedeutende Rolle beim Aufstand im Warschauer Ghetto, in dessen Verlauf die meisten seiner AktivistInnen umkamen, aber er hatte einen vernachlässigbaren Einfluss auf den Warschauer Aufstand (nur wenige einzelne überlebende Mitglieder des Bundes nahmen daran teil). Die Vorstellung, dass die der Heimatarmee unterstellten WiderstandskämpferInnen, die die große Mehrheit der Kämpfenden ausmachten, herrenlose „proletarische Kämpfer, autonome Kämpfer der Arbeiterklasse" waren, ist jedoch absurd. Dennoch wiederholte Bordiga fast zehn Jahre später selbst diese Behauptung:

[das polnische Proletariat] erhob sich während des Zweiten Weltkriegs in einem verzweifelten Versuch, die Macht in der gepeinigten Hauptstadt gegen die deutschen und russischen Generalstäbe zu übernehmen, und endete wie die Pariser Kommunarden, die im Kreuzfeuer ihrer Feinde fielen.(10)

Die Interpretation von Bordiga und seinen Anhängern war im besten Fall Wunschdenken, im schlimmsten Fall eine Verwechslung der Begriffe Nation und Klasse. Bereits Mitte August war die Moral in Warschau angesichts des Nazi-Terrors, der Erschöpfung, des Hungers und der Krankheiten stark gesunken. Das alltägliche Leben spielte sich nun in Kellern, Abwasserkanälen und improvisierten Unterkünften ab. In der Zivilbevölkerung wurden Forderungen nach der Kapitulation der Heimatarmee laut, die Privilegien, die die Soldaten genossen (z. B. der vorrangige Zugang zu Wasser), führten zu Spannungen, und immer häufiger wurden die Soldaten von der Zivilbevölkerung beschimpft. Immer mehr ZivilistInnen nahmen das Angebot an, die Stadt zu verlassen, auch wenn dies Deportation oder Schlimmeres bedeutete. Außerdem wurde der Warschauer Aufstand von Anfang an von der polnischen Exilregierung aus realpolitischem Kalkül vorbereitet. Um zu einem echten Volksaufstand und nicht nur zu einer totgeborenen Militäroperation zu werden, musste die Führung der Heimatarmee natürlich die Volksstimmung unter den Warschauer Massen ausnutzen. Fünf Jahre Besatzung hatten zu einer weit verbreiteten Anti-Nazi-Stimmung geführt, doch die meisten Arbeiter wollten keine Rückkehr der Zweiten Polnischen Republik. Die polnische Exilregierung musste ein Programm vorlegen, das mit den sozialen Reformen mithalten konnte, die von dem mit Moskau verbündetem Polnische Komitee der nationalen Befreiung versprochen wurden. Die von der Heimatarmee während des Aufstands verbreiteten Aufrufe zur "Sozialisierung der Schlüsselindustrien, zur Beteiligung der Angestellten und Arbeiter an der Leitung der Industrieproduktion"(11) müssen in diesem Zusammenhang gesehen und eingeordnet werden. Einige WiderstandskämpferInnen wollten vielleicht tatsächlich, dass die ArbeiterInnenklasse "die Macht übernimmt", aber in den meisten Fällen wurde dies als Schaffung einer "Arbeiter- und Bauernregierung" verstanden, die laut PPS in London im Aufbau begriffen war und laut PPR in Moskau bereits existierte.

Eine andere Einschätzung der Lage geht aus einem Flugblatt hervor, das im Dezember 1944 von Mitgliedern der neu gegründeten Internationalistischen Kommunistischen Partei (Partito Comunista Internazionalista, PCInt) in Asti verteilt wurde:

In dieser Atmosphäre der Erwartung eines baldigen Endes des Konflikts ruft das Nationale Befreiungskomitee, insbesondere durch die Kommunistische Partei Italiens, die Arbeitermassen erneut auf, sich auf den Aufstand gegen den Nazifaschismus vorzubereiten. Wir bezeichnen eine solche Propaganda als Provokation und bekräftigen, dass die Arbeiterklasse, sollte sie den naiven Fehler begehen, sich gegen die deutschen Truppen zu erheben, ein schreckliches Gemetzel erleben würde. Die schmerzhaften Episoden von Grosseto, Paris und Warschau sind eine lehrreiche Lektion, die nicht vergessen werden darf. Die Verwechslung von Krieg und Revolution ist ebenfalls absurd. Die Arbeiterklasse ist nicht militaristisch aufgestellt, und in keiner historischen Periode haben die proletarischen politischen Parteien das Problem der Aktion auf der Ebene eines Krieges mit militärischem Charakter gegen eine Armee erörtert, was vor allem besondere technische Fähigkeiten erfordert. Das Proletariat ist gegen den Krieg und kämpft gegen ihn, indem es Propaganda für die Desertion und den Boykott macht, bereit, jede günstige Situation zu nutzen, um sie in einen zivilen Kampf zur Eroberung der Macht umzuwandeln. Die Arbeiterklasse ist revolutionär, aber der revolutionäre Kampf hat nichts mit dem Krieg zwischen Armeen zu tun: die Technik ist anders, es werden andere Methoden angewandt, anders sind daher auch die Eigenschaften über die die Anführer verfügen müssen.(12)

Hier diente die Erfahrung von Warschau als Warnung, was passieren kann, wenn ArbeiterInnen in eine Aufstandsaktivität hineingezogen werden, die nicht ihren Bedingungen entspricht. Anstatt sich in den nationalen Aufstand hineinziehen zu lassen, plädierte die PCInt für folgenden Ansatz:

Wir würden in Abstraktion verfallen, wenn wir nicht anerkennen würden, dass bei den Aufständen, deren Zeugen wir sein werden, die Initiative in den Händen eben jener Kräfte liegt und bleibt, die den Weltkonflikt dominiert haben, und dass es unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen romantisch wäre, davon zu träumen, den Lauf der Geschichte allein durch unser Eingreifen zu ändern und eine demokratisch-patriotische Bewegung in eine revolutionäre Klassenbewegung zu verwandeln. Unsere Intervention wird sich daher an diesen Kriterien orientieren: 1) Vorbeugende Kritik an den politischen Zielen und der taktischen Ausrichtung des Volksaufstandes und des bewaffneten Streiks; 2) Eingreifen in die Aufstandsbewegung, wo immer sie einen Massencharakter annimmt, und Handeln in ihr als differenzierende politische Kraft; 3) Ausnutzung der laufenden Agitation zur Eroberung jener Position, die sowohl der Fortsetzung des proletarischen Kampfes in den kommenden Monaten als auch der Stärkung der Partei dienen kann.(13)

Auf diese Weise konnte die PCInt in die stattfindenden Massenstreiks eingreifen ohne ihre politische und organisatorische Integrität zu opfern. Ähnlich wie in Italien war auch in Polen ein Klassenkampf im Gange. Ab Ende 1943 traten im ganzen Land Fabrikkomitees in Erscheinung. Sie begannen, praktische Vorbereitungen für das Ende der Besatzung zu treffen, indem sie Betriebe übernahmen und die Produktion zu ihren eigenen Bedingungen wiederaufnahmen. In einigen Fällen bewaffneten sie sich, um die Zerstörung und Plünderung von Industrieanlagen durch die Besatzer zu verhindern und die alten Eigentümer von einer Rückkehr abzuhalten. In diesen Fabrikkomitees waren verschiedene Strömungen vertreten, von der PPR und der PPS bis hin zu kleineren sozialistischen und syndikalistischen Gruppen, Gewerkschaftern, parteilosen ArbeiterInnen und sogar Mitgliedern der Heimatarmee. Der zunehmende Radikalismus in der ArbeiterInnenklasse zwang all diese politischen Gruppierungen dazu, den Fabrikkomitees in ihren Programmen für das Nachkriegspolen eine gewisse Rolle zuzugestehen. Im März 1944 warnte der Kommandeur des Informations- und Propagandabüros der Heimatarmee:

Es hat zweifellos eine starke Radikalisierung zuvor benachteiligter sozialer Schichten und eine allgemeine Verschiebung nach links stattgefunden. Die Forderung, große Vermögenskonzentrationen in den Händen von Privatpersonen oder Personengruppen zu beseitigen, ist fast allgemein geworden. ... Jeder Versuch, diesen Prozess umzukehren oder gar zu stoppen, ist hoffnungslos und daher schädlich. ... Es wird weiterhin Verachtung oder sogar Hass auf schwache Anführer und ... à la lanterne geben.(14)

Es ist ein historischer Zufall, dass am 1. August 1944 um 17.00 Uhr, dem Tag und der Uhrzeit des Beginns des Aufstands, in Warschau ein Kongress der Fabrikkomitees stattfinden sollte, um eine stadtweite Koordination ins Leben zu rufen. Der Aufstand führte zwangsläufig dazu, dass die Warschauer Fabrikkomitees in den Untergrund gedrängt wurden (auch wenn es einige Fälle gab, wie z. B. im Bezirk Praga, in denen der Aufstand zum Anlass genommen wurde, die Betriebe vorzeitig in Beschlag zu nehmen- das deutsche Militär holte sie schnell zurück und stellte sie auf den Kopf, um die ArbeiterInnen zu bestrafen). Eine der wichtigsten politischen Folgen des gescheiterten Aufstands war die weitere Stärkung des Einflusses der PPR (deren Beteiligung am Aufstand nur begrenzt war) - die Heimatarmee wurde dezimiert, während kleinere sozialistische und syndikalistische Gruppen, die an den Kämpfen teilnahmen, jeden unabhängigen Charakter verloren und sich militärisch dem einen oder anderen politischen Zentrum unterordnen mussten. Doch selbst als die PPR ihre Kontrolle festigte, agierten die ArbeiterInnen weiterhin unabhängig. Der Anarchist Paweł Lew Marek beschrieb die Situation Anfang 1945 wie folgt:

Fast niemand wartete auf Befehle von oben, einige Arbeiter nahmen die Produktion in die Hand, andere suchten nach Nachschub. Brigaden aus verschiedenen Fabriken gingen hinter die Front, um nach Maschinen zu suchen, die die Deutschen in letzter Minute weggeschafft hatten. ... Um die Besatzungen irgendwie zu halten und die Produktion in Gang zu bringen oder Schäden zu beheben, entwickelten die Fabriken eine umfangreiche Initiative zur gegenseitigen Hilfe. Andere Unternehmen wurden zur Versorgung mit Lebensmitteln oder Strom direkt kontaktiert. Diejenigen, die über verkaufbare Produkte oder qualifizierte Handwerker verfügten, schickten diese aufs Land, um Waren oder Dienstleistungen gegen Lebensmittel einzutauschen.(15)

Die ArbeiterInnen gerieten auch mit den neuen stalinistischen Behörden aneinander. In den Jahren 1945-1948 fanden etwa 1.200 Streiks statt, 80 % davon wegen wirtschaftlicher Fragen.(16) Bei den Wahlen zu den Fabrikkomitees im Jahr 1946 erhielt die PPR nur 31 % der Delegierten, die PPS 38 %, die parteilosen Arbeiter 27 % und die Agrarpopulisten 4 %.(17) Kein Wunder also, dass die PPR, sobald die Fabrikkomitees ihre Aufgabe bei der Wiederaufnahme der Produktion erfüllt hatten, sie vollständig den staatlich kontrollierten Gewerkschaften unterordnete. Anders als in Italien gab es in den Organen der ArbeiterInnenklasse nicht einmal den Ansatz einer unabhängigen revolutionären Partei, die eine Alternative zu London und Moskau hätte darstellen können. Der elementare, aber kurzsichtige Syndikalismus der ArbeiterInnen, die ihre Betriebe übernommen hatten, konnte den entstehenden stalinistischen Staat nicht herausfordern - ihre Bemühungen wurden von den neuen Behörden ausgenutzt, die daraufhin ein Verstaatlichungsprogramm nach staatskapitalistischem Vorbild durchführten.

Heutige Parallelen

Nationalismus speist sich immer aus Märtyrertum und dem Gefühl des Verrats, das der Warschauer Aufstand in Hülle und Fülle bietet. Die Verdrängung der Erinnerung an diesen Aufstand in der „Volksrepublik Polen“ hat den Kult um ihn noch verstärkt. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der wirtschaftlichen und politischen Umgestaltung Polens nach 1989 löste sich die polnische Exilregierung offiziell auf und erkannte die Dritte Polnische Republik an. Im Jahr 2009 wurde der 1. August auf Initiative des damaligen polnischen Präsidenten Lech Kaczyński, dem Gründer der populistischen und nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Der Warschauer Aufstand wird nun jährlich mit verschiedenen von der Regierung gesponserten Veranstaltungen und Aufmärschen unter Führung der Rechtsextremen begangen, auch wenn die Debatte darüber, ob die Entscheidung, ihn auszulösen, richtig war oder nicht, weitergeht. In der Zwischenzeit interpretieren viele polnische Sozialdemokraten und sogar Anarchisten den Aufstand in erster Linie als eine antifaschistische Bewegung, die angeblich zeige, dass "echter" polnischer Patriotismus von Natur aus im Widerspruch zum Faschismus steht.

Aber nicht nur in Polen dient die Erinnerung an den Aufstand heute als Instrument der politischen Mystifizierung. Selbst die Hamas-Angriffe vom 7. Oktober 2023 wurden mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto von 1943, aber auch mit dem Warschauer Aufstand von 1944 verglichen.(18) In einem früheren Artikel haben wir erläutert, warum Vergleiche mit dem ersten Aufstand falsch sind.(19) Und während einige der gleichen Einwände für den zweiten Vergleich gelten (Deutsche ZivilistInnen wurden bspw. vom polnischen Widerstand im Allgemeinen nicht als Ziele betrachtet, der Warschauer Aufstand war kein Überfall auf deutsches Gebiet, sondern ein Aufstand innerhalb einer besetzten Stadt usw.), so gibt es doch gewisse Parallelen, die über die einfache Tatsache hinausgehen, dass beide militärischen Interventionen gegen Regime gerichtet waren, die zu unglaublichem wirtschaftlichen und sozialen Elend in den besetzten Gebieten beitrugen.

  • Es waren auch größere geopolitische Überlegungen im Spiel. Die Befreiung Warschaus vor der Ankunft der Roten Armee hätte der polnischen Exilregierung bei den Friedensverhandlungen nach dem Krieg die Oberhand verschafft. Andererseits hat die Wut über die Vergeltung Israels Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien und Ägypten gezwungen, sich um Palästina zu scharen und den arabisch-israelischen Einigungsprozess zum Erliegen gebracht, der die Hamas auf der internationalen Bühne zu isolieren drohte.
  • Die Reaktion auf innenpolitische Faktoren: Die wachsende Unterstützung für die Stalinisten bereitete der Heimatarmee Sorgen, so dass sie sich als radikale Kampftruppe darstellen musste. Die heutige Hamas war in den letzten Jahren mit zunehmenden wirtschaftlichen Protesten konfrontiert. Verschiedene Umfragen deuteten darauf hin, dass sie in der Bevölkerung an Unterstützung verlor. In beiden Fällen war die militärische Aktion ein Versuch, sich vor der Zivilbevölkerung als politisch-militärischen Kraft in Szene zu setzen, um nicht weiter an Einfluss zu verlieren.

Nicht zuletzt trafen sowohl die polnische Führung in London als auch die palästinensische Führung in Katar ihre Entscheidung im vollen Bewusstsein, dass sie das Risiko massiver Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung mit sich bringen würde. 200.000 Polen damals und 39.000 PalästinenserInnen (Tendenz steigend) heute haben den Preis dafür bezahlt.

Ein Großteil der heutigen kapitalistischen Linken betrachten den Warschauer Aufstand vom 1. August oder gar den 7. Oktober als Ausdruck fortschrittlicher nationaler Befreiungsbewegungen (obwohl eingefleischte Stalinisten den Warschauer Aufstand sicherlich als „antisowjetisch“ betrachten werden). Doch wann auch immer eine herrschende Klasse, egal auf welcher Stufenleiter sie in der imperialistischen Hackordnung auch stehen mag, die ArbeiterInnen dazu aufruft, "für die Nation zu kämpfen", dann fordert sie dazu auf, für die Verteidigung kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu krepieren. Die Interessen von politisch-militärischen Kräften wie der Heimatarmee oder gar der Hamas sind nicht mit denen der ArbeiterInnenklasse in Einklang zu bringen. Nationale Aufstände mögen zwar zunächst die „nationale Einheit“ stärken, doch je länger das Gemetzel andauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Klassenspaltungen wieder aufbrechen. Wie in den 1940er Jahren sind die versprengten Kräfte der InternationalistInnen auch heute nicht in der Lage, vorgeblichdemokratisch-patriotische Bewegungen“ in revolutionäre Klassenbewegungen umzuwandeln. Wenn wir jedoch eine Lehre aus Warschau 1944 ziehen, dann die, dass der Klassenkampf selbst in den Untiefen der rücksichtslosesten kapitalistischen Barbarei nicht verschwindet. Oft ist es die Härte der Situation, die die ArbeiterInnen schließlich zum Handeln zwingt, um sich am Leben zu halten. An diesem Punkt rückt die Frage der Nation oder der Klasse in den Mittelpunkt, und in diesen Momenten wird das Vorhandensein oder Fehlen des subjektiven Faktors (einer in der ArbeiterInnenklasse verankerten revolutionären Partei) entscheidend sein. (Dyjbas)

Anmerkungen

(1) Let Them Count Corpses (1974), ein Gedicht von Anna Świrszczyńska (1909–1984) die als Sanitäterin am Warschauer Aufstand teilnahm: przekroj.org

(2) leftcom.org

(3) leftcom.org

(4) leftcom.org

(5) For more on Polish nationalism, see: leftcom.org

(6) leftcom.org

(7) Borodziej, Wlodimierz"Der Warschauer Aufstand 1944"S. Fischer, Frankfurt, 2001,S. 121

(8) Zygmunt Zaremba, The Warsaw Commune: Betrayed by Stalin, Massacred by Hitler, marxists.org

(9) La Sinistra Proletaria, 28 October 1944, international-communist-party.org

(10) Amadeo Bordiga, The Factors of Race and Nation in Marxist Theory, quinterna.org

(11) Biuletyn Informacyjny, no.54, organ of the Home Army, 17 August 1944

(12) Guerra o rivoluzione, PCInt, December 1944, leftcom.org

(13) Prospettive e direttive, PCInt, 13 April 1945, leftcom.org

(14) Jan Rzepecki, Wspomnienia i przyczynki historyczne, pp.267-268

(15) Paweł Lew Marek, Początki ruchu zawodowego w Krakowie w 1945 r., materiały „Archiwum FA-Słupsk”, pp.101-103

(16) Łukasz Kamiński, Polacy wobec nowej rzeczywistości 1944–1948. Formy pozainstytucjonalnego żywiołowego oporu społecznego, p.135

(17) Kazimierz Kloc, Historia samorządu robotniczego w PRL 1944-1989, p.57

(18) Siehe z.B. aljazeera.com oder wsws.org

(19) leftcom.org

Sunday, August 4, 2024