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Startseite ›Partei und Klasse in der revolutionären Welle von 1917-21
(7. Teil unserer Artikelserie zum Thema Klassenbewusstsein und revolutionäre Organisation)
Die Erfahrungen der Russischen Revolution sind essentieller Gegenstand jeder Diskussion über das Klassenbewusstsein, der Herausbildung einer proletarischen Partei sowie der Entscheidungsfindungsprozesse innerhalb der ArbeiterInnenklasse. Im letzten Teil haben wir gezeigt, wie sich die Bolschewiki 1917 zur Klassenpartei entwickelten. Daran anknüpfend wollen wir uns in diesem Teil mit jener Frage auseinandersetzen, die dem revolutionären Proletariat seit den frühen 1920er Jahren im Nacken sitzt. Wie konnte es geschehen, dass eine Revolution, die mit dem Versprechen der Befreiung des Proletariats und damit der gesamten Menschheit begann, in einer der schlimmsten Tyranneien der Weltgeschichte endete? Dies ist insofern von Bedeutung, als dass es eine lange Tradition der Ablehnung der Rolle der Partei gibt, die dazu geführt hat, dass viele Möchtegern-Revolutionäre jeder Form von Organisation mit Aversionen begegnet. In Anbetracht dessen, was wir in dieser Artikelreihe bereits zu dieser Frage dargelegt haben, stellen diese Aversionen eine echte Gefahr für die ArbeiterInnenklasse dar. Wenn wir diese nicht überwinden können, wird unsere Fähigkeit, gemeinsam als Klasse zu handeln, nicht nur ernsthaft behindert, vielmehr wird auch die Aussicht auf eine Revolution verschwinden. Die Wurzeln dieser organisationsfeindlichen Tendenz liegen in einer bestimmten Sichtweise auf die Russische Revolution, wie sie sich insbesondere in den Schriften der sog. „Rätekommunisten“ widerspiegelt und unter heutigen AntikapitalistInnen immer noch einigen Einfluss hat.
Rätebewegung und Revolution
Der holländische Kommunist Anton Pannekoek schrieb einmal, dass die ArbeiterInnenklasse nur zwei Waffen habe, ihre Organisation und ihr Bewusstsein. Allerdings gab Pannekoek, Gründungsmitglied der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) und späterer Theoretiker des Rätekommunismus, zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Antworten auf das Verhältnis von Organisation und Bewusstsein. Als Mitglied der KAPD betonte er zunächst, dass die proletarische Partei als Organisation der klassenbewusstesten ArbeiterInnen ein Programm haben müsse, das „hart wie Stahl und klar wie Kristall“ sein müsse, um ihre historischen Aufgaben zu erfüllen. Darin sah Pannekoek damals das wahre Erbe der bolschewistischen Partei von 1917. Für ihn stand dies zu Recht im diametralen Gegensatz zum Opportunismus und dem Verrat der Parteien der Dritten Internationale (einschließlich der Bolschewiki), die sich 1921 auf Bündnisse mit denselben Sozialdemokraten einließen, die 1914 die ArbeiterInnen durch ihre Unterstützung des imperialistischen Krieges verraten hatten, und sich dann nach dem Ersten Weltkrieg zu Organisationen entwickelten, die sich der Verteidigung des kapitalistischen Systems verschrieben.
In Deutschland war dieser Verrat deutlicher als anderswo, denn nach 1919 trennte ein Strom des Blutes hunderter kommunistischer ArbeiterInnen, einschließlich Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts das revolutionäre Proletariat von der Sozialdemokratie. Umso verabscheuungswürdiger war es, dass die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) unter Paul Levi diejenigen ausschloss, die gegen die taktische Anwendung des Parlamentarismus und die Politik der „Wiedereroberung“ der Gewerkschaften waren und schließlich die KAPD ins Leben rufen sollten. Doch damit nicht genug. Angesichts der sich verschlechternden revolutionären Lage folgte die KPD der Politik der Komintern, Einheitsfronten mit der Sozialdemokratie zu bilden, die nun in geheimer Allianz mit den ehemaligen Generälen des Kaisers das Rückgrat der neuen bürgerlichen Weimarer Republik bildeten.
Für einige von Pannekoeks Genossen in den Berliner und insbesondere den ostsächsischen Gliederungen der KAPD stellte eine erneuerte, auf die deutschen Verhältnisse angepasste Form des Bolschewismus jedoch keine Lösung dar. Unter der Führung von Otto Rühle welcher nach Karl Liebknecht als einer der ersten sozialdemokratischen Abgeordneten 1916 gegen die Kriegskredite gestimmt hatte) begannen sie nun die Organisationsform einer Partei an sich als eine bürgerliche Schöpfung zu verurteilen, die dem Prozess der proletarischen Emanzipation fremd sei. Diese parteifeindliche „ostsächsische“ Richtung konnte auf unmittelbare Erfahrungen in und mit der SPD verweisen, die Rühles Behauptung zu untermauern schienen. Schließlich war Rühle im August 1914 zunächst gezwungen worden, sich der sozialdemokratischen Fraktionsdisziplin zu unterwerfen und für den Krieg des Kaisers zu stimmen. Es war Otto Rühle der als Abgesandter der KAPD in Moskau aus nächster Nähe beobachten konnte, wie die einst vorbildliche revolutionäre bolschewistische Partei, die einzige bedeutende und von Beginn an gegen den Krieg ankämpfende Partei, unter dem titanischen Druck eines sog. „Bürgerkriegs“, der in Wirklichkeit ein auf russischem Boden geführter internationaler Krieg war, degeneriert war. Die Folgen dieses Bürgerkriegs waren für das russische revolutionäre Proletariat in materieller Hinsicht katastrophal. Dem Bürgerkrieg fielen schätzungsweise zwischen 7 bis 14 Millionen Menschen zum Opfer. Zudem untergrub die Mobilisierung der klassenbewusstesten ArbeiterInnen für die zu schaffende Rote Armee das Funktionieren des Rätesystems. Die Sowjets in ihrer Rolle als lebendige Entscheidungsfindungsorgane des Proletariats befanden sich seit 1919 im Niedergang, und obwohl noch 1920 Sowjetkongresse einberufen wurden, glichen diese zunehmend leeren Fassaden.
Rühle vermied jedoch jede materialistische Analyse dieses Niedergangs. Für ihn bestand das Problem vorrangig darin, dass die Bolschewiki bei der Umsetzung des kommunistischen Programms ideologisch versagt hätten. Er war einer der ersten, der darauf hinwies, dass in Russland keine kommunistische, sondern eine staatskapitalistische Gesellschaft geschaffen worden war. Dies gereicht ihm jedoch nicht zur Ehre. Lenin selbst sagte, dass die Sowjetrepublik eine gemischte Wirtschaft sei (dessen staatskapitalistischen Teile seiner Meinung nach zu den besseren Errungenschaften gehörten). Darüber hinaus sprach zu diesem Zeitpunkt niemand von einer sozialistischen Gesellschaft, denn die junge Sowjetrepublik lebte noch von der Hand in den Mund auf der Grundlage eines verallgemeinerten Mangels. Wenn das Proletariat Ende 1917 wirtschaftlich gesehen vor einer Situation stand, die dem wirtschaftlichen Zusammenbruch während der Pest im 14. Jahrhundert glich (diese Beschreibung stammt von Edward Acton, Professor für Geschichte an der Universität East Anglia, in seinem Buch „Rethinking the Russian Revolution“), dann sollte man sich die Situation nach den Jahren des durch die Intervention der westlichen imperialistischen Staaten aufgezwungenen Bürgerkrieges mit seinen Millionen von Toten vorstellen.
Nur eine weltweite Verschiebung des Kräftegleichgewichts zwischen den Klassen hätte die Frage nach dem Sozialismus aufwerfen können. Doch Rühle, der jahrelang in den Reihen der Sozialdemokratie gewirkt hatte, betrachtete die Revolution nur in idealistischen Begriffen. Das Zögern der bolschewistischen Partei und der Kommunistischen Internationale war seiner Meinung nach nicht auf widrige historische Umstände zurückzuführen, sondern auf den inhärenten Konservatismus aller ehemals sozialdemokratischen Parteien. Von hier aus war es ein kurzer Schritt zu der Schlussfolgerung, dass alle Parteien bürgerlich seien. Es komme nicht mehr auf die Organisation der bewussten kommunistischen Minderheit an, sondern nur noch auf die klassenübergreifende Struktur, die der gesamten Klasse eine Stimme geben könne. Dies war der Ursprung der Theorie des Rätekommunismus, als deren Schöpfer Rühle gilt.
Rätekommunismus und Marxismus
Der Rätekommunismus beruht auf der Ablehnung der grundlegenden Theorie über die Entstehung des Klassenbewusstseins, wie sie von Marx in der „Deutschen Ideologie“ dargelegt wurden. Würde sich das Klassenbewusstsein gradlinig und einheitlich innerhalb der ArbeiterInnenklasse entwickeln, dann wäre die Frage von Partei und Räten eine rein akademische und die Partei als reales Phänomen wäre irrelevant. Dies ist jedoch mitnichten der Fall.
Das Klassenbewusstsein existiert in fragmentierter Form in verschiedenen Gruppen von ArbeiterInnen, abhängig davon, welche Erfahrungen die Klasse in jüngster Zeit gemacht hat. Solche Erfahrungen können flüchtig sein (ein Streik in einem Industriezweig), sich über Jahre erstrecken, sodass die ArbeiterInnen nur eine schwache Erinnerung an frühere Ereignisse haben, oder es kann sich um besonders heftige Ausbrüche von Kämpfen handeln, die niemand vergisst, aber von verschiedenen Gruppen unterschiedlich erlebt wurden. Was diese Episoden zusammenhält, ist nicht die unmittelbare Erfahrung des eigentlichen Kampfes (die spontaneistische rätekommunistische Hypothese), sondern die Überlegungen derjenigen ArbeiterInnen und AktivistInnen, die erkennen, dass dieser oder jener Kampf nur ein Teil eines größeren Ganzen ist und das Produkt der Klassenantagonismen der kapitalistischen Gesellschaft als Ganzes darstellt. Wie können diese Gruppen von ArbeiterInnen außerhalb des unmittelbaren Kampfes ihre Erfahrungen und das Bewusstsein, das durch diese Erfahrungen geweckt wurde, weiterentwickeln? Eine permanente politische Organisation, die den Erfahrungsschatz der Vergangenheit in die zukünftigen Kämpfe einbringt, ist nicht nur wünschenswert - ihr Erscheinen als Teil des Prozesses eines sich ständig erweiternden Klassenbewusstseins ist unvermeidlich. Das ist die Art von Organisation, die wir Partei nennen.
Rühle lehnte dies ab. Letztlich vertrat er die Ansicht, dass nur die ökonomische „Einheitsorganisation“ der Klasse notwendig sei (obwohl er gegen alle Gewerkschaften war, stellte seine Position mehr oder weniger eine Spielart anarchosyndikalistischer Ideen dar). Wie andere Mitglieder der deutschen Linken, die später zu Rätekommunisten wurden, sah er nie den Widerspruch in dieser Auffassung. Für Rühle war die Idee der „Partei“ an sich ein bürgerliches Konstrukt. Was er nicht sah, war, dass die bürgerliche Partei (mit ihrer auf Stimmenfang ausgerichteten Maschinerie) einen völlig anderen Charakter hat als eine proletarische Partei. Während erstere lediglich ein Instrument zur Vertretung wirtschaftlicher Interessen innerhalb des Systems war, entstand die proletarische Partei erst als Trägerin des historischen Programms zur Emanzipation der Klasse. Das bedeutet, dass sie nicht nur einen gänzlich anderen Organisationstyp darstellte, sondern auch ein grundlegend anderes Verhältnis zur Mehrheit ihrer Klasse hatte. Die bürgerliche Partei verlangt von den Wählern lediglich sie zu wählen, um ihr die Herrschaft zu überlassen. Die proletarische Partei hingegen ist ein politischer Orientierungspunkt, ein politischer Kompass, um die proletarische Massenaktion zum Sturz der alten Ordnung anzuführen. Während die Partei eine wichtige Führungsrolle im eigentlichen Prozess des Aufstands hat, muss es letztlich die Masse der Klasse und nicht die Partei sein, die schließlich die alte Ordnung stürzt, indem sie eine noch größere Masse in den Prozess involviert, der mit dem Aufbau einer neuen Ordnung beginnt. Das genaue Verhältnis zwischen der Klassenpartei und der Masse der Klasse kann nicht im Voraus bestimmt werden, da die ArbeiterInnenklasse erst im Prozess der Revolution „den Dreck von Jahrhunderten" (Marx, Die deutsche Ideologie) abschüttelt. Doch die historische Logik kann nicht auf den Kopf gestellt werden. Zunächst erfasst das Klassenbewusstsein organisatorisch gesehen eine Minderheit, die dann der gesamten Klasse in einer revolutionären Situation den Weg nach vorn weist. Erst nach dem Umsturz der kapitalistischen Ordnung entwickelt die ArbeiterInnenklasse die erforderlichen neuen materiellen Bedingungen für die Entwicklung eines kommunistischen Massen- und Klassenbewusstseins.
Die russische Erfahrung im Oktober 1917
Diese kurzen Ausführungen über die theoretischen Wurzeln des Rätekommunismus führt uns zurück an den Punkt, an dem wir das sechste Kapitel beendet hatten, nämlich nach Russland in der Mitte des Jahres 1917. Die Bolschewiki selbst waren kein deus ex machina. Sie waren Teil der revolutionären Entwicklung der russischen ArbeiterInnenklasse. Als Partei erlebte die bolschewistische Partei das Jahr 1917 nicht als ein und dieselbe Organisation. Im Laufe dieses bedeutsamen Jahres wurde der Bolschewismus, obwohl er über das richtige Rohmaterial verfügte, zu einem Werkzeug des revolutionären Proletariats geschmiedet. Wie wir im letzten Teil dieser Serie deutlich gemacht haben, war dies weder ein mystischer Prozess noch war das Ergebnis vorherbestimmt. Erstens blieben die Bolschewiki 1914 einem proletarischen Programm treu, als die große Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien alles aufgab, wofür sie zu stehen behaupteten.
Zweitens waren die Bolschewiki eine Basisorganisation, die trotz der Verhaftung und Verbannung ihrer Führer in den Fabriken und in den Kasernen arbeitete, um ihre Losungen gegen den Krieg in den täglichen Klassenkampf zu tragen. Gerade die Tatsache, dass mehrere Parteiführungen verhaftet und in die Verbannung oder ins Exil geschickt wurden, führte dazu, dass die ArbeiteraktivistInnen viel mehr Initiative zeigten, wo immer sie sich befanden. Die AktivistInnen vor Ort warteten nicht darauf bis ihnen Führer sagten, was sie zu tun hätten. In einigen Orten wie Zarizyn (später Stalingrad, heute Wolgograd) brach der revolutionäre Aufstand sogar vor den Ereignissen in Petrograd aus.
Mitte 1917 waren die Bolschewiki in gewissem Sinne schon fast zu erfolgreich. Nachdem Lenin die Parteiführung im Mai davon überzeugt hatte, zu akzeptieren, was die Basis schon die ganze Zeit erkannt hatte, nämlich dass die Provisorische Regierung gestürzt und ein Versuch zum Aufbau des Sozialismus unternommen werden musste, hatte das Proletariat ein Banner, um das es sich scharen konnte. Als die Kriegsanstrengungen der Provisorischen Regierung im Juni zum Stillstand kamen, wurde die unerschütterliche Antikriegsposition des Bolschewismus zur einzigen Hoffnung einer hungernden ArbeiterInnenklasse, die mit einer weiteren Militärmobilisierung für eine erneute selbstmörderische Offensive konfrontiert war.
Die Julitage
Hier sollte es zu einer abermaligen Prüfung für eine proletarische Partei kommen. In Anbetracht dessen, was wir bereits über die ungleichmäßige Entwicklung des Klassenbewusstseins gesagt haben, ist es unvermeidlich, dass einige ArbeiterInnen hinsichtlich des revolutionären Umsturzes ungeduldiger sind als andere und dies war der Fall bei den Matrosen in Kronstadt, dem Stützpunkt der Baltischen Flotte vor den Toren Petrograds. Im Juli 1917 beschlossen diese, die Demonstration vom Juni fortzusetzen, zu der jene Parteien die die Provisorische Regierung unterstützten, aufgerufen hatten, um den Bolschewiki ihre vermeintlich unterlegene Position aufzuzeigen.
Die DemonstrantInnen widerlegten dieses Kalkül jedoch und enthüllten Banner und Transparente mit den bolschewistischen Parolen nach sofortigen Frieden und dem Sturz der Provisorischen Regierung. Die Matrosen beschlossen, dass nun eine bewaffnete Demonstration für die Rätemacht die Provisorische Regierung stürzen solle. Der Rest der Klasse war hierzu jedoch noch nicht bereit. Die Folgen des Scheiterns der Juni-Offensive waren einer breiteren Schicht der Klasse noch nicht bewusst geworden. Die in den Fabriken verankerten Bolschewiki verstanden dies, sodass die Aktion der Matrosen sie in ein schreckliches Dilemma brachte. Unter dem Balkon des damaligen Hauptquartieres der Bolschewiki im Kschessinskaja-Palast demonstrierten Tausende bewaffneter Matrosen und forderten die Bolschewiki auf, sich an die Spitze der Demonstration zu stellen (die lediglich die bolschewistischen Parolen vom Juni wiederholte) und über die Liteiny-Brücke direkt ins Zentrum der Stadt zu marschieren. Lenin war entsetzt und ließ sich dazu hinreißen dem Führer der bolschewistischen Militärorganisation, Nikolai Podvoisky, an den Kopf zu werfen, er hätte eine Tracht Prügel verdient, da er es versäumt habe die Matrosen früher zu warnen und von ihrem überstürzten Vorhaben abzubringen. Als er aufgefordert wurde, zu den Demonstrierenden zu sprechen, sagte Lenin ihnen im Grunde nur, dass sie friedlich nach Hause gehen sollten, da die Provisorische Regierung ihre Demonstration nur als Provokation für einen Angriff auf sie nutzen könnte. Die Matrosen waren nach dieser Ansprache verdattert und verstanden zunächst nicht, dass der Rest der Klasse mehr Zeit brauchte, um zu ihrem Standpunkt zu gelangen, obwohl sie bolschewistisches Gedankengut vertraten.
Die Entscheidung der Bolschewiki während der Julitage, die Matrosen weder zu unterstützen noch zu kritisieren, untergräbt einmal mehr die bürgerliche Vorstellung, dass es sich bei ihnen lediglich um eine Bande von Putschisten gehandelt habe. Die gesamte bolschewistische Führung wusste, dass ohne eine breite Unterstützung der Klasse keine Aktion möglich war. Demgegenüber neigten die Kronstädter Matrosen (viele von ihnen Anarchisten) zum Putschismus, da sie dachten, sie müssten nur die Initiative ergreifen und der Rest der Klasse würde folgen. Da die besten Elemente des revolutionären Proletariats bereits in die bolschewistische Partei eintraten, wussten die Bolschewiki selbst, dass die Unterstützung der Klasse zu ihnen tendierte, aber noch nicht stark genug für eine Machtprobe mit der Provisorischen Regierung war. So gelang es den Bolschewiki, die Demonstration ein wenig abzuschwächen, ohne sie jedoch offen ihrem Schicksal zu überlassen. Die Bolschewiki blieben mit der Klasse verbunden.
Aus diesem Grund wurden die Bolschewiki verboten, ihre Presse zerschlagen, ihre Führer inhaftiert oder zur Flucht gezwungen (wie Lenin), mit einer massiven Lügenkampagne überzogen und beschuldigt für die Deutschen zu arbeiten. Doch trotz des Angriffs der Provisorischen Regierung auf die Bolschewiki ließ die ArbeiterInnenklasse in ihrer Unterstützung kaum nach, und die bolschewistische Partei ging nach einem anfänglichen vierzehntägigen Niedergang gestärkt aus der Krise hervor.
Oktober 1917 - Staatsstreich oder Revolution?
Das Wiedererstarken der Bolschewiki war auf ihre breite Unterstützung in der Klasse zurückzuführen, wurde aber auch durch die internen Konflikte und Auseinandersetzungen der verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie befördert. Als General Kornilow, den Kerenski zu seinem neuen Armeechef ernannt hatte, beschloss, einen Angriff auf Petrograd zu führen, waren die Bolschewiki aufgrund ihrer tiefen Verankerung in der ArbeiterInnenklasse die einzige Kraft, die den Widerstand organisierte. Die Agitation der bolschewistischen AktivistInnen untergrub die Moral von Kornilows Truppen (sogar der Wilden Division - einer ehemaligen zaristischen Eliteeinheit) und der Putsch brach in sich zusammen. Durch ihre Aktivität wurden die Bolschewiki zum wichtigsten Faktor innerhalb der städtischen ArbeiterInnenklasse in Russland, und es war keine Überraschung, dass sie bei den Wahlen zu den beiden wichtigsten Sowjets (Petrograd und Moskau) 80 % der Delegiertenplätze gewannen. Dies geschah auf der Grundlage der unmissverständlichen Parolen „Alle Macht dem Sowjet“ und „Nieder mit der Provisorischen Regierung“.
Dies war nun der ganz konkrete Bewusstseinsfortschritt, auf den Lenin (noch im Exil) gewartet hatte. Es zeigte, dass die antikapitalistische, gegen die Provisorische Regierung gerichtete Stimmung der ArbeiterInnen nun so weit entwickelt war, dass der Sturz der Provisorischen Regierung in Angriff genommen werden konnte. Die eigentliche Planung des Aufstands wurde formell dem Revolutionären Militärkomitee (mit Trotzki an der Spitze) des Petrograder Sowjets übertragen, das praktisch bolschewistisch war, bzw. von den Bolschewiki dominiert wurde, da die Menschewiki und SR (mit Ausnahme der linken SR, die sich von ihren bürgerlichen Kollegen abspalten wollten) nicht daran teilnahmen. Am Ende war es jedoch kein detailliert im Voraus ausgearbeiteter Plan, der den Sieg garantierte, sondern das allgemeine Klassenbewusstsein innerhalb der ArbeiterInnenklasse, und das klare Verständnis, dass die Provisorische Regierung ihr Klassenfeind war.
Als Kerenski beschloss, durch die Sperrung der Brücken über die Neva weitere bewaffnete Demonstrationen aus den nördlichen Petrograder ArbeiterInnenvierteln zu unterbinden wurden seine Soldaten durch die ArbeiterInnenmilizen aufgehalten noch bevor sie ihren Befehlen Folge leisten konnten. Dies war das Signal für das Revolutionäre Militärkomitee zu handeln, und die Stadt zu übernehmen. Entgegen der Darstellung in Eisensteins‘ Propagandafilm „Oktober“ geschah dies ohne Blutvergießen. Kerenski konnte schlicht keine loyalen Truppen finden, um ein Regime zu verteidigen, welches schon lange zuvor das Vertrauen der Massen verloren hatte. In der Tat ist es wichtig festzustellen, dass erst als das Proletariat jenen Parteien in den Exekutivorganen der Sowjets die Unterstützung entzog, welche die Provisorische Regierung vehement verteidigt hatten (den Menschewiki und den Sozialisten-Revolutionären), der totale Bankrott des Kerenski-Regimes offenbar wurde. Die Oktoberrevolution war weder der einfache Staatsstreich als den ihn die bürgerliche Propaganda darstellt, noch der große militärische Triumph wie ihn das Sowjetregime später selber präsentierte, sondern der Höhepunkt eines monatelang gewachsenen Klassenbewusstseins hinsichtlich der Alternativen, die sich 1917 stellten.
Für Lenin war der Monat Oktober sehr frustrierend gewesen. Die überwältigende Unterstützung der ArbeiterInnenklasse für die bolschewistischen Delegierten unterstrich nur, dass der Sturz der Provisorischen Regierung auf der Tagesordnung stand. Er hatte die bolschewistische Führung in Petrograd geradezu mit der Forderung bombardiert, die Macht zu übernehmen. Der Rest der bolschewistischen Führung zögerte und erst durch Kerenskis Vorgehen wurden sie aktiv. Sie wären verloren gewesen, wenn sie nicht in einer Situation gearbeitet hätten, in der die Masse der Klasse hinter ihnen gestanden hätte. Das ist der Schlüssel zum Verständnis der ganzen Sache. In diesem Kapitel sollte es nicht schwerpunktmäßig um die Ereignisse von 1917 gehen, aber wir mussten ausführlicher auf das Jahr 1917 eingehen, weil dies die einzige unverfälschte Erfahrung ist, die wir über das Verhältnis von Partei, Klasse und Bewusstsein in einer echten Revolution haben. 1917 liefert uns den einzigen direkten Beweis dafür, wie das Proletariat die Macht erobern kann. Die RätekommunistInnen, mit denen wir uns zu Beginn des Artikels auseinandergesetzt haben, akzeptieren oft das bürgerliche Argument, dass die Oktoberrevolution ein Staatsstreich gewesen sei, oder wenn sie es nicht tun, haben sie eine unlogische und unrealistische Formel, die besagt, dass die Oktoberrevolution proletarisch, die Bolschewiki jedoch, die die diese anführten, eine bürgerliche Kraft gewesen wären! Was wir hier kurz zu zeigen versucht haben, ist, dass die Unterscheidung zwischen Partei und Klasse in einer Situation verschwimmt, in der die Partei, nach allen messbaren Kriterien, die überwältigende Unterstützung bedeutender Teile der Klasse hat. In den wenigen Monaten vor dem Oktober erkannten sogar viele AnarchistInnen, dass der Bolschewismus über die alte etatistische, reformistische Sozialdemokratie hinausgegangen war, und traten der Partei bei. Lenin selbst schrieb zu dieser Zeit im finnischen Exil in „Staat und Revolution“:
„…die Anarchisten durften mit Recht von dieser Sozialdemokratie behaupten, daß sie ihre Aufgabe preisgebe, die Arbeiter im revolutionären Geist zu erziehen.(1)
Dieses Zusammentreffen von Anarchismus und Bolschewismus in der Russischen Revolution sollte natürlich nicht übertrieben werden, aber es ist ein weiterer Beweis dafür, dass die Erfahrung von 1917 die politische Landschaft veränderte und mit der bolschewistischen Partei ein revolutionäres Instrument schmiedete.
Die RätekommunistInnen können den Bolschewiki nicht absprechen die Partei der Räte gewesen zu sein. Keine andere Partei stand so konsequent für die Rätemacht ein. Einer der Gründe, warum die Revolution so schnell entartete, war, dass die anderen im Sowjet vertretenen Parteien nicht dieselben Prinzipien vertraten. Zwischen 1918 und 1920 waren die Menschewiki zum Beispiel zeitweise in drei Fraktionen gespalten. Eine Fraktion (in der Regel um Martow) war in den Sowjets, eine andere war neutral, während eine dritte mit den Weißen verhandelte, um die Macht der Sowjets loszuwerden. So war es auch bei den linken SR, die nicht nur in den Sowjets vertreten waren, sondern auch dem Rat der Volkskommissare (d. h. der Sowjetregierung) angehörten, bis der Frieden mit Deutschland unterzeichnet wurde. Danach verließen sie nicht nur ihre Regierungspositionen, sondern auch die Sowjets und kehrten zum Terrorismus zurück, indem sie Attentate auf den deutschen Botschafter und mehrere Bolschewiki durchführten.
Aber das ist nicht der einzige Hinweis darauf, dass die Bolschewiki die einzige Partei waren, die sich für ArbeiterInnenräte einsetzte. In ganz Russland entstanden „unter der Herrschaft der Bolschewiki“ weitere Sowjets und in den ersten Monaten der Revolution tourten bolschewistische Kader durch die Fabriken und forderten die ArbeiterInnen auf, anzuerkennen, dass das neue System auf aktiver Beteiligung und nicht auf Passivität beruhe.
Selbst die große Debatte zwischen RätekommunistInnen auf der einen und linken KommunistInnen auf der anderen Seite über die Fabrikkomitees, die von den Bolschewiki angeblich absichtlich unterminiert worden wären, ignoriert die Tatsache, dass es die Fabrikkomitees selbst waren, die eine stärkere Zentralisierung forderten, um weniger chaotisch zu funktionieren. In gewisser Weise ist die Frage der Fabrikkomitees ein Nebenschauplatz, denn das eigentliche Thema ist der Niedergang der Rätemacht und die wachsende Rolle der Partei in allen Lebensbereichen. Dies unterstreicht die wichtigste Lektion der russischen Revolution: Die Partei mag zwar die Avantgarde der Klasse darstellen, kann aber nicht die Rolle der Mehrheit der Klasse bei der Umgestaltung der Gesellschaft übernehmen. Die Partei ist kein Regierungsorgan, sondern ein Organ politischer Führung. Unter den Umständen von 1918-21 wurde dies nicht verstanden. Man ging davon aus, dass die Partei bis zur Weltrevolution als eine Art Regent für das Proletariat fungieren könnte, bis dieses seine bewusste Tätigkeit wieder aufnimmt. Doch die Geschichte des proletarischen Klassenbewusstseins zeigt, dass diese schematische Art der Betrachtung des Bewusstseins nicht funktionieren kann. Sobald die Klasse beginnt, ihren bewussten Willen zur Schaffung einer neuen Gesellschaft zu verlieren, kann kein künstliches Mittel sie wiederbeleben.
Lenin war sich darüber im Klaren. Das war der Hauptgrund, warum er darauf bestand, dass die Provisorische Regierung im Oktober gestürzt werden musste, als das Proletariat darauf vorbereitet war. Lenin argumentierte jedoch unter dem Gesichtspunkt, dass das Klassenbewusstsein international sei und dass die Weltrevolution ungeachtet der Schwäche der Situation in Russland dazu beitragen würde, die materielle Lage zu verändern. Wie wir heute wissen, ist die Geschichte nicht so verlaufen. Die russische Revolution geriet in die Isolation und die Frage, des Überlebens einer isolierten proletarischen Bastion wurde zum ersten Mal in der Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt. Mit der Frage des Niedergangs der russischen Revolution und welche Bedeutung das für uns heute hat, werden wir uns im nächsten Kapitel befassen.
Zum Weiterlesen:
Spontanität und Organisation in der russischen Februarrevolution 1917: leftcom.org
Am Vorabend der Revolution: Die Debatte zwischen Lenin und Rosa Luxemburg: leftcom.org
Die Ära der Sozialdemokratie und der Kampf gegen den Revisionismus: leftcom.org
Marx, Engels und die Frage der proletarischen Organisation: leftcom.org
Die Entwicklung proletarischen Klassenbewusstseins: leftcom.org
Idealismus und bürgerlicher Materialismus: leftcom.org
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