War Games: Die Ukraine im Fokus der imperialistischen Konflikte

Der Konflikt zwischen den NATO-Staaten und Russland spitzt sich gefährlich zu. Im Folgenden veröffentlichen wir einen älteren, leicht redigierten Text aus dem Jahr 2014, der die Hintergründe des aktuellen Konflikts und die imperialistischen Ambitionen der gegenwärtigen Akteure beleuchtet.

Welt­weit über­schla­gen sich die Er­eig­nis­se. In­ner­halb we­ni­ger Tage hat sich der Macht­kampf in der Ukrai­ne zu einem bri­san­ten in­ter­na­tio­na­len Kon­flikt ent­wi­ckelt. Die Welt steht vor einer der größ­ten und ris­kan­tes­ten geo­po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen seit dem Ende des Kal­ten Krie­ges. Hun­dert Jahre nach Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs, der sog. „Ur­ka­ta­stro­phe des 20. Jahr­hun­derts“ deu­tet vie­les dar­auf hin, dass das „Great Game“ der Groß­mäch­te um Macht-​und Ein­fluss­zo­nen aber­mals in einer ver­häng­nis­vol­len Dy­na­mik mün­det.

Die Ukrai­ne: Arm und hart um­kämpft

Auf­grund ihrer geo­stra­te­gi­schen Lage war die mul­ti­eth­nisch ge­präg­te Ukrai­ne schon immer ein von den Groß­mäch­ten hef­tig um­kämpf­tes Ter­ri­to­ri­um. Als Schau­platz des Ers­ten und Zwei­ten Welt­krie­ges blickt das Land auf eine leid­vol­le Ge­schich­te zu­rück. Die der­zeit zu­ta­ge tre­ten­den re­gio­na­len und so­zio­kul­tu­rel­len Un­ter­schie­de haben tiefe Wur­zeln. Mit dem Zu­sam­men­bruch des Ost­blocks rück­te das Land wie­der ver­stärkt in den Fokus im­pe­ria­lis­ti­scher Macht­po­li­tik. Die Frage der wirt­schaft­li­chen und po­li­ti­schen Aus­rich­tung der Ukrai­ne bekam eine neue Bri­sanz. Vor­der­grün­ding voll­zog sich der „Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess zur De­mo­kra­tie“ in der Ukrai­ne wie über­all in Ost­eu­ro­pa: Alte und neue Eli­ten aus dem Staats-​und Par­tei­ap­pa­rat ris­sen sich die Fi­let­stü­cke der Wirt­schaft unter den Nagel, steck­ten un­ter­ein­an­der ihre Claims ab und schu­fen ein aus­ge­klü­gel­tes Sys­tem der Vet­tern­wirt­schaft und Kor­rup­ti­on.

Diese Wen­de­jah­re waren von einem ra­san­ten in­dus­tri­el­len Ver­fall ge­prägt. Das BIP brach um 60% ein. Erst 1999 konn­te wie­der der Stand von 1989 er­reicht wer­den. In den Jah­ren 2000 bis 2007 kam es zu einer kur­zen wirt­schaft­li­chen Er­ho­lungs­pha­se. Doch die da­mals er­ziel­ten Wachs­tums­ra­ten von ca. 7 % ba­sier­ten maß­geb­lich auf dem da­ma­li­gen Roh­stoff­boom im All­ge­mei­nen und den ge­stie­ge­nen Welt­markt­prei­sen für Stahl (dem wich­tigs­ten Ex­port­gut der Ukrai­ne) im Be­son­de­ren. Mit dem Plat­zen der Spe­ku­la­ti­ons­bla­se 2007/2008 war der von Li­be­ra­len wie Na­tio­na­lis­ten ge­heg­te Traum einer wirt­schaft­li­chen Sou­ve­rä­ni­tät der Ukrai­ne aus­ge­träumt. Die Krise traf das Land mit vol­ler Härte. Die In­fla­ti­on stieg von 12,8% (2007) auf 25,2% (2008) an, wäh­rend die In­dus­trie­pro­duk­ti­on um 34% ein­brach und die Staats­ver­schul­dung as­tro­no­mi­sche Höhen an­nahm. Nur durch mil­li­ar­den­schwe­re, an ra­di­ka­le Spar­auf­la­gen ge­kop­pel­te Kre­di­te des IWF konn­te der to­ta­le öko­no­mi­sche Zu­sam­men­bruch des Lan­des vor­erst ver­hin­dert wer­den. Die Rech­nung zahl­te wie über­all die Ar­bei­terInnen­klas­se.

Heute leben über 30% der Be­völ­ke­rung von Ein­kom­men un­ter­halb des Exis­tenz­mi­ni­mums. Be­son­ders hart trifft es die Alten. 80% der Rent­nerInnen müs­sen mit der Min­dest­ren­te von 81 Euro über die Run­den kom­men, was sprich­wört­lich weder zum Leben noch zum Ster­ben reicht. Die Ukrai­ne ist ein aus­ge­spro­che­nes Nied­rig­lohn­land und ge­ra­de des­halb für aus­län­di­sche In­ves­to­ren als ver­län­ger­te Werk­bank in­ter­es­sant. Mit einem Durch­schnitts­lohn von knapp 300 Euro und einem Min­dest­lohn von ca. 110 Euro ist das Lohn­ni­veau drei­mal nied­ri­ger als in Polen. Die der­zeit von der EU zur Dis­po­si­ti­on ge­stell­ten Sub­ven­tio­nen für Miet- und En­er­gie­kos­ten stel­len ge­wis­ser­ma­ßen die letz­te Bar­rie­re gegen die to­ta­le Ver­ar­mung von Mil­lio­nen Men­schen dar. Dazu kommt ein deut­li­ches Lohn-​und Ein­kom­mens­ge­fäl­le zwi­schen Stadt und Land und den un­ter­schied­li­chen Re­gio­nen des Lan­des. Be­son­ders schwer fällt hier die Kluft zwi­schen dem über­wie­gend land­wirt­schaft­lich ge­präg­ten Wes­ten und dem in­dus­tria­li­sier­ten Osten des Lan­des (wie bspw. die Re­gi­on Do­nezk) ins Ge­wicht. All dies för­dert re­gio­na­lis­ti­sche Ten­den­zen, ver­schärft oh­ne­hin schon tra­dier­te so­zio­öko­no­mi­sche Un­ter­schei­de und ver­tieft Spal­tungs­li­ni­en in der Ar­bei­ter­Innenklas­se.

Der zu­neh­men­den Ver­ar­mung und Ver­elen­dung der Be­völ­ke­rung ste­hen der Reich­tum und die un­be­schränk­te Macht der Olig­ar­chen ge­gen­über. Die mäch­tigs­ten 50 Olig­ar­chen kon­trol­lie­ren über zwei Drit­tel des Reich­tums. Ein Groß­teil die­ser Ver­mö­gen ist in Steu­er­oa­sen im Aus­land ge­parkt. Doch ohne die Clans der Olig­ar­chen läuft in der ukrai­ni­schen Po­li­tik so gut wie nichts. Sie haben es von jeher ver­stan­den, ihre In­ter­es­sen ge­gen­über der über­gro­ßen Mehr­heit der Be­völ­ke­rung zu be­haup­ten und durch­zu­set­zen. In der Frage der au­ßen­po­li­ti­schen Aus­rich­tung gin­gen die Mei­nun­gen je­doch je nach Ge­schäfts­in­ter­es­se aus­ein­an­der. Wäh­rend die im En­er­gie­sek­tor tä­ti­gen Olig­ar­chen auf Russ­land setz­ten, ver­spra­chen sich an­de­re durch eine An­bin­dung an die EU satte Ge­win­ne. Diese Aus­ein­an­der­set­zun­gen unter den Clans haben in den letz­ten Jah­ren das po­li­ti­sche Ge­sche­hen in der Ukrai­ne maß­geb­lich be­stimmt, zu den un­ter­schied­lichs­ten Re­gie­rungs­bil­dun­gen und wach­sen­der po­li­ti­scher In­sta­bi­li­tät ge­führt.

Zwi­schen Brüs­sel und Mos­kau: Der Ei­er­tanz des Ja­nu­ko­witsch

Eine Zeit­lang sah es so aus, als ob der mitt­ler­wei­le ge­schass­te Prä­si­dent Ja­nu­ko­witsch diese di­ver­gie­ren­den In­ter­es­sen der Olig­ar­chen zu­min­dest de­ckeln konn­te. Ja­nu­ko­witsch wird gerne als be­son­ders russ­land­freund­lich por­trä­tiert. Das ist je­doch nur in­so­weit rich­tig, als dass der ge­lern­te Klein­kri­mi­nel­le Ja­nu­ko­witsch ein po­li­ti­sches Ge­schöpf des eher Russ­land zu­ge­neig­ten Olig­ar­chen Rinat Ach­me­tow war. Au­ßen­po­li­tisch be­müh­te sich Ja­nu­ko­witsch stets um eine Po­li­tik des Spa­gats zwi­schen der EU und Mos­kau. Da­hin­ter stand das Kal­kül, aus der geo­stra­te­gi­sche Lage der Ukrai­ne als wich­tigs­te Trans­por­t­rou­te für die Öl- und Erd­gas­lie­fe­rung von Ost nach West in Ka­pi­tal schla­gen zu kön­nen.

Eine Po­li­tik, die letzt­end­lich schei­ter­te bzw. schei­tern muss­te. Das La­vie­ren zwi­schen dem As­so­zie­rungs­ab­kom­men mit der EU ei­ner­seits und der Neu­ver­hand­lung der Gas­ver­trä­ge mit Russ­land an­de­rer­seits er­höh­te lang­fris­tig nur den Druck von bei­den Sei­ten. Wäh­rend Russ­land mit dem Zu­dre­hen des Gas­hahns droh­te und zeit­wei­se einen re­gel­rech­ten Han­dels­krieg gegen die Ukrai­ne führ­te, poch­te die EU auf die ri­gi­de Um­set­zung der Auf­la­gen der Ret­tungs­kre­di­te des IWF. Dazu ge­hör­te u.a. die For­de­rung eines Ein­frie­rens der Löhne, der Abbau der Strom­sub­ven­tio­nen, dras­ti­sche Kür­zun­gen der öf­fent­li­chen Aus­ga­ben sowie die Er­hö­hung der Gas-​und En­er­gie­prei­se um 40%. For­de­run­gen also, die in einem oh­ne­hin ver­arm­ten Land wie der Ukrai­ne auf die Ver­elen­dung von Mil­lio­nen Men­schen hin­aus­lau­fen wür­den. Ja­nu­ko­witsch war und ist alles an­de­re als ein Men­schen­freund. Wäh­rend sei­ner Amts­zeit kam es zu einer Reihe ein­schnei­den­der so­zia­ler An­grif­fe. Den­noch sah er sich nicht in der Lage, das von der EU ge­for­der­te Kür­zungs­pro­gramm in die­sem Aus­maß in­nen­po­li­tisch durch­zu­set­zen und ge­riet folg­lich in eine immer ver­zwick­te­re Po­si­ti­on. Wäh­rend sich die Aus­lands­schul­den auf 75 Mil­li­ar­den ver­dop­pel­ten, schmol­zen die Gold­re­ser­ven der Ukrai­ne von 37 auf 15 Mil­li­ar­den zu­sam­men.

Die Po­si­ti­on eines wirt­schaft­lich über­le­bens­fä­hi­gen Puf­fer­staa­tes zwi­schen Russ­land und der EU ließ sich immer we­ni­ger auf­recht­er­hal­ten. Dies war der Mo­ment, in dem Putin eine ge­schick­te Wende voll­zog und der Ukrai­ne drin­gend be­nö­ti­ge Kre­di­te und güns­ti­ge Gas­lie­fe­run­gen in Aus­sicht stell­te. Mit der Auf­kün­di­gung des EU-​As­so­zi­ie­rungs­ab­kom­mens durch die Ja­nu­ko­witsch-​Re­gie­rung hatte Mos­kau einen wich­ti­gen Punkt­sieg er­run­gen. Doch die Ant­wort aus Brüs­sel, Ber­lin und Wa­shing­ton ließ nicht lange auf sich war­ten.

Der Mai­dan

Durch das bru­ta­le Vor­ge­hen der Po­li­zei be­ka­men die an­fangs recht un­spek­ta­ku­lä­ren Pro­tes­te gegen die Auf­kün­di­gung des EU-​As­so­zi­ie­rungs­ab­kom­mens eine be­son­de­re Dy­na­mik. Em­pö­rung über die Re­pres­si­on, so­zia­le Un­zu­frie­den­heit und weit­ver­brei­te­tes Miss­trau­en gegen die kor­rup­ten po­li­ti­schen Eli­ten bün­del­ten sich in einer brei­ten ge­sell­schaft­li­chen Pro­test­be­we­gung.

Das Pa­ra­do­xe war je­doch, dass sich ge­ra­de diese Ele­men­te auf dem Mai­dan nicht in An­sät­zen po­li­tisch ar­ti­ku­lier­ten bzw. ar­ti­ku­lie­ren konn­ten. So­zia­le For­de­run­gen spiel­ten in der Be­we­gung so gut wie keine Rolle. Eben­so wenig griff die Ar­bei­terInnen­klas­se als ei­gen­stän­di­ge und or­ga­ni­sier­te Kraft in das Ge­sche­hen ein. Statt­des­sen be­herrsch­ten die Ver­tre­ter der pro­west­li­chen Op­po­si­ti­ons­par­tei­en die po­li­ti­sche Bühne. Sie konn­ten dabei auf die mas­si­ve fi­nan­zi­el­le Un­ter­stüt­zung sei­tens der EU und der USA bauen. Nach An­ga­ben der US-​Staats­se­kre­tä­rin Nu­land soll die US-​Re­gie­rung seit 1991 rund 5 Mil­li­ar­den Dol­lar für eine „wohl­ha­ben­de und de­mo­kra­ti­sche Ukrai­ne“ in­ves­tiert haben, um so die Vor­aus­set­zun­gen für eine An­bin­dung des Lan­des an die EU zu schaf­fen.(1) Ver­gleich­ba­re Aus­ga­ben der EU sind in Zah­len bis­her nicht be­kannt. Durch die me­di­en­wirk­sa­men So­li­da­ri­täts­be­su­che hoch­ran­gi­ger EU-​Ver­tre­ter und Po­li­ti­ker wie bspw. den US-​Se­na­tor John Mc­Cain, der EU- Au­ßen­be­auf­trag­ten Ca­the­ri­ne Ash­ton oder den deut­schen Eu­ro­pa­po­li­ti­kern Elmar Brok (CDU) und Re­bec­ca Harms (Grüne) bekam das Ganze eine in­ter­na­tio­na­le, ja geo­po­li­ti­sche Di­men­si­on. Da­durch spitz­te sich die Es­ka­la­ti­on auf dem Mai­dan kon­ti­nu­ier­lich zu.

Dies führt uns zu einem wei­te­ren be­stim­men­den Mo­ment auf dem Mai­dan: Dem mas­si­ven Auf­tre­ten fa­schis­ti­scher Kräf­te wie der Par­tei „Swo­bo­da“ und den pa­ra­mi­li­tä­risch or­ga­ni­sier­ten Grup­pen des „Rech­ten Sek­tors“. Ihr Auf­tre­ten ba­sier­te auf einer lan­gen und sys­te­ma­ti­schen Vor­ar­beit. Ge­ra­de in der Ukrai­ne fan­den und fin­den die Fa­schis­ten einen güns­ti­gen Nähr­bo­den um aus der so­zia­len Mi­se­re, der Frus­tra­ti­on und Per­spek­tiv­lo­sig­keit Ka­pi­tal zu schla­gen. Die Rechts­ver­schie­bung der po­li­ti­schen Dis­kur­se, die Re­ha­bi­li­tie­rung und Ver­klä­rung des ukrai­ni­schen Fa­schis­ten­füh­rers Ste­pan Ban­de­ra, der von der „oran­ge­nen“ Re­gie­rung des Prä­si­den­ten Juscht­schen­ko am 22. Ja­nu­ar 2010 post­hum sogar den Eh­ren­ti­tel „Held der Ukrai­ne“ ver­lie­hen bekam, bot den Fa­schis­ten zu­sätz­li­che An­knüp­fungs­punk­te. Rech­te und ul­tra­na­tio­na­lis­ti­sche Po­si­tio­nen sind im po­li­ti­schen Es­ta­blish­ment der Ukrai­ne weit ver­brei­tet. Es kommt nicht von un­ge­fähr, dass die von der CDU-​na­hen Kon­rad Ade­nau­er Stif­tung auf­ge­bau­te und fi­nan­zier­te Par­tei des Bo­xers Vi­ta­li Klitsch­ko, UDAR, kein Pro­blem damit hat, ein of­fi­zi­el­les Bünd­nis mit der fa­schis­ti­schen „Swo­bo­da“ ein­zu­ge­hen. Doch die Fa­schis­ten hat­ten nicht nur po­li­ti­schen Rü­cken­wind, son­dern vor allem eine gut-​or­ga­ni­sier­te und fi­nan­zi­el­le In­fra­struk­tur. So war es ihnen mög­lich, ihren An­hän­gern Bus­fahr­ten und Ta­ges­gel­der zu zah­len, miss­lie­bi­ge Grup­pen ein­zu­schüch­tern und zu ver­trei­ben und sich mit ihren im Stra­ßen­kampf er­fah­re­ne­ren Schlä­ger­trupps als „Be­schüt­zer“ der Be­we­gung gegen die Po­li­zei­kräf­te auf­zu­spie­len.

Mit den To­des­schüs­sen auf dem Mai­dan wurde eine Es­ka­la­ti­ons­stu­fe er­reicht, die letzt­lich einen Wen­de­punkt ein­lei­te­te. Es ist bis heute un­klar, wer genau hin­ter den Schüs­sen steckt. Fak­tisch wurde je­doch zu die­sem Zeit­punkt immer deut­li­cher, dass Ja­nu­ko­witsch nicht mehr in der Lage war, die Si­tua­ti­on in den Griff zu be­kom­men. Damit war er für die ihn un­ter­stüt­zen­den Olig­ar­chen immer we­ni­ger von Nut­zen. In dem Maße, wie diese von ihm ab­rück­ten, star­te­te die EU und allen voran die deut­sche Re­gie­rung, di­plo­ma­ti­sche Of­fen­si­ven, um unter dem Vor­wand der „po­li­ti­schen Dee­s­ka­la­ti­on“ aus der Si­tua­ti­on Ka­pi­tal zu schla­gen.

Olig­ar­chen, Fa­schis­ten und faule Oran­gen: Eine Rada von Mer­kels Gna­den

Er­geb­nis die­ser Be­mü­hun­gen war die Bil­dung der sog. „Über­gangs­re­gie­rung“ unter Ar­se­n­i­ij Ja­zen­uk, einem Ge­folgs­mann der mil­lio­nen­schwe­ren Olig­ar­chin Ju­li­ja Ti­mo­schen­ko. In­nen­po­li­tisch war die Re­gie­rungs­um­bil­dung Aus­druck einer ge­ring­fü­gi­gen Neu­ver­mes­sung im kom­ple­xen Macht­ge­fü­ge der Olig­ar­chen. Zu den zen­tra­len Strip­pen­zie­hern ge­hö­ren nun neben der „Gas­prin­zes­sin“ Ju­li­ja Ti­mo­schen­ko, der Stahl­ma­gnat Ser­gej Ta­ru­ta, der Scho­ko­la­den­kö­nig Petro Po­ro­schen­ko, der Me­dien­mo­gul Wik­tor Pin­chuk sowie Igor Ko­lo­mois­ky, der ge­mein­sam mit Gen­na­diy Bo­go­lyu­bow die größ­te Bank des Lan­des kon­trol­liert und mit einem ge­schätz­ten Ver­mö­gen von 6,5 Mil­li­ar­den Dol­lar als viertreichs­ter Ukrai­ner gilt. Auch Rinat Ach­me­tow, der mit 11 Mil­li­ar­den Dol­lar einer der reichs­ten Män­ner der Ukrai­ne ist und die Hälf­te der Stahl­pro­duk­ti­on, der Koh­le­för­de­rung sowie der Strom­er­zeu­gung kon­trol­liert, mach­te eine schnel­le Kehrt­wen­de: „Die An­wen­dung von Ge­walt und Ge­setz­lo­sig­keit von außen sind in­ak­zep­ta­bel“, ließ Ach­me­tow er­klä­ren. Sein Kon­glo­me­rat „mit 300.​000 Be­schäf­tig­ten, das die Ukrai­ne von Wes­ten nach Osten und von Nor­den nach Süden re­prä­sen­tiert“, werde alles dafür tun, die In­te­gri­tät des Lan­des auf­recht­zu­er­hal­ten.(2) Hier mach­te sich of­fen­kun­dig be­zahlt, dass die EU von Sank­tio­nen gegen ihn ab­ge­se­hen hatte.

Die Tat­sa­che, dass zum ers­ten Mal seit 1945 of­fe­ne Fa­schis­ten in einer von der EU an­er­kann­ten und pro­te­gier­ten Re­gie­rung sit­zen, ist je­doch von neuer Qua­li­tät. Durch ihr mas­si­ves Auf­tre­ten auf dem Mai­dan sind die Fa­schis­ten zu einer be­stim­men­den po­li­ti­schen Kraft in der Ukrai­ne ge­wor­den. Sie stel­len meh­re­re Mi­nis­ter und kon­trol­lie­ren wich­ti­ge Teile des Staats –und Si­cher­heits­ap­pa­ra­tes. Das er­mu­tig­te ihr Fuß­volk, ge­walt­sam gegen miss­lie­bi­ge po­li­ti­sche Kräf­te vor­zu­ge­hen und eine re­gel­rech­te Po­grom­stim­mung zu schaf­fen. In die­sem Klima der Angst muss­ten jü­di­sche Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen Not­hil­fen für die in der Ukrai­ne le­ben­den Jü­din­nen und Juden ins Leben ge­ru­fen.(3) Ei­ni­ge Rab­bi­ner rie­fen ihre Ge­mein­den zur Flucht aus Kiew auf.(4) Neben dem Ver­bot des Rus­si­schen als zwei­te Amts­spra­che brach­ten die Fa­schis­ten in der Rada eine Ge­set­zes­in­itia­ti­ve ein, die auf die Ab­schaf­fung eines Ar­ti­kels des ukrai­ni­schen Straf­ge­setz­bu­ches ab­zielt, der die Leug­nung der Ver­bre­chen des Fa­schis­mus unter Stra­fe stellt.

All diese Maß­nah­men haben die rus­sisch­spra­chi­gen Lan­des­tei­le der Ost­ukrai­ne in Auf­re­gung und Alarm­stim­mung ver­setzt. Ganz un­be­grün­det sind diese Ängs­te nicht. Die 1991 als „So­zi­al-​Na­tio­na­le Par­tei“ ge­grün­de­te „Swo­bo­da“ mach­te aus ihren An­sich­ten nie­mals einen Hehl. Zu ihren zen­tra­len Zie­len ge­hört das Pro­jekt einer „eth­nisch rei­nen Großu­krai­ne“, die Ab­schaf­fung der Au­to­no­mie bzw. Ein­glie­de­rung der Krim in den ukrai­ni­schen Staat, die „Li­qui­die­rung bol­sche­wis­ti­scher Sym­bo­lik“, der Bei­tritt der Ukrai­ne zur NATO und der Sta­tus der Ukrai­ne als Atom­macht. „Um eine wirk­lich ukrai­ni­sche Ukrai­ne in den Städ­ten im Osten und Süden zu schaf­fen… wer­den wir den Par­la­men­ta­ris­mus aus­set­zen müs­sen, alle Par­tei­en ver­bie­ten, die ge­sam­te In­dus­trie und alle Me­di­en ver­staat­li­chen und den Im­port sämt­li­cher Li­te­ra­tur aus Russ­land in die Ukrai­ne ver­bie­ten… Die Spit­zen aller Be­hör­den des öf­fent­li­chen Diens­tes, des Bil­dungs­we­sens, des Mi­li­tär (vor allem im Osten) müs­sen kom­plett aus­ge­wech­selt wer­den, alle rus­sisch­spra­chi­gen In­tel­lek­tu­el­len und alle Ukrai­no­pho­ben müs­sen phy­sisch li­qui­diert wer­den (schnell und ohne Pro­zess er­schie­ßen! Jedes Mit­glied von Svo­bo­da kann Ukrai­no­pho­be mel­den), alle Mit­glie­der der an­ti-​ukrai­ni­schen Par­tei­en müs­sen hin­ge­rich­tet wer­den …“ hieß es in einer 2010 ver­öf­fent­lich­ten Bei­trag in einem of­fi­zi­el­len Forum der Par­tei.(5)

Neben der Ver­eh­rung des Fa­schis­ten­füh­rers Ste­pan Ban­de­ra zei­gen sich füh­ren­de Par­tei­mit­glie­der auch gerne mal in SS-​Uni­form.(6) Im April 2013 führ­te die „Swo­bo­da“ in Lwiw einen Marsch zum Ge­den­ken an die SS Di­vi­si­on Ga­li­zi­en durch. Im An­schluss wur­den in der Lwi­wer Stadt­hal­le ehe­ma­li­gen SS-​Män­nern Me­dail­len ver­lie­hen. Für den EU- Bot­schaf­ter in der Ukrai­ne, Jan Tom­bin­ski, ist die Par­tei den­noch ein „gleich­wer­ti­gen Part­ner für Ge­sprä­che mit der EU“.(7) Auch die deut­sche Bun­des­re­gie­rung hat mit der „Swo­bo­da“ keine Be­rüh­rungs­ängs­te. „Svo­bo­da“ sei eine rechts­po­pu­lis­ti­sche und na­tio­na­lis­ti­sche Par­tei, die zum Teil rechts­ex­tre­me Po­si­tio­nen ver­tre­te, aber in ihrer par­la­men­ta­ri­schen Ar­beit keine of­fen­sicht­li­chen rechts­ex­tre­men Ten­den­zen er­ken­nen lasse, teil­te sie auf eine par­la­men­ta­ri­sche An­fra­ge mit.(8)

Ähn­lich äu­ßer­te sich Elmar Brok, Vor­sit­zen­der des Aus­schus­ses für Aus­wär­ti­ge An­ge­le­gen­hei­ten des Eu­ro­päi­schen Par­la­ments.(9) Die „Swo­bo­da“ sei nicht die Par­tei, die er liebe, die aber im­mer­hin den Sturz Ja­nu­ko­witschs mög­lich ge­macht habe, er­klär­te der CDU-​Po­li­ti­ker, der sel­ber tat­kräf­tig auf der Bühne des Mai­dan mit­misch­te, ge­gen­über dem Nach­rich­ten­ma­ga­zin Pan­ora­ma. „So­lan­ge ge­währ­leis­tet ist, dass sich diese Par­tei für Rechts­staat­lich­keit ein­setzt und die De­mo­kra­tie in der Ukrai­ne mög­lich macht“, sei alles in Ord­nung. „Das ist, glau­be ich, das Ent­schei­den­de, nicht Sprü­che der Ver­gan­gen­heit.“(10)

Vor dem Hin­ter­grund der im Ja­nu­ar die­ses Jah­res von Bun­des­prä­si­dent Gauck pro­kla­mier­ten Kurs­kor­rek­tur zu einer „ent­schlos­se­ne­ren Au­ßen­po­li­tik“ war die deut­sche Me­dien­land­schaft an­ge­sichts der in Kiew exe­ku­tier­ten „Of­fen­si­ve der deut­schen Di­plo­ma­tievoll des Lobes. „Die Bun­des­re­pu­blik sei in Ge­stalt des Au­ßen­mi­nis­ters Frank-​Wal­ter Stein­mei­er ihrerFüh­rungs­rol­le in Eu­ro­pa nach­ge­kom­men“ _ju­bel­te das kon­ser­va­ti­ve Leit­or­gan FAZ. Ohne die „be­harr­li­che Über­zeu­gungs­ar­beit der Au­ßen­mi­nis­ter Deutsch­lands, Frank­reichs und Po­lens“ wäre „die Ukrai­ne dem Ab­grund des of­fe­nen Bür­ger­krie­ges immer näher ge­kom­men. Das kön­nen sich auch die Ame­ri­ka­ner mer­ken.“(11) Für diesebe­harr­li­che Über­zeu­gungs­ar­beit“ gab und gibt es nach Aus­kunft des Aus­wär­ti­gen Amtes gute stra­te­gi­sche Be­weg­grün­de: „Die Ukrai­ne weist eine Reihe von Stand­ort­vor­tei­len auf: einen mit rund 45,6 Mil­lio­nen Ein­woh­nern re­la­tiv gro­ßen Bin­nen­markt, ei­ni­ge hoch ent­wi­ckel­te Ni­schen­sek­to­ren, wie Flug­zeug-​ und Ra­ke­ten­bau, die geo­gra­phi­sche Nähe zu den Ab­satz­märk­ten in der EU und in Ost­eu­ro­pa, einen hohen Nach­hol­be­darf bei Kon­sum und Mo­der­ni­sie­rungs­in­ves­ti­tio­nen, gute na­tür­li­che Vor­aus­set­zun­gen für die Land­wirt­schaft sowie ein ver­gleichs­wei­se nied­ri­ges Lohn­ni­veau bei grund­sätz­lich hohem Aus­bil­dungs­stand.“(12)

Un­ver­blüm­ter und auch für den letz­ten Dep­pen klar ver­ständ­lich, brach­te das On­lin­e­por­tal der „Ta­ges­schau“ die deut­schen In­ter­es­sen auf den Punkt: Die Ukrai­ne sei für Russ­land und die EU auch „von mi­li­tä­ri­schem In­ter­es­se“, da auf „der Krim die rus­si­sche Schwarz­meer­flot­te vor Anker“ liege. Als zweit­größ­ter Flä­chen­staat nach Russ­land sei sie die „Korn­kam­mer“ Eu­ro­pas und zudem ein „wich­ti­ger Mo­sa­ik­stein im rus­si­schen Pro­jekt einer Eu­ra­si­schen Union.“ Durch eine An­bin­dung der Ukrai­ne im Rah­men des ge­plan­ten Frei­han­dels­ab­kom­mens könn­ten die Eu­ro­pä­er je­dochihre Ab­satz­märk­te er­wei­tern und leich­te­ren Zu­griff auf die Roh­stof­fe und Bo­den­schät­ze der Ukrai­ne ge­win­nen.“(13)

Das weckt Er­in­ne­run­gen an tra­dier­te deut­sche Ex­pan­si­ons­stra­te­gi­en. Am, aus heu­ti­ger Sicht durch­aus ori­gi­nel­len Bei­spiel einer Oran­ge, er­läu­ter­te der da­ma­li­ge Vor­den­ker des Aus­wär­ti­gen Amts, Paul Rohr­bach (1869-​1956), die Ziele der wäh­rend des Ers­ten Welt­krie­ges gegen Russ­land ge­rich­te­ten „Ost­po­li­tik“ fol­gen­der­ma­ßen: “Wie diese Frucht aus ein­zel­nen leicht von­ein­an­der lös­ba­ren Tei­len be­steht, so das rus­si­sche Reich aus sei­nen ver­schie­de­nen Ge­biets­tei­len: bal­ti­sche Pro­vin­zen, Ukrai­ne, Polen usw.” Wenn es ge­län­ge, diese Ge­biets­tei­le „von­ein­an­der ab­zu­lö­sen und ihnen eine ge­wis­se Au­to­no­mie zu geben”, werde es “ein leich­tes sein, dem rus­si­schen Groß­rei­che ein Ende zu be­rei­ten”.(14)

Al­ler­dings haben der­ar­ti­ge „De­kom­po­si­ti­ons­theo­ri­en“ heute einen ge­hö­ri­gen Haken. Das her­aus­ge­lös­te Oran­gen­stück ist reich­lich faul. Die Ukrai­ne ist wirt­schaft­lich aus­ge­laugt und steht fak­tisch vor dem Staats­bank­rott. Somit er­weist sich das Ex­pan­si­ons­drang nach Osten als glei­cher­ma­ßen ris­kan­tes und kost­spie­li­ges Pro­jekt. Zudem wird sich erst noch er­wei­sen müs­sen, ob die „eu­ro­päi­sche Füh­rungs­macht“ Deutsch­land nicht mit Zi­tro­nen ge­han­delt hat, als sie den Kon­flikt mit Russ­land auf neuer Stu­fen­lei­ter in Gang setz­te.

Der Kampf um Eu­ra­si­en – die heiße Phase des Great Game

Die Kos­tü­mie­rung der di­ver­sen „Selbst­ver­tei­di­gungs­kräf­te“ und Ko­sa­ken­ver­bän­de, die Mos­kau auf der Krim in Ak­ti­on setz­te, mag mehr oder we­ni­ger ori­gi­nell sein, doch es be­durf­te wenig Im­pro­vi­sa­ti­on, um in den süd­öst­li­chen Re­gio­nen der Ukrai­ne zum Ge­gen­schlag aus­zu­ho­len. Die Er­eig­nis­se in Kiew haben die Span­nun­gen und se­pa­ra­tis­ti­schen Be­stre­bun­gen zum Ko­chen ge­bracht. Mit einem dif­fu­sen Pro­pa­gan­da­ge­misch aus „an­ti­fa­schis­ti­schen“ Flos­keln, So­wjet­nost­al­gie und groß­rus­si­schen Na­tio­na­lis­mus ver­sucht Mos­kau diese Stim­mung wei­ter an­zu­hei­zen, und zur Of­fen­si­ve über­zu­ge­hen. Ge­ra­de die Krim hat in Russ­land hohen na­tio­na­lis­ti­schen Sym­bol­wert und ist zudem von gro­ßem stra­te­gi­schem In­ter­es­se. Der Ver­lust der Krim und des Flot­ten­stütz­punk­tes Se­was­to­pol würde Russ­lands Be­we­gungs­spiel­raum im Mit­tel­meer­raum und der Kau­ka­sus­re­gi­on ent­schei­dend be­gren­zen. Be­reits 2008, wäh­rend des Ge­or­gi­en­krie­ges, war die Krim Ge­gen­stand hef­ti­ger Aus­ein­an­der­set­zun­gen, als der da­ma­li­ge pro­west­lich ori­en­tier­te ukrai­ni­sche Prä­si­dent Juscht­schen­ko damit droh­te, den Sta­tio­nie­rungs­ver­trag der rus­si­schen Schwarz­meer­flot­te nicht mehr zu ver­län­gern.

Doch es geht um weit­aus mehr als die Krim. Die der­zei­ti­ge Krise ist le­dig­lich der Kul­mi­na­ti­ons­punkt einer lan­gen Reihe in­nerim­pe­ria­lis­ti­scher Kon­flik­te. „Uns sei be­wusst, dass die Zu­ge­hö­rig­keit eines ver­ein­ten Deutsch­lands zur Nato kom­pli­zier­te Fra­gen auf­wer­fe. Für uns stehe aber fest: Die Nato werde sich nicht nach Osten aus­deh­nen. (…) Was im Üb­ri­gen die Nicht­aus­deh­nung der Nato an­be­tref­fe, so gelte die­ses ganz ge­ne­rell“, soll der da­ma­li­ge deut­sche Au­ßen­mi­nis­ter Gen­scher laut einer lange ge­heim ge­hal­te­nen Pro­to­koll­no­tiz am 10. Fe­bru­ar 1990 ge­gen­über dem da­ma­li­gen so­wje­ti­schen Un­ter­händ­ler Sche­ward­nad­se am Rande Ver­hand­lung der „Zwei-​plus-​Vier-​Ver­trä­ge“ ver­si­chert haben.(15)

Fak­tisch trat je­doch das Ge­gen­teil ein. Sys­te­ma­tisch wurde die Na­to-​Ost­erwei­te­rung vor­an­ge­trie­ben. 1999 wur­den Polen, Tsche­chi­en und Un­garn in die NATO auf­ge­nom­men. Fünf Jahre spä­ter folg­ten die bal­ti­schen Re­pu­bli­ken Li­tau­en, Lett­land und Est­land sowie Bul­ga­ri­en, Ru­mä­ni­en, die Slo­wa­kei und Slo­we­ni­en. 2009 schlos­sen sich Al­ba­ni­en und Kroa­ti­en dem west­li­chen Mi­li­tär­bünd­nis an. Die Pläne eines US-​Ra­ke­ten­ab­wehr­schirms in Eu­ro­pa, die Krie­ge im Irak, der Kon­flikt um Sy­ri­en und die far­ben­fro­hen Re­vo­lu­ti­ons­spek­ta­kel wie die „Ro­sen­re­vo­lu­ti­on“ 2003 in Ge­or­gi­en, die „Oran­ge­ne Re­vo­lu­ti­on“ 2004 in der Ukrai­ne und die „Tul­pen­re­vo­lu­ti­on“ in Kir­gi­si­en 2005 sorg­ten für zu­sätz­li­chen Kon­flikt­stoff. Russ­land re­agier­te auf diese Ein­krei­sung mit dem Pro­jekt einer „Eu­ra­si­schen Union“. Nach dem Vor­bild der EU sol­len nach den Plä­nen des Kreml Russ­land, Weiß­russ­land, Ar­me­ni­en, Ka­sachs­tan, Ta­dschi­kis­tan, Kir­gis­tan und die Ukrai­ne einen ge­mein­sa­men Wirt­schafts­block bil­den. Die ehe­ma­li­ge US-​Au­ßen­mi­nis­te­rin Hil­la­ry Clin­ton be­zeich­ne­te die­ses Pro­jekt nicht von un­ge­fähr als „Neu­er­schaf­fung der So­wjet­uni­on“.

Mit der „Eu­ra­si­schen Union“ würde zwi­schen China und der „west­li­chen Welt“ eine neue Kraft mit einer von Russ­land do­mi­nier­ten Si­cher­heit-​ und Mi­li­tär­po­li­tik ent­ste­hen. Nicht zu­letzt auf­grund der geo­stra­te­gi­schen Kon­trol­le wich­ti­ger Roh­stof­fe und En­er­gie­we­ge würde den USA und der EU ein kaum zu über­win­den­des Ge­gen­ge­wicht er­wach­sen. Be­reits in den Tsche­tsche­ni­en­krie­gen stell­te Mos­kau seine Ent­schlos­sen­heit unter Be­weis, seine Au­ßen­gren­zen in der stra­te­gisch wich­ti­gen Kau­ka­sus­re­gi­on mit aller Ge­walt zu ver­tei­di­gen. Im Zuge des Ge­or­gi­en­kriegs 2008 konn­ten den west­li­chen Am­bi­tio­nen eine deut­li­che Ab­fuhr er­teilt und auch im di­plo­ma­ti­schen Tau­zie­hen um Sy­ri­en ge­gen­über den USA wich­ti­ge Punkt­sie­ge er­zielt wer­den. In der Frage der Ukrai­ne, die in den Plä­nen einer zu­künf­ti­gen „Eu­ra­si­schen Union“ eine Schlüs­sel­rol­le spielt, geht es je­doch ums Ein­ge­mach­te. „Ohne die Ukrai­ne ist Russ­land kein eu­ra­si­sches Reich mehr“, er­klär­te die graue Emi­nenz der US-​Geo­po­li­tik, Zbi­gniew Brze­zin­ski, in sei­nem Buch „Die ein­zi­ge Welt­macht: Ame­ri­kas Stra­te­gie der Vor­herr­schaft“. Da al­lein „ihre bloße Exis­tenz als un­ab­hän­gi­ger Staat zur Um­wand­lung Russ­lands“ bei­tra­ge, sei die Ukrai­ne ein „geo­po­li­ti­scher Dreh-​und An­gel­punkt“ und ge­ra­de in der jet­zi­gen Si­tua­ti­on ein ent­schlos­se­nes Auf­tre­ten des Wes­tens ge­bo­ten. Um auf alle Fälle vor­be­rei­tet zu sein, müsse die Nato ihre Not­fall­plä­ne um­set­zen und stär­ke­re Trup­pen­kon­tin­gen­te in Mit­tel­eu­ro­pa sta­tio­nie­ren.(16)Wenn die EU eine ernst­haf­te Rolle in der Welt spie­len möch­te, dann kann sie in der Ukrai­ne damit an­fan­gen“, so Brze­zin­ki wei­ter.(17)

Die stra­te­gi­sche Ziel­set­zung die­ser Po­li­tik ließe sich auf eine ein­fa­che For­mel brin­gen: Wer Eu­ra­si­en be­herr­sche, be­herr­sche die Welt. Dazu müsse je­doch Russ­lands Ein­fluss zu­rück­ge­drängt und letzt­lich ge­bro­chen wer­den. Russ­land wird dem lo­gi­scher­wei­se nicht ta­ten­los zu­se­hen. Der Ver­lust der Ukrai­ne wäre ein ge­wal­ti­ger Rück­schlag der ei­ge­nen Groß­macht­am­bi­tio­nen. Mos­kau wird daher alle macht­po­li­ti­schen Mit­tel aus­nut­zen, um ent­we­der eine West­in­te­gra­ti­on samt Na­to-​Mit­glied­schaft gänz­lich zu ver­hin­dern und/oder neben der Krim wei­te­re Re­gio­nen der Süd- und Ost­ukrai­ne her­aus­zu­lö­sen.

Ziem­lich beste Freun­de: Die geo­po­li­ti­sche Kri­sen­dy­na­mik

In An­be­tracht die­ser har­ten Hal­tung Russ­lands tun sich mitt­ler­wei­le Risse zwi­schen der EU und den USA auf. Wäh­rend die USA und die ost­eu­ro­päi­schen Na­to-​Staa­ten Polen, Li­tau­en, Est­land und Lett­land auf ein schär­fe­res Vor­ge­hen gegen Russ­land po­chen, setzt die Bun­des­re­gie­rung auf eine mo­de­ra­te­re Linie. Das liegt auch – aber nicht nur – am deut­schen Be­stre­ben, „di­plo­ma­ti­sche Spiel­räu­me“ er­hal­ten und nut­zen zu wol­len. Die BRD be­zieht 40% ihres Erd­ga­ses und 35% ihres Erd­öls aus Russ­land. Das In­ves­ti­ti­ons­vo­lu­men deut­scher Un­ter­neh­men be­läuft sich auf 22 Mil­li­ar­den Dol­lar. Es steht also ei­ni­ges auf dem Spiel. Das Kal­kül, die West­ein­bin­dung der Ukrai­ne mög­lichst schnell und ge­räusch­los durch­zu­zie­hen, hat sich als fa­ta­ler Trug­schluss her­aus­ge­stellt. Des­we­gen ist man nun be­müht, die Kos­ten so ge­ring wie mög­lich zu hal­ten und in der Rolle des Ver­mitt­lers an po­li­ti­schen Ge­län­de­ge­win­nen zu ar­bei­ten. Gleich­zei­tig muss man sich je­doch an­ge­sichts der in Kiew selbst ge­schaf­fe­nen Fak­ten­la­ge ein­ge­ste­hen, dass man dem rus­si­schen Bär nicht das Fell wa­schen kann, ohne ihn nass zu ma­chen. „Stufe Drei war in mei­nen Ge­dan­ken immer ent­hal­ten. Der heu­ti­ge Tag hat die­sen Ent­schluss noch be­fes­tigt“, er­klär­te Bun­des­kanz­le­rin Mer­kel, nach­dem der EU-​Son­der­gip­fel am 6.3. zum ers­ten Mal seit Ende des Kal­ten Krie­ges wie­der einen mehr­stu­fi­gen Sank­ti­ons­plan gegen Mos­kau be­schlos­sen hatte.(18)

Den USA kön­nen die wirt­schafts­po­li­ti­schen Be­den­ken der EU und allen voran Deutsch­lands im der­zei­ti­gen Kon­flikt egal sein. Sie sind weder en­er­gie­po­li­tisch noch wirt­schaft­lich be­son­ders mit Russ­land ver­floch­ten und sehen nach den Rück­schlä­gen im Sy­ri­en­kon­flikt und den Ver­wer­fun­gen der NSA-​Af­fä­re die Chan­ce, ver­lo­re­nes Ter­rain wie­der wett­zu­ma­chen. Die Viel­stim­mig­keit und die fra­gi­le In­ter­es­sens­kon­stel­la­tio­nen der west­li­chen Staa­ten­ge­mein­schaft ma­chen die Si­tua­ti­on nicht un­ge­fähr­li­cher. Die Tat­sa­che, dass China kürz­lich den ei­ge­nen Mi­li­täre­tat um gi­gan­ti­sche 95 Mil­li­ar­den Euro auf­stock­te, zeugt von der Bri­sanz der der­zei­ti­gen geo­po­li­ti­schen Kri­sen­dy­na­mik.(19) Bis­her hat sich China im Ukrai­ne­kon­flikt eher mä­ßi­gend und zu­rück­hal­tend ge­äu­ßert. Lang­fris­tig ge­se­hen würde eine West­an­bin­dung der Ukrai­ne je­doch auch wich­ti­ge wirt­schaft­li­che und stra­te­gi­sche In­ter­es­sen Pe­kings be­rüh­ren. China hat in der Ukrai­ne mil­li­ar­den­schwe­re In­ves­ti­ti­ons­pro­jek­te ge­tä­tigt und ver­folgt im Rah­men der „Shang­hai Co­ope­ra­ti­on Or­ga­ni­sa­ti­on“ eine Po­li­tik der engen wirt­schaft­li­chen und mi­li­tä­ri­schen Ko­ope­ra­ti­on mit Russ­land, um so den Ein­fluss der USA in Zen­tral­asi­en zu­rück­zu­drän­gen. Daher ist nicht davon aus­zu­ge­hen, dass Pe­king im Falle einer wei­te­ren Zu­spit­zung des Kon­flikts eine neu­tra­le Rolle ein­neh­men wird.

Es gibt keine „rich­ti­ge Seite“ im im­pe­ria­lis­ti­schen Krieg

Das ge­gen­wär­ti­ge Ge­ran­gel um „Sank­tio­nen“, „di­plo­ma­ti­sche Lö­sun­gen“ und „mi­li­tä­ri­sche Re­ak­tio­nen“ läuft auf ein ge­fähr­li­ches Va­ban­que­spiel hin­aus. Ein Spiel, wel­ches mit hohen Ein­satz und wech­seln­den Al­li­an­zen ge­spielt wird. Ein Spiel, bei dem sich letzt­lich jeder selbst der nächs­te ist. Die Schlag­wor­te „ter­ri­to­ria­le In­te­gri­tät“, „Völ­ker­recht“ und „staat­li­che Sou­ve­rä­ni­tät“ stel­len dabei (wie immer) nur die ideo­lo­gi­sche Be­gleit­mu­sik dar. Den Takt gibt die Krise vor, die sich ent­ge­gen aller Ver­laut­ba­run­gen po­ten­ziert und die Aus­ein­an­der­set­zung der Herr­schen­den um Macht und Ein­fluss­zo­nen auf die Spit­ze ge­trie­ben hat. Das der­zei­ti­ge Schla­mas­sel ist also nicht ein­fach nur das Werk ein­zel­ner Staa­ten oder fehl­ge­lei­te­ter Po­li­ti­ker, son­dern „ Pro­dukt eines be­stimm­ten Rei­fe­gra­des in der Welt­ent­wick­lung des Ka­pi­tals, eine von Hause aus in­ter­na­tio­na­le Er­schei­nung, ein un­teil­ba­res Gan­zes, das nur in allen sei­nen Wech­sel­be­zie­hun­gen er­kenn­bar ist und dem sich kein ein­zel­ner Staat zu ent­zie­hen ver­mag“ (Rosa Lu­xem­burg) Des­halb wäre es fatal zu mei­nen, „eine rich­ti­ge Seite“ wäh­len, oder auf „ein klei­ne­res Übel“ hof­fen zu kön­nen. Wenn vor­geb­li­che „Linke“ im ukrai­ni­schen Macht­po­ker Seite be­zie­hen, und dies wahl­wei­se mit „ba­sis­de­mo­kra­ti­schen Pro­zes­sen“ auf dem Mai­dan, dem „na­tio­na­len Selbst­be­stim­mungs­recht“, oder der an­geb­lich „an­ti­fa­schis­ti­schen“ Stoß­rich­tung von Pu­tins Po­li­tik be­grün­den, zei­gen sie nur ein­mal mehr, dass sie Teil des Pro­blems sind. Der­ar­ti­ge „tak­ti­sche Po­si­tio­nie­run­gen“ sind fest mit dem In­ter­pre­ta­ti­ons­rah­men der Herr­schen­den ver­wach­sen und tra­gen mit dazu bei, die Ver­hält­nis­se ideo­lo­gisch zu ze­men­tie­ren. Die Ver­tei­di­gung von „Na­ti­on“ und „Va­ter­land“ be­deu­tet immer und über­all die Ver­tei­di­gung des Ka­pi­ta­lis­mus, eines Ge­sell­schafts­sys­tems, wel­ches die Mensch­heit immer wei­ter in Chaos, Krie­ge und Bar­ba­rei treibt. Es gibt kei­nen ir­gend­wie „fort­schritt­li­chen“ oder „ge­sun­den“ Na­tio­na­lis­mus. Der Na­tio­na­lis­mus mag die un­ter­schied­lichs­ten Er­schei­nungs­for­men an­neh­men, er läuft je­doch immer und über­all auf die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den eig­nen Aus­beu­tern und die Un­ter­ord­nung des Pro­le­ta­ri­ats unter die Be­lan­ge von Staat und Ka­pi­tal hin­aus. Der ein­zi­ge Aus­weg aus dem Di­lem­ma be­steht darin, sich von „der Vor­mund­schaft der Bour­geoi­sie, die sich in dem Ein­fluss der na­tio­na­lis­ti­schen Ideo­lo­gie äu­ßert“ (Rosa Lu­xem­burg) frei­zu­ma­chen, auf Na­ti­on und Stand­ort zu pfei­fen, und den Kampf für die ei­ge­nen In­ter­es­sen auf­zu­neh­men. Streik­kämp­fe und so­zia­le Be­we­gun­gen, die sich der Kon­trol­le von Staat und Ge­werk­schaf­ten ent­zie­hen, waren schon immer die ein­zig rea­lis­ti­sche Frie­dens­ar­beit. Dies er­for­dert einen or­ga­ni­sa­to­ri­schen Rah­men, den Auf­bau einer in­ter­na­tio­na­len und in­ter­na­tio­na­lis­ti­schen kom­mu­nis­ti­schen Or­ga­ni­sa­ti­on, die in der Lage ist, eine Per­spek­ti­ve aus der ka­pi­ta­lis­ti­schen To­des­spi­ra­le von Krise und Krieg auf­zu­zei­gen. Das alles wird nicht ein­fach sein. An­ge­sichts der ent­fes­sel­ten De­struk­tiv­kräf­te des Ka­pi­ta­lis­mus gibt es je­doch keine an­de­re Al­ter­na­ti­ve. „Der Wahn­witz wird erst auf­hö­ren und der blu­ti­ge Spuk der Hölle wird ver­schwin­den, wenn die Ar­bei­ter (…) end­lich aus ihrem Rausch er­wa­chen, ein­an­der brü­der­lich die Hand rei­chen und den bes­tia­li­schen Cho­rus der im­pe­ria­lis­ti­schen Kriegs­het­zer wie den hei­se­ren Schrei der ka­pi­ta­lis­ti­schen Hyä­nen durch den mäch­ti­gen Schlacht­ruf der Ar­beit über­don­nern: Pro­le­ta­ri­er aller Län­der, ver­ei­nigt euch!“, schrieb Rosa Lu­xem­burg vor bei­nah hun­dert Jah­ren mit­ten in den Wir­ren des im­pe­ria­lis­ti­schen Welt­kriegs. Worte, die ge­ra­de heute nicht an Ak­tua­li­tät ver­lo­ren haben. (JW, 20.3.2014)

Zum Weiterlesen:

Machtkampf in der Ukraine: Die Sackgasse des Nationalismus

Nationalistische Massaker in der Ukraine: Es gibt keine „richtige“ Seite im imperialistischen Krieg

(1) Siehe dazu state.gov

(2) n-tv.de

(3) timesofisrael.com

(4) jewishpress.com

(5) wsws.org

(6) Be­richt des rus­si­schen Fern­seh­sen­ders Ros­si­ja: youtube.com Siehe auch: worldjewishcongress.org

(7) In­ter­view im Focus vom 21.​Dezember 2013

(8) dip21.bundestag.de

(9) Elmar Brok blickt auf eine stei­le Kar­rie­re zu­rück. 2007 wurde er sogar zum „Pfei­fen­rau­cher des Jah­res“ ge­kürt. Der Eu­ro­pa­po­li­ti­ker ist schon län­ger in der Ukrai­ne en­ga­giert und setz­te sich für die Frei­las­sung Ti­mo­schen­kos ein. Sein En­ga­ge­ment für De­mo­kra­tie und Men­schen­rech­te in Kiew kom­bi­nier­te mit Bor­dell­be­su­chen, um sich dann ab­fäl­lig über ukrai­ni­sche Frau­en zu äu­ßern. Die Grup­pe FEMEN nahm ihm das übel femen.org. Nach An­sicht Broks sei FEMEN le­dig­lich einer Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gne der ukrai­ni­schen Re­gie­rung auf­ge­ses­sen. Mit Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen kennt sich Brok je­den­falls aus. So nutz­te er seine guten Kon­tak­te zum FAZ-​Her­aus­ge­ber Gün­ther Non­nen­ma­cher, um einen Jour­na­lis­ten der kri­tisch über ihn be­rich­te­te mund­tot zu ma­chen. Von der „Zei­tung für Deutsch­land“ wurde das na­tür­lich prompt de­men­tiert.

(10) daserste.ndr.de

(11) faz.net

(12) auswaertigesamt.de

(13) tagesschau.de

(14) Wal­ter Mogk: Paul Rohr­bach und das “Grö­ße­re Deutsch­land”. Ethi­scher Im­pe­ria­lis­mus im Wil­hel­mi­ni­schen Zeit­al­ter, Mün­chen 1972

(15) spiegel.de

(16) washingtonpost.com

(17) huffpost.com

(18) Ber­li­ner Zei­tung, 7.​3.​2014

(19) eurasischesmagazin.de

Saturday, February 12, 2022