Die Entwicklung proletarischen Klassenbewusstseins

2. Teil unserer Artikelreihe zum Thema „Klassenbewusstsein und revolutionäre Organisation

Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, dass in ihrem Entwicklungsgange am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird.

Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei

Am Ende des ersten Textes unserer Artikelreihe haben wir den/die LeserIn mit einem scheinbaren Widerspruch zurückgelassen. Während Marx bspw. in den provisorischen Statuten der Ersten Internationale erklärte, dass „die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muss“, schien er in früheren Schriften wie der „Deutschen Ideologie“ jede Hoffnung auf eine proletarische Emanzipation aufgegeben zu haben, wenn er schrieb:

Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind (1).

Es ist sicher zutreffend, dass in allen Klassengesellschaften die Ideen der herrschenden Klasse bestimmend und beherrschend sind. Dennoch durchläuft die Gesellschaft Veränderungen und zuweilen werden sogar herrschende Klassen gestürzt. Wie kann das geschehen?

Die Entwicklung bürgerlichen Bewusstseins

Zwar sind die Ideen der herrschenden Klasse in der Regel immer die herrschenden Ideen in der Gesellschaft, gleichzeitig ist es jedoch offenkundig, dass ihre Vorherrschaft niemals allumfassend sein kann. Die materielle Realität der Klassengesellschaft mit ihren inhärenten Konflikten und unlösbaren Widersprüchen schafft kontinuierlich die Basis für das Herausbilden von Ideen, die sich gegen die Herrschenden richten, bzw. ihre Herrschaft herausfordern. Es sind jedoch weniger die Klassen als solches, die die vorgegebenen Ideologien infrage stellen und herausfordern, sondern vielmehr der Konflikt und Kampf zwischen ihnen, die in bestimmten historischen Momenten die Ideen der ausgebeuteten wie der ausbeutenden Klasse hervorbringen. Schauen wir uns zunächst unseren gegenwärtigen Klassengegner an. Ihre ersten Gehversuche unter dem Feudalismus begann die Bourgeoisie im Wesentlichen als Bittsteller. Die Monarchen oder jeweiligen Feudalherrn stellten ihr Urkunden aus, die es erlaubten Märkte zu errichten und/oder Waren und Dienstleistungen zu produzieren, die das Feudalsystem nicht hervorbringen konnte. In Gestalt der Gilden akzeptierte das aufstrebende Bürgertum zunächst gewisse Handelsbeschränkungen, und konzentrierte sich vorrangig darauf, seinen Reichtum zu schützen und zu mehren. Als aber dieser Reichtum ein Ausmaß annahm, welches den Landbesitz des Adels bei weitem in den Schatten stellte, ging das Bürgertum dazu über die Aufhebung feudaler Beschränkungen zu fordern. Als die Feudalgesellschaft dem nicht nachkam, entrollte die Bourgeoisie das ideologische Banner der „Freiheit“ und machte sich zum Wortführer des „Dritten Standes“. Doch die bürgerliche „Freiheit“ bedeutete lediglich die Freiheit der Besitzenden, Handel zu treiben und ungehindert menschliche Arbeitskraft auszubeuten. Das Erlangen und die Ausübung der Bürgerrechte waren zunächst an den Besitz geknüpft. Als die Bourgeoisie jedoch schließlich die Schalthebel der Staatsgewalt vollkommen in die Hände bekam, konnte sie zuweilen auch das allgemeine Wahlrecht zugestehen, wohl wissend, dass dies ihre Besitzinteressen nicht wesentlich gefährden würde. Dem Proletariat, welches im Kampf gegen das feudale System einen hohen Blutzoll entrichtet hatte, wurde nun erzählt, dass Gleichheit und Freiheit errungen sei und es keinen Grund gäbe weiterzukämpfen. Während die bürgerliche Revolution für die Bourgeoise das „Ende der Geschichte“ darstellte, stand das Proletariat erst am Anfang seines Kampfes. Bis zum heutigen Tage steht die materielle Realität des Kapitalismus trotz aller Mystifikationen und Verschleierungen der Bourgeoisie in direktem Kontrast zu den bürgerlichen Glücksversprechen. Während uns tagtäglich von den wundervollen bürgerlichen Werten wie Effizienz, Gerechtigkeit und zwischenmenschlicher Harmonie erzählt wird, leidet das Proletariat unter Arbeitslosigkeit, Verelendung, sozialer Ungerechtigkeit und Krieg. Dies schafft die Basis für die Herausbildung von Ideen, die bürgerliche Ideologie herausfordern. An erster Stelle ist hier der Selbsterkenntnisprozess des Proletariats als ausgebeutete Klasse zu nennen, den Marx im Kommunistischen Manifest folgendermaßen skizzierte:

Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie immer mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt. Die wachsende Konkurrenz der Bourgeois unter sich und die daraus hervorgehenden Handelskrisen machen den Lohn der Arbeiter immer schwankender; die immer rascher sich entwickelnde, unaufhörliche Verbesserung der Maschinerie macht ihre ganze Lebensstellung immer unsicherer; immer mehr nehmen die Kollisionen zwischen dem einzelnen Arbeiter und dem einzelnen Bourgeois den Charakter von Kollisionen zweier Klassen an. Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeois zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren. Stellenweise bricht der Kampf in Emeuten aus (2).

Von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“

In diesem Prozess nehmen sich die ArbeiterInnen zunächst nur als soziale Einheit mit einer gemeinsamen sozialen Identität wahr, als „Klasse an sich“ wie es Marx in seiner Schrift „Das Elend der Philosophie“ bezeichnete. Es ist noch kein Stadium in dem sich die Klasse vollkommen politisch bewusst ist, wie für ihre eigene Befreiung gekämpft werden kann. In seiner Schrift „Lohn, Preis, Profit“ führte Marx diesen Punkt genauer aus. Hier argumentierte er, dass die ArbeiterInnenklasse um überhaupt als Klasse existieren zu können, gezwungen sei für ihre Interessen zu kämpfen, da

die ganze Entwicklung der modernen Industrie die Waagschale immer mehr zugunsten des Kapitalisten und gegen den Arbeiter neigen muss und dass es folglich die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktion ist, den durchschnittlichen Lohnstandard nicht zu heben, sondern zu senken oder den Wert der Arbeit mehr oder weniger bis zu seiner Minimalgrenze zu drücken. Da nun die Tendenz der Dinge in diesem System solcher Natur ist, besagt das etwa, dass die Arbeiterklasse auf ihren Widerstand gegen die Gewalttaten des Kapitals verzichten und ihre Versuche aufgeben soll, die gelegentlichen Chancen zur vorübergehenden Besserung ihrer Lage auf die bestmögliche Weise auszunutzen? Täte sie das, sie würde degradiert werden zu einer unterschiedslosen Masse ruinierter armer Teufel, denen keine Erlösung mehr hilft. Ich glaube nachgewiesen zu haben, dass ihre Kämpfe um den Lohnstandard von dem ganzen Lohnsystem unzertrennliche Begleiterscheinungen sind, dass in 99 Fällen von 100 ihre Anstrengungen, den Arbeitslohn zu heben, bloß Anstrengungen zur Behauptung des gegebnen Werts der Arbeit sind und dass die Notwendigkeit, mit dem Kapitalisten um ihren Preis zu markten, der Bedingung inhärent ist, sich selbst als Ware feilbieten zu müssen. Würden sie in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen (3).

Marx und Engels sahen den ökonomischen Kampf der ArbeiterInnenklasse als lebensnotwendig an. Gleichzeitig stellten sie jedoch immer wieder die offenkundigen Grenzen des rein ökonomischen Interessenskampfes heraus und erklärten immer wieder, dass die ArbeiterInnenklasse nur mit einer sozialistischen Perspektive für ihre Befreiung kämpfen könne:

Gleichzeitig, und ganz unabhängig von der allgemeinen Fron, die das Lohnsystem einschließt, sollte die Arbeiterklasse die endgültige Wirksamkeit dieser tagtäglichen Kämpfe nicht überschätzen. Sie sollte nicht vergessen, dass sie gegen Wirkungen kämpft, nicht aber gegen die Ursachen dieser Wirkungen; dass sie zwar die Abwärtsbewegung verlangsamt, nicht aber ihre Richtung ändert; dass sie Palliativmittel anwendet, die das Übel nicht kurieren. Sie sollte daher nicht ausschließlich in diesem unvermeidlichen Kleinkrieg aufgehen, der aus den nie enden wollenden Gewalttaten des Kapitals oder aus den Marktschwankungen unaufhörlich hervorgeht. Sie sollte begreifen, dass das gegenwärtige System bei all dem Elend, das es über sie verhängt, zugleich schwanger geht mit den materiellen Bedingungen und den gesellschaftlichen Formen, die für eine ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft notwendig sind. Statt des konservativen Mottos: „Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!“, sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: „Nieder mit dem Lohnsystem!“ (4).

Mit anderen Worten: Die ArbeiterInnenklasse müsse von einer „Klasse an sich“ zu einer „Klasse für sich“ werden, einer Klasse also, die sich nicht nur als eine soziale Kategorie begreift und dem Kapital Widerstand leistet, sondern sich der politischen Notwendigkeit bewusst wird den Kapitalismus zu überwinden. An dieser Stelle sollten wir kurz innehalten, um unsere eigenen Begriffskategorien genauer zu bestimmen. Der Begriff „Klassenbewusstsein“ kann sich natürlich auf eine ganze Bandbreite unterschiedlichster Haltungen und Ideen beziehen. Im realen Leben können diese nicht einfach in einen gradlinigen Stufenplan kategorisiert werden, den die ArbeiterInnenklasse linear durchläuft. Die Wirklichkeit ist offenkundig immer komplexer als alle Theorien und wissenschaftlichen Erklärungsansätze. Gleichwohl gibt es einen gewaltigen Unterschied zwischen einem Streik gegen Lohnkürzungen und einer Massenbewegung, die sich den Sturz der Herrschenden auf die Fahnen geschrieben hat. Beiden liegen ganz unterschiedliche Zielrichtungen zugrunde. In diesem Abschnitt haben wir den ökonomischen Tageskampf als Ausdruck des Klasseninstinkts definiert. Die Einsicht in die Notwendigkeit den Kapitalismus zu überwinden, um so den Weg der Emanzipation des Proletariats beschreiten zu können, haben wir als jedoch als Klassenbewusstsein im weitesten Sinne gefasst, also als kommunistisches Bewusstsein. Wir haben gleichzeitig klar gestellt, dass die Entwicklung dieses Grades an Bewusstsein sich weder automatisch noch unmittelbar vollzieht. Wenn dieses der Fall wäre, würde sich die Frage stellen, warum die Revolution nicht schon vor Jahren stattgefunden hat. Und natürlich zaubern die akademischen Verteidiger und Apologeten der kapitalistischen Ordnung gerne diese Frage aus dem Hut, wenn sie gegen die Ideen des Klassenkampfes, der historischen Rolle der ArbeiterInnenklasse, des historischen Materialismus usw. zu Felde ziehen. Aber auch das Klassenbewusstsein der Bourgeoise entwickelte sich nicht automatisch und schon gar nicht über Nacht. Sie begann zunächst damit die besondere Form ihres Besitzes gegen die feudalen Beschränkungen zu verteidigen. Als schließlich der Adel (wie bspw. in England) dazu überging den reichen Kaufleuten einen ähnlichen sozialen Status zuzubilligen und zuweilen auch in reiche Familien des Bürgertums einheiratete, ging die Bourgeoisie dazu über in einem langen, nicht gerade unblutigen Prozess (man denke an den britischen Bürgerkrieg oder die Hinrichtung von Karl I.) den Staat zu übernehmen. Wann und wo auch immer der Adel versuchte die Bourgeoisie zurückzudrängen oder zu beschränken, nahm diese die Werte der Aufklärung für sich in Anspruch. Die Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ eignete sich ausgezeichnet, um die Gesellschaft gegen die alte Ordnung zu mobilisieren. Als jedoch der Sieg errungen war, mussten das Proletariat und andere unterdrückte Klassen feststellen, dass diese Losungen wenig Aussagekraft hatten. „Gleichheit“ bedeutete in erster Linie Gleichheit vor dem Gesetz, was zur Folge hatte, dass jene, die es sich leisten konnten, mehr Rechte und Gerechtigkeit zugesprochen bekamen, als jene die dazu nicht in der Lage waren. Die Beschränkungen der bürgerlichen „Freiheit“ hatten in gewisser Hinsicht auch eine politische Bewusstwerdung des Proletariats zur Folge. Doch die Bourgeoisie gelangte nicht zur politischen uns sozialen Herrschaft, weil sie einfach ihrem Klasseninstinkt folgte. Sie musste auch eine eigene politische Programmatik, ein eigenes Weltbild entwickeln. In diesem Kontext entwickelte sich insbesondere der politische Liberalismus zur wichtigsten bürgerlichen Ideologie, die gewissermaßen das Klassenbewusstsein der Bourgeoisie am besten artikulierte. Für das Proletariat stellt sich die Sache anders und auch viel komplizierter dar. Als ausgebeutete Klasse hat es keine besondere Eigentumsform zu verteidigen. Es ist vielmehr die Negation des Privateigentums. Deshalb ist die ArbeiterInnenklasse nicht nur die einzige Klasse, die die Kapazität hat die gesamte Menschheit zu befreien, sie entwickelt auch ihr eigenes Klassenbewusstsein auf vollkommen andere Art und Weise heraus. Sie kann nicht auf der Grundlage der alten Gesellschaft zur Macht gelangen, indem sie zuerst ökonomische Herrschaftsverhältnisse herausbildet und dann um die politische Macht kämpft, wie es die Bourgeoisie getan hat:

Alle früheren Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, suchten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbs unterwarfen. Die Proletarier können sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte nur erobern, indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise und damit die ganze bisherige Aneignungsweise abschaffen. (…) Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. Das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne dass der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird (5).

Daher muss die ArbeiterInnenklasse zuerst einen Kampf um die politische Macht führen:

… der erste Schritt in der Arbeiterrevolution (ist)die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie (…). Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren (6).

Das Klassenbewusstsein des Proletariats muss also unmittelbar politische Dimension annehmen. Diese kann sich jedoch nur aus den praktischen Erfahrungen der proletarischen Bewegung entwickeln:

Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eigenen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet (7).

Partei und Klassenbewusstsein

Angesichts der kapitalistischen Herrschaft nimmt der Klassenkampf in der Regel die Form eines Kleinkrieges gegen diverse Auswüchse des Kapitalismus an. Folglich entwickelt nur eine politische Minderheit Klassenbewusstsein (d.h. das Verständnis der Notwendigkeit den Kapitalismus zu überwinden). Diese ist zudem auch noch in den verschiedensten Klassensegmenten verstreut. (Wir können hier nicht auf die nach der Russischen Revolution geführten Debatten eingehen, wer nun zu dieser Minderheit genau gehört.) Marx charakterisierte diese politische Minderheit folgendermaßen:

Wie die Ökonomen die wissenschaftlichen Vertreter der Bourgeoisklasse sind, so sind die Sozialisten und Kommunisten die Theoretiker der Klasse des Proletariats.

Diese Theoretiker seien zunächst nur

Utopisten, die, um den Bedürfnissen der unterdrückten Klassen abzuhelfen, Systeme ausdenken und nach einer regenerierenden Wissenschaft suchen. Aber in dem Maße, wie die Geschichte voranschreitet und mit ihr der Kampf des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben sie nicht mehr nötig, die Wissenschaft in ihrem Kopfe zu suchen; sie haben sich Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen. Solange sie die Wissenschaft suchen und nur Systeme machen, solange sie im Beginn des Kampfes sind, sehen sie im Elend nur das Elend, ohne die revolutionäre, umstürzende Seite darin zu erblicken, welche die alte Gesellschaft über den Haufen werden wird. Von diesem Augenblick an wird die Wissenschaft bewusstes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden (8).

Anders formuliert: Nur in Zeiten sich zuspitzender Krisen und verschärfender Kämpfe der ArbeiterInnenklasse können sozialistische oder kommunistische Ideen weitergehende Akzeptanz finden. Eine signifikante Minderheit wird nur in einer Reihe von Kämpfen und partiellen Rückschlägen, in denen sich die Probleme des Klassenkampfes schärfer stellen, kommunistisches Bewusstsein erlangen. Eine Veränderung des Bewusstseins führt nur über den praktischen Klassenkampf und die Reflexion bzw. Verständnis desselben:

Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden (9).

Nur in einer „wirklichen Bewegung“, bzw. Revolution kann die Ideologie der herrschenden Klasse herausgefordert und aufgebrochen werden. Marx hob hervor, dass Menschen, die in einer sozialen und politischen Bewegung aktiv tätig werden, anfangen die Welt mit ganz anderen Augen zu sehen. In seiner Schrift „Die deutsche Ideologie“ schrieb er

… dass sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; dass also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu eine neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden (10).

Vor der Herausbildung einer solchen „praktischen Bewegung“ wird nur eine Minderheit der Klasse kommunistisches Bewusstsein entwickeln. Im Prozess der Revolution selber wird jedoch dieses Bewusstsein notwendigerweise weitere Teile der Klasse erfassen. Notwendig deshalb, weil eine kommunistische Gesellschaft nicht von einer Minderheit errichtet werden kann. Als vollkommen neue Produktionsweise kann der Kommunismus nur der Ausdruck der Selbstaktivität der großen Mehrheit der Klasse sein. Gerade dieser Aspekt unterscheidet den Kommunismus von allen vorangegangenen Produktionsweisen. Doch das alles erklärt noch nicht die eigentliche Frage, wie die in der Klasse verstreuten revolutionären Minderheiten mit ihren jeweiligen Erfahrungswerten zusammenkommen können. Marx betonte nicht von ungefähr die Notwendigkeit eines organisatorischen Rahmens bzw. die „Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei(11). Wie sollten sich sonst jene, die sich bereits ein Verständnis des proletarischen Klassenkampfes und der kommunistischen Perspektive erarbeitet haben, organisieren, um andere ArbeiterInnen für ihre Ideen zu gewinnen. Marx scherte sich in diesem Zusammenhang im Übrigen wenig um die soziale Herkunft der KommunistInnen_:_

Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoise überging, so geht jetzt ein Teil der Bourgeoise zum Proletariat über, und namentlich ein Teil der Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung hinaufgearbeitet haben (12).

Marx schrieb natürlich vor den negativen Erfahrungen der Russischen Revolution und der Bolschewiki, die die Idee einer proletarischen Partei weitgehend diskreditierte. Insbesondere die späteren RätekommunistInnen stützten sich in ihren Auseinandersetzungen mit den „Avantgardisten“ immer wieder auf das bekannte Marxzitat, nach dem „die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muss“. Letzten Endes führte sie das dazu jeden Ansatz einer proletarischen politischen Organisation zu verwerfen. Wir werden in weiteren Folgen dieser Artikelreihe noch eingehend auf diese Debatten eingehen. Vorerst soll an dieser Stelle nur der besondere historische Zusammenhang hinweisen. Das bekannte Zitat stammt wie eingangs ausgeführt, aus den von Marx verfassten Statuten der Ersten Internationale, dem ersten Versuch eine internationale ArbeiterInnenpartei zu bilden. Marx argumentierte in erster Linie für die Bildung einer politischen Partei des Proletariats, die nicht unter dem Einfluss dieser oder jener bürgerlichen Fraktion stehen dürfe. So polemisierte er unter anderem gegen Teile der britischen Gewerkschaftsbewegung, die sich noch immer im Schlepptau der Liberalen befanden. Die Aufgabe einer solchen Partei sah er darin, sich auf die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse zu beziehen und die Erfahrungen dieser Kämpfe in einem emanzipatorischen politischen Programm zu verallgemeinern. Er argumentierte immer wieder, dass Ideen zur materiellen Gewalt werden können, wenn sie sich mit den unmittelbaren Kämpfen der Klasse verbinden. Aus diesem Grunde unternahmen Marx und Engels immer wieder Versuche Organisationen zu bilden, die eine sozialistische Perspektive verfolgten: Vom Bund der Kommunisten im Jahre 1848 zur Ersten Internationale 1864 bis hin zur deutschen Sozialdemokratischen Partei 1875. Dass sie sich an all diesen Organisationsversuchen beteiligten, und sie später allesamt wieder für unzureichend und unbefriedigend hielten, war weniger ihrem Wankelmut als dem unausgereiften Charakter der Klassenbewegung im 19. Jahrhundert geschuldet. Die Ausarbeitung eines politischen Bezugrahmens zum Verständnis der Gesellschaft und der Veränderung der Ideen war eine Sache. Die „wirkliche Bewegung“ musste sich jedoch im Schmelztiegel der konkreten Erfahrungen der ArbeiterInnenklasse herausbilden. Mit den Problemen der ersten proletarischen Organisierungsversuche werden wir uns im dritten Teil unserer Artikelreihe auseinandersetzen.

Zum Weiterlesen: Idealismus und bürgerlicher Materialismus (1. Teil unserer Artikelreihe zum Thema Klassenbewusstsein und revolutionäre Organisation)

(1) Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, MEW, 3,Seite 46 ff.

(2) Karl Marx/ Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Berlin 1986, Seite 27.

(3) Karl Marx: Lohn, Preis, Profit, Ausgewählte Bd. 3, Berlin1989, Seite 127.

(4) Ebenda Seite 128.

(5) Marx/Engels: Kommunistisches Manifest, Seite 31.

(6) Ebenda Seite 49.

(7) Karl Marx: Die heilige Familie, MEW 2, Seite 38.

(8) Karl Marx: Das Elend der Philosophie, Berlin 1973, Seite 127.

(9) Karl Marx: Thesen über Feuerbach, Ausgewählte Werke Bd.1, Berlin 1989, Seite 199.

(10) MEW 3, Seite 70.

(11) Marx/Engels: Kommunistisches Manifest, Seite 28.

(12) Ebenda Seite 29.